Aus dem Musikexpress vom November 2001: Radiohead live in Berlin, 11. September 2001


Aus unserem digitalen Archiv: eine Rezension des Radiohead-Konzerts in Berlin vom 11. September 2001 – dem Tag der Terroranschläge in den USA.

Ein Konzert am Tag des Terrors in den USA – eigentlich kaum denkbar. Doch die fünf Engländer wagen es.

Alle hatten den 11. September, den Tag des einzigen Deutschland-Konzerts von Radiohead, herbeigesehnt. Doch dann ersticken die verheerenden Terroranschläge in New York und Washington jedwede Vorfreude im Keim. Es herrschen Trauer und blankes Entsetzen. Mühsam nur stampft man zum Ort der Abendveranstaltung. Doch was soll die Band tun? Eine Absage kommt angesichts der Mühen, die sich viele Fans bei der Anreise gemacht haben, nicht in Frage. Dafür stellt Sänger Thom Yorke die Oberspielregel für den Abend auf: Nichts, aber auch gar nichts gäbe es zu sagen. Gegen Trauer und Wut helfe nur der reine Rockrausch.

Tatsächlich wirkt das Quintett aus Oxford ziemlich aufgedreht, spielt eher Krachiges als Sensibles. Um das aktuelle Album „Amnesiac“ zu inszenieren, war vorher eine gemäßigte Stadionshow ausgetüftelt worden. Radiohead wollen sich nicht auf Pomp betten, Effekte bleiben aus. Mitsingrefrains sucht man während der neunzig Minuten vergebens, sieht man einmal von alten Favoriten wie „Karma Police“ ab. Grundsätzlich zeigt sich bei diesem Konzert wieder einmal, dass es bei Radiohead inzwischen mehr um Sounds denn um Songs geht. Jedes Stück klingt anders, weil die Musiker zu immer neuen Klangerzeugern greifen. Kleine Rasseln sind dabei, ein Xylofon, klobige Analogsynthesizer, ein Kontrabass, Pianos und Keyboards. Dementsprechend wenig hat das Dargebotene mit Rockmusik im konventionellen Sinn zu tun. Sicher lassen es die Gitarristen Ed O‘ Brien und Jonny Greenwood manchmal kräftig lärmen.

Doch man spürt auch, wie ernst Radiohead den Umgang mit Beats und Bytes nehmen. „Idioteque“ etwa wird von einem gebrochenen elektronischen Rhythmus angepeitscht, den keine andere Rockband so fantasievoll zu integrieren versteht. Und Yorke? Er singt sich bei den Flirts mit dem Futurismus kräftig in Ekstase. Das zeigt: Wo andere Gruppen in Arenen ihren Ehrgeiz verlieren, fordern Radiohead das Publikum ständig weiter heraus. Auch bei den Zugaben. Anstatt ihre bekanntesten Stücke geballt zu präsentieren, bevorzugen die Unistädtler melancholische Pianoballaden, abgerundet durch das leicht hymnische „Lucky“.

Eine richtige Wahl, denn so gehen die Fans an diesem todtraurigen Abend doch noch mit einem Gefühl des Trostes nach Hause.

Ein Audiomitschnitt einer Ansage Thom Yorkes zum 11. September:

 

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