BELA: DAS AUGE ROCKT MIT!‘, SAG ICH IMMER


Unser Versuchsaufbau ist schnell beschrieben: Wir haben das erste von zwei „Ärztivals“ auf dem Ex-Flughafen Tempelhof in Berlin eingekreist. Die ME-Redakteure Stephan Rehm und Oliver Götz behielten von den beiden hinteren Flanken aus die Übersicht. Die DÄ-Mitglieder Rod González, Bela B und Farin Urlaub überwachten das Treiben von der Bühne aus. Dazwischen: rund 40 000 Menschen. Danach hagelte es Fragen und Erkenntnisse …

OLIVER GÖTZ: Ich hatte mir ja zu Beginn gleich eine kleine Feldstudie zur Aufgabe gestellt: Von allen Nicht-Ärzte-Band-T-Shirts, die mir ins Auge fallen, notierte ich die Bandnamen. Und zwar so lange, bis mir das erste Shirt der Toten Hosen ins Gesicht springen würde, die ja am Vortag auf dem Gelände gespielt haben. Auf meinem Block stehen nun: Dinosaur Jr., Toy Dolls, Ska-P … und dann schon die Hosen. Wie sah es denn da in den ersten Reihen aus? Da sieht man vermutlich nur Die-Ärzte-Logos, oder?

FARIN URLAUB: Ehrlich gesagt stehen die Leute so eng da vorne … Ich achte ohnehin eher auf Gesichter.

ROD GONZÁLEZ: Man sieht natürlich viele DÄ-Shirts, aber auch immer wieder Metal-Shirts, zum Beispiel von Slayer.

BELA B.: Also, ich achte schon auf Shirts. Ist ja auch interessant, wo Leute Schnittmengen mit uns sehen. Bisweilen will der Fan uns ja auch etwas mit der Wahl seines Shirts mitteilen. Ganz alte DÄ-Shirts sagen: „Ich bin schon ewig dabei“, Antifa-oder St.-Pauli-Shirts sagen etwas über die politisch korrekte Gesinnung aus. Mit einem Fan habe ich, ohne je mit ihm gesprochen zu haben, einen Battle am Laufen. Er trägt immer ein anderes Bandshirt und ich signalisiere ihm dann, ob ich die Band darauf kenne, oder nicht. Ein anderer kommt jedes Mal im kompletten HSV-Outfit, um mich zu ärgern.

OLIVER: Warum tragt ihr eigentlich selbst keine Bandshirts mehr?

FARIN: Vor etwa 15 Jahren habe ich beschlossen, mir keine Gedanken mehr über Styling, Bühnengarderobe oder Ähnliches zu machen. Ich hab mir zehnmal das gleiche T-Shirt gekauft, und ziehe die seitdem abwechselnd zur immer gleichen Hose an – fertig!

BELA: Ich bin ja mit Kiss und Glamrock groß geworden und denke, so ein bisschen Verkleiden gehört dazu. Seit unserem Comeback 1993 denke ich mir deshalb immer neue Bühnenoutfits aus. „Das Auge rockt mit!“, sag ich immer.

OLIVER: Wie ist das, wenn man da auf der Bühne steht, vor einem Köpfe und Arme bis zum Horizont. Verliert man da nicht irgendwie den Halt?

FARIN: Im Gegensatz zu den beliebten Berliner Amphitheatern Waldheide und Wuhlbühne fand ich das flache Tempelhofer Feld tatsächlich etwas anstrengend. Augenkontakt ist ohnehin nur bis zum ersten Wellenbrecher möglich. Da muss man dann abstrahieren und von Zeit zu Zeit per La Ola die Mitmachbereitschaft der Leute weiter hinten testen …

BELA: Wir versuchen immer alle einzubinden und das gelingt uns auch weitgehend, obwohl das in Tempelhof schon schwierig war.

STEPHAN REHM: Sagt mal, existierte die so reizvolle Idee eines Punkrock-Gipfeltreffens auf großer Berliner Bühne tatsächlich nur in den Köpfen der Fans? Die Hosen standen nicht nur am Vortag auf derselben Bühne, sie haben wohl auch am Samstag bei euch zugeschaut. Und dann waren an diesem Abend auch Die Goldenen Zitronen in der Stadt. Ihr hättet Punkrock-Geschichte schreiben können: Hosen, Ärzte, Zitronen spielen gemeinsam „Für immer Punk“! Aber trotz unzähliger Hosen-Anspielungen von euch in Ansagen und Songs: nicht ein Gastauftritt.

ROD: Es stimmt, wir haben im ganzen Trubel nicht daran gedacht. Wir hatten aber ja bei unseren Konzerten in Dresden und Stuttgart schon Vom Richie als Gast am Schlagzeug, in Düsseldorf Kuddel an der Gitarre, und ich war bei den Hosen in der Berliner Max-Schmeling-Halle mit auf der Bühne. Wir haben das nur eben nicht so groß ausgeschlachtet.

BELA: Ich hatte mich tatsächlich mit Schorsch Kamerun ein paar Tage vorher getroffen und festgestellt, dass wir da gemeinsam in der Stadt sind. Aber auf so was wie einen gemeinsamen Song sind wir gar nicht gekommen. Dazu sind die Zitronen auch zu weit von ihren großen Brüdern abgerückt, denk ich. Die Hosen und wir wiederum sind inzwischen auch ein Stück weit perfektionistischer geworden. Ohne wenigstens einen gemeinsamen Soundcheck würden wir das nicht durchziehen. Und Campino kam auch erst, als wir gerade auf die Bühne gingen.

OLIVER: Ich weiß ja auch nicht, ob es das gewesen wäre: Mit der alten Punkrock-Klasse von 1986 irgendeinen der alten Klassiker oder was von The Clash übers Flugfeld jagen, alle liegen sich in den Armen, auch die, die bisher glaubten, Schorsch Kamerun sei ein niederbayerischer Kabarettist … Das mag ja aus einer spontanen Bierlaune heraus noch gehen …

FARIN: Aber das hatten wir doch bereits, im intimen Rahmen, vor 13 Jahren: Wir vor den Hosen im Tor 3 in Düsseldorf und die Hosen vor uns im SO 36. Im Tor 3 haben wir sogar „Konrad“, unser altes ZK-Lieblingslied, gemeinsam gespielt. Leider hatte ich einen völligen Aussetzer und den Rockabilly in C-Dur begonnen. Kuddel fragte hinterher ganz freundlich, was ich mir denn dabei gedacht hätte …? Äh, nix.

STEPHAN: Eure Setlist kümmerte sich auch nur wenig um die guten alten Zeiten. 14 Songs von den letzten beiden Alben, die kompletten Achtziger wurden hingegen mit gerade einmal fünf Nummern abgespeist …

FARIN: Wir stellen die Setlists ja nicht nach Dekaden zusammen, sondern nach Lust. Und manche Lieder wie „Rettet die Wale“ oder „Micha“ machen nach all den Jahren eben nur noch einem von uns Spaß … Mir!

BELA: Und wir sind auch keine Oldie-Band, die mit ihren Greatest Hits auf Tour geht, sondern freuen uns über jede Weiterentwicklung, die ein neues Album mit sich bringt und spielen diese Songs sehr gerne. 2012 haben wir eine Tour lang ein Set mit sehr vielen Exoten und deutlich weniger Hits versehen. Die meisten hat es gefreut. Wenn wir uns wohlfühlen, hat der Zuschauer deutlich mehr davon, als wenn da übel gelaunte Dienstleister ihre Arbeit verrichten.

OLIVER: Das Konzert beschlossen habt ihr dann ja mit zwei waschechten Klassikern: der ausschließlich auf einer Tour-CD erschienenen ironischen Die-Ärzte-Hass-Nummer „Bravopunks“ sowie dem absurden Black-Metal-Gewitter „Dauerwelle vs. Minipli“? Mal im Ernst: Lassen sich solche Inside-Jokes 40 000 Leuten gleichzeitig verklickern? Und ist es manchmal nicht auch anstrengend, immer wieder mit den Erwartungen der Leute spielen zu müssen, weil genau das ja inzwischen auch von euch erwartet wird?

FARIN: Man kann es ohnehin nicht jedem recht machen, also versuchen wir das gar nicht erst. Am Ende finden es zehn Leute super, zwei sind total enttäuscht, weil wir ausgerechnet ihr Lieblingslied nicht gespielt haben („Wie konntet ihr nur ,Rod Loves You‘ weglassen, eindeutig euer bestes Stück!“), und der Rest wundert sich darüber, dass wir nur zu dritt sind.

BELA: Wir hacken jetzt hier schon ganz schön lange auf dieser Erwartungsfrage herum. Wir entscheiden einfach, wozu wir Lust haben. Wären wir anders, würden uns weniger Leute gut finden.

STEPHAN: Bei einem Die-Ärzte-Konzert darf man auch nicht erwarten, alles mitsingen zu können, da ihr die Texte live häufig variiert. Gibt es einen Song, der dieser Form der Kreativität besonders häufig zum Opfer fällt?

FARIN: Unangefochtener Spitzenreiter war jahrelang „Rock Rendezvous“, den wir grundsätzlich immer variiert haben – sogar im Übungsraum!

BELA: Es war wirklich beängstigend, als wir feststellten, dass wir den Originaltext gar nicht mehr kennen.

OLIVER: Die Leute tun es aber ja trotzdem: mitsingen. Gegen jeden Widerstand, fast jedes Wort, immer und überall. Am Bierstand – auf beiden Seiten des Tresens. Auf dem Weg zum und vermutlich selbst noch im Dixieklo. Bei euren Hits kommt man sich vor wie in einem Musical: Massen-Singszenen! Diese Ohrwürmer sitzen in den Hirnen der Menschen und machen sie willenlos. Da ist es wohl nur konsequent, euer neues Live-Album und die DVD „Die Nacht der Dämonen“ zu nennen …

BELA: Besonders lustig finde ich, wenn Security-Leute im Graben mitsingen. Das ist fast schon niedlich und irgendwie auch ein Vertrauensbeweis, wenn die großen starken Männer mal ihre „Böser Mann“-Rolle aufgeben, weil ihnen ein Lied gefällt.

STEPHAN: „Ghostbusters“ als Auftrittsmusik am ersten Tempelhof-Tag war da sicherlich nur eine weitere Anspielung auf „Die Nacht der Dämonen“, oder? Am Sonntag kam dann allerdings „U Can’t Touch This“. Interpretieren wir da zu viel hinein – war das am Ende einfach nur Partymucke?

BELA: Auf welcher Party läuft denn bitte „Ghostbusters“?!

FARIN: Bela hat die Songs einmal schön als „guilty pleasures“ bezeichnet; Lieder, die eigentlich uncool und Kacke sind, aber total Spaß machen Mir fällt gerade auf, dass man das genauso von einigen meiner Kompositionen sagen könnte. Ups.

BELA: Haha … Peer Steinbrück hat übrigens neulich „Männer sind Schweine“ als sein peinlichstes Lieblingslied bezeichnet.

OLIVER: Noch so ein Ohrwurm-Opfer. Und das geht sogar noch schlimmer: Als wir das Gelände verließen, meinte meine Freundin, dass sie nun „Ich weiß nicht (ob es Liebe ist)“ nicht mehr aus dem Kopf bekommt. Dabei hattet ihr das gar nicht gespielt. Aber es erlebt man ja öfter so auf Konzerten: durchspült von lauter Musik, fließen einem die wildesten Assoziationen durch den Kopf. Geht es euch als Erzeuger solchen Lärms selbst auch so? Kann es sogar passieren, dass man sich gedanklich auch mal ganz verabschiedet von dem Konzert, das man gerade gibt?

BELA: Das passiert mir tatsächlich hin und wieder. Manchmal beschäftigt mich aber auch ein Verspieler so sehr, dass das zwangsläufig weitere nach sich zieht.

FARIN: Klar, das kommt vor. Wenn ein besonders originelles Schild oder Transparent hochgehalten wird, versinge ich mich gerne mal vor Lachen. Und beim Anblick wohlgeformter Brüste werden wir ohnehin zu Amöben. So geschehen übrigens am Sonntag in Berlin. Irgendwann in Wien hatten wir mal versprochen, für jede blankziehende Dame eine weitere Zugabe zu spielen. Nach seeehr vielen Liedern kam der Veranstalter und bettelte, wir sollten endlich aufh ören, sonst würde die Polizei den Laden dichtmachen.

BELA: Es macht aber auch Spaß, uns gegenseitig aus dem Konzept zu bringen. Bei ernsteren Balladen ist das nicht so schön, aber die machen ja nicht das Gros unseres Sets aus.

STEPHAN: Nach dem „Schunder-Song“ habt ihr vieldeutig gewitzelt, dass das Stück maßgeblich von eurer Vorgruppe NOFX „beeinflusst“ sei. Um welchen NOFX-Song handelt es sich?

FARIN: So billig klaue ich normalerweise nicht. Aber gerade bei der Arbeit an PLANET PUNK hatte ich die WHITE TRASH, TWO HEEBS AND A BEAN und PUNK IN DRUBLIC rauf-und runtergehört, und das merkt man mindestens bei den Arrangements.

BELA: PLANET PUNK ist voll mit Songs, die auf Fat Wreck hätten erscheinen können. Albumtitel und Cover sind uns heute übrigens ziemlich peinlich. Das zugehörige T-Shirt ist aber eines der am besten gelaufenen Merch-Artikel.

OLIVER: Noch mal zurück zum Thema „Beeinflussung“. Wäre das nicht das ultimative „Ärztival“: Ihr ladet all jene Bands ein, von denen ihr geklaut habt, und spielt gemeinsam mit ihnen eure größten Erfolge: „So, liebe Freunde, für ,Unrockbar‘ darf ich nun einen alten Indie-Heroen aus Dortmund in unsere Mitte bitten …“

FARIN: Das Geheimnis um dieses Riff im Outro von „Unrockbar“ können wir ja gerne mal lüften: Ich habe von diesem Mann in meinem ganzen Leben genau ein Stück gehört. Und das hat mir nicht gefallen. So habe ich auch nicht gemerkt, dass er diese zwei(!) Töne im exakt selben Rhythmus schon vor uns aufgenommen hatte. Da unser Umfeld offenbar genauso wenig Phillip Boa hört wie wir, hat das keiner mitbekommen, bis der Song dann fertig gemastert war. Ich hätte mir sofort etwas anderes ausgedacht -geschätzter Aufwand: zwei Minuten -, aber es war zu spät. Na ja, jetzt kann er bis an sein Lebensende behaupten, dass wir von ihm gestohlen hätten.

BELA: Farin und ich waren in den Achtzigern mal auf einem Konzert einer Band, deren größter Hit sehr an „Westerland“ angelehnt war. Als sie den Song spielten, haben wir uns in die erste Reihe gestellt und mitgesungen, was den Sänger dann sehr gefreut hat.

STEPHAN: Gibt es noch irgendeine Band, die ihr unbedingt als musikalischen Gast zu eurer Show einladen wolltet, oder sind nach Village People, Beatsteaks und 5 Kleine Jägermeister keine Wünsche mehr offen?

BELA: Die Village People kann man nicht toppen, außer wir würden ABBA wieder zusammenbringen. Wir waren übrigens ganz dicht an Slayer dran. Aber die haben ihre Zusage wieder zurückgezogen. Auch Danzig wollten ursprünglich in Tempelhof spielen, aber dann bekamen sie auf dem Wacken-Festival einen Headlinerslot angeboten. Als es um die Ärztivals ging, kamen von mir übrigens rund 150 Vorschläge, von Rod etwa 30 und von Farin einer: Dse.

OLIVER: Umgekehrt finde ich auch interessant: Bei wem würdet Ihr gerne mal noch im Vorprogramm spielen? Kiss und Bonaparte – das kann’s doch noch nicht gewesen sein!

BELA: Es steht zumindest noch eine Eröffnung für die Beatsteaks aus, ansonsten wird’s so etwas mit dieser Band eher nicht mehr geben.

STEPHAN: Habt ihr mitbekommen, dass am Samstag hinter dem Flughafengebäude ein kleines Feuerwerk gezündet wurde, als ihr „Der Graf“ gespielt habt? Ich hatte schon die Befürchtung, dass eurem Team da die Pyro-Show vorzeitig ejakuliert ist. Tatsächlich ging euer Konzert ganz ohne Blitz und Böller zu Ende …

FARIN: Wie, und die feuerspuckenden Gitarren bei „Westerland“ zählen nicht?!

BELA: Die Lust am Zündeln haben uns Rammstein gründlich verdorben. Jede noch so große Bühnenrakete ist doch ein Fliegenschiss gegen das, was die da abfeuern. Also überlassen wir denen das … fast … neidlos.

STEPHAN: Wir gehen einfach mal davon aus, dass „Die Nacht der Dämonen“ eure nächste Band-Pause mit ungewissem Ausgang einläuten wird. Was in dieser Pause passiert, darüber verrät das Internet ja schon einiges: Bela geht Ende September auf Solo-Clubtour. Rod, du bist mit deiner Latino-60s-Beat-Band Más Shake auch gleich wieder unterwegs. Und einer von euch macht wohl erst mal was mit Urlaub

OLIVER: Stopp, ich hätte da drei Vorschläge für ein vorzeitiges Die-Ärzte-Comeback 2014: 1. „Deutschland sucht den Nachwuchsarzt“ – mit euch dreien als Jury. 2. „Rock’n’Roll Übermensch“, „Waldspaziergang mit Folgen“ sowie „Meine Freunde“ werden in die Neuauflage des katholischen Gebet- und Gesangbuchs aufgenommen und ihr könnt zum zugehörigen Festakt in einem Dom eurer Wahl auftreten. 3. Ihr dürft die beiden anderen Mitglieder in der Band gegen eure Lieblingsmusiker austauschen. Oder habt ihr vielleicht sogar noch bessere Vorschläge?

BELA: Mario Barth, bist du’s? Wie wäre es denn, wenn wir unseren eigenen „ComÄdy-Tag“ bei Pro 7 bekämen? Ich hätte da schon einen vielversprechenden Gag-Autor am Start. Er arbeitet allerdings halbtags bei der Satirezeitschrift Musikexpress.

FARIN: Wir warten mal eine Weile ab und nennen das Jahr, in dem wir wieder Lust haben, dann einfach 2014.