Interview

Bela B und Richard Weize im Die-Ärzte-Interview: „Je bekloppter ein Sammler ist, desto besser ist er“


Dass die Monsterbox SEITENHIRSCH von Die Ärzte auf dem Label des legendären Bear-Family-Records-Gründers Richard Weize erscheint, dürfte Kenner erstaunen. Doch Farin Urlaub und Bela B sind schon seit vielen Jahren Bewunderer des niedersächsischen Goldgräbers. Im Gespräch stoßen die Herren Weize und B über ihre Sammelleidenschaft, Ted Herold und das alte Westberlin zum Kern dessen vor, was Die Ärzte von Anfang an ausmachte: innige Liebe zum Rock’n’Roll.

Wie kam es zu der Zusammenarbeit mit Richard?

Bela: Schon sehr früh in unserer Karriere, lange, bevor wir Richard kennenlernen durften, meinte Jan einmal, wenn wir irgendwann ganz alt sind und sich die Welt noch an uns erinnert, dann wäre es doch schön, wenn es bei Bear Family eine Box von Die Ärzte geben würde.
Richard: Wobei wir eigentlich nur Sachen von Leuten machen, die weg vom Fenster sind.
Bela: Das waren wir von 1988 bis 1993 ja auch. Aber damals war uns die Idee irgendwie aus dem Fokus gerutscht.

Wann änderte sich das?

Richard: Als Bela 2006 für uns das Hörbuch zur zweiteiligen Elvis-Biografie eingesprochen hatte.
Bela: Puh, ja, zwei dicke Wälzer, im Original 900 Seiten lang, für dieses Projekt gekürzt, auf rund 800 Seiten – geschenkt! Ich weiß noch, wie Richards Anfrage lautete: „Hör zu, wir von der Bear Family haben nicht viel Geld, das Honorar ist daher knapp, aber du kannst alle Boxen von uns haben, die du willst.“ Das Argument zog dann natürlich.
Richard: Wie, wir haben dir dafür Geld gezahlt?
Bela: Wie auch immer, vor ein paar Jahren entstand dann die Idee für eine Die-Ärzte-Box und wir erinnerten uns an die Bear Family. Es folgten sehr viele Gespräche, und nach zwei Jahren konzentrierter Arbeit ist das Ding jetzt fertig.

Wie lief die Arbeit ab? Wie produziert man so ein Gesamtwerk?

Richard: Gut, das ist ein Schweinejob. Es ist ja nicht so, dass man die Musik auf den Tisch bekommt, ich mich da durchhöre und einfach nur die besten Sachen aussuche. Die meiste Arbeit geht dabei drauf, nicht beschriftete Bänder zu sichten, die Rechte zu klären, das Mastering zu prüfen – so ein Kram halt. Wobei es in dieser Hinsicht deutlich schlimmere Projekte gab als den SEITENHIRSCH. Es gab Boxen, die mich wirklich in den Wahnsinn getrieben haben, zum Beispiel, weil ich die Rechte für Aufnahmen klären musste, über deren Herkunft niemand mehr Bescheid wusste. Mal musste ich alte handgeschriebene Studiobücher durchforsten, um Informationen zu bekommen, mal hatte ich es mit Pseudonymen zu tun, bei denen keiner mehr wusste, welche echte Person dahintersteckt. Oder besser noch: ob überhaupt eine Person dahintersteckt.
Bela: Das war bei uns natürlich einfacher, selbst unsere Frühphase findet man ja nicht nur auf alten Schellackplatten, sondern auf brauchbaren Vorlagen. Wobei die Recherche nach den Demos schon nicht ohne war. Es gibt auf der einen Seite noch viele Aufnahmen, an die wir uns dunkel erinnern können, die wir aber nicht mehr ausfindig machen konnten. Andererseits gibt es eine alternative Aufnahme von unserem unrühmlichen „Eva Braun“-Song, bei der Jan und ich keinen blassen Schimmer haben, wann und vor allem warum diese entstanden ist.
Richard: Beim Mastering der Kassetten-Aufnahmen hat Christian Zwarg in Berlin gute Arbeit investiert, er geht an seinen Job mit sehr viel Akribie heran, weil er ihn nicht für die Band oder für mich erledigt, sondern für sich selbst: Er will das Beste aus diesen Tape-Aufnahmen herausholen, das ist sein besonderer Ehrgeiz.

722 Stücke bietet die Box. Bei welchen gab es die heißesten Diskussionen?

Bela: Doof natürlich, dass es „Geschwisterliebe“ nur instrumental gibt. Aber so ist es nun mal, das Stück bleibt auf dem Index. Ein ständiges Für und Wider gab es bei der Frage, ob das englischsprachige Album mit drauf soll oder nicht. Jan meinte, es gibt gute Gründe, warum wir diese Platte nie veröffentlicht haben, mein Gegenargument war, diese Argumente gab es bei den Songs, von denen es nur Demos gibt, ja auch – und trotzdem sind sie Teil der Box. Am Ende haben wir uns auch für diese Stücke entschieden.
Richard: Man muss natürlich auch sagen, dass so ein Gesamtwerk mit 33 CDs – das sind ja mehr, als heute in manch einem Plattenladen stehen – wirklich was für Sammler ist, da geht es eher ums Haben als ums Hören. Ich erinnere mich daran, dass wir erfolgreiche LP-Boxen gemacht haben, mit zehn Platten und mehr, und wir nach der Auslieferung feststellten, dass die neunte Platte der Box falsch gepresst worden ist. Die ersten Beschwerden darüber erhielten wir dann drei Jahre später. Bis dahin hatte niemand so weit gehört.
Bela: Weshalb wir die gesamten bislang unveröffentlichten Outtakes eben auch noch gebündelt als kleinere Box herausbringen. Wer nur diese Sachen hören will, muss sich nicht das Gesamtwerk kaufen.

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Würdet ihr euch selbst als Sammler bezeichnen?

Richard: Klar! Ich habe als Kind auch andere Sachen gesammelt, Briefmarken zum Beispiel, jedoch nur kurz und ohne Erfolg. Den hatte ich nur beim Sammeln von Musik.

„Bei uns allen gibt es den Wunsch, live was Neues zu spielen und nicht nur die Werkschau zum Besten zu geben.“ – Bela B

Wie hoch sind eure jeweiligen Besitzstände?

Richard: Eine vorsichtige Schätzung: 30.000 LPs, 100.000 Singles, 10.000 Schellack.
Bela: Ich bin eher jemand, der nichts wegschmeißt. Ich war Sammler, bevor es den Ausdruck Messie gab.
Richard: Je bekloppter ein Sammler ist, desto besser ist er. Wer normal tickt, hört irgendwann auf. Nur die besonders Bekloppten machen immer weiter. Und werden immer besser.
Bela: Ein gutes Beispiel war Forrest J. Ackerman, ein wahnsinnig großer Science-Fiction- und Horror-Fan und Sammler aller möglichen Stücke aus diesen Bereichen. Das ging bei ihm so weit, dass er sein Haus zu einem Museum machte, der Höhepunkt seiner Science-Fiction-Leidenschaft war, dass er sich selbst als Statist in Filme einkaufte. Und Claude Nobs, Gründer des Montreux-Jazz-Festivals, besaß nicht nur Hunderttausende CDs, sondern auch ein eigenes Kino, in das er ausgewählte Gäste einlud und ihnen rare Konzertmitschnitte zeigte, die er auf DVD oder Video besaß. Ich finde, dieses Teilen von kulturellem Wissen und Besitz ist ein wunderschöner Aspekt des Sammelns. Klar, man sammelt zunächst einmal immer aus egoistischem Interesse – aber im besten Fall hockt man nicht einfach nur drauf, sondern kuratiert es. Und ich glaube, dass sich die Kids heute, die digital aufwachsen und im Prinzip nur noch Daten sammeln, im Grunde nach so einer haptischen Sammlung sehnen. Und dass sie früher oder später etwas finden, das ihre Sehnsucht stillt.

Hat jeder Sammler früher oder später das Bedürfnis, sich vom Besitz freizumachen?

Richard: Bei mir ist es dafür viel zu spät.
Bela: Es kommt schon immer mal ein Punkt, an dem es zu viel ist. Ich habe zum Beispiel allerhand Songs geschrieben, in denen sich meine Passion für Horror zeigt, aber irgendwann war es einfach genug, ich habe dann „Licht am Ende des Sarges“ geschrieben, das Lied über den lustigen Vampir, damit war dieses Thema beendet. Gibt ja noch andere Monster. Aber Sachen weggeben? Ich schon mal gar nicht. Aber auch Jan, der sich vieler Besitztümer entledigt hat, behält zumindest die meisten seiner Bücher und Platten.

Sechs Jahre war es ruhig um Die Ärzte, jetzt geht’s Schlag auf Schlag: Das wiederveröffentlichte Gesamtwerk und die Outtakes-Box, die „Miles & More“-Europa-Tour mit Konzerten in Städten wie Warschau, London und Mailand sowie die Festivalshows im kommenden Jahr. Zudem gibt’s euren Katalog nun auch bei den Streamingdiensten. Zufall oder große Comeback-Kampagne?

Bela: Tatsächlich eher Zufall. Wenn man als Gruppe sechs Jahre Pause macht und eine gewisse Bandmüdigkeit nicht zu leugnen ist, dann dreht sich die Welt ja dennoch weiter. Als wir vor zweieinhalb Jahren wieder zusammenkamen, hatten sich diese ganzen Themen angesammelt, und die Zeit, als man uns davor abgeschirmt hatte, war vorbei.

Es macht doch sicher viel Spaß, nach der Arbeit am eigenen Gesamtwerk an neuen Songs zu arbeiten, oder?

Bela: Wissen wir nicht, denn noch ist es nicht so weit.

Aber bald?

Bela: Ja, wir werden uns noch in diesem Jahr zusammensetzen und uns schon mal über eine Setlist Gedanken machen. Bei uns allen gibt es natürlich auch den Wunsch, was Neues zu spielen und nicht nur eine Werkschau zum Besten zu geben, das ist schließlich kein Comeback, sondern die Rückkehr nach einer zugegeben langen Pause. Wir haben alle drei massiv Bock, das wird man dann an der Setlist und der Show schon merken.

Wo wird der fertige SEITENHIRSCH bei euch zu Hause stehen?

Bela: Ich habe ein Regal mit relativ raren Die-Ärzte-Sachen, da wird die Box ihren Platz finden. Wobei ich die Platten in diesem Regal immer mal wieder verschenke. Vor Kurzem habe ich einen Kollegen aus Österreich getroffen, der meinte, er habe Die Ärzte komplett auf Vinyl, es fehle ihm nur noch die RUNTER MIT DEN SPENDIERHOSEN, UNSICHTBARER!, aber die koste auf Discogs mehr als 300 Euro. Ich konnte das gar nicht glauben, stimmt aber, und weil ich noch ein paar in diesem Regal hatte, habe ich ihm eine geschickt. Jetzt habe ich einen Freund fürs Leben mehr.
Richard: Im Moment steht in meiner Vitrine noch die Bear-Family-Box BLACK EUROPE mit schwarzer Musik aus Europa vor 1927. Die hat über 40 CDs und ist noch teurer, das Ding übertrifft den SEITENHIRSCH.
Bela: Wobei ich dein Haus wie ein Museum empfinde, da erhoffe ich mir für unser Gesamtwerk schon einen schönen Platz.
Richard: Ich werde sehen, was sich machen lässt. Was euch einen Standortvorteil verschaffen könnte: Endlich die Liner Notes für die Lee-Hazlewood-Box bekommen, die du mir noch schuldest!

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