Dem Trend auf der Tour


Sie sehen aus wie ein smartiesbunter LSD-Trip, doch auf Tour werden die Leithammel in Sachen Dance & Dekor zu lammfrommen Arbeitstieren. ME/Sounds-Mitarbeiter Peter Jebsen war 5000 Meilen lang dem neuen Vital-Trend auf der Spur: Tour Lite.

Lady Miss Kier, ansonsten ein Fels an Ausgeglichenheit, ist stinksauer. Auf der 15stündigen Busfahrt von Salt Lake City ins kanadische Vancouver hat sie einen Zeitungs-Bericht über Deee-Lites „World Clique Tour“ gelesen, in dem behauptet wird, bei den Konzerten werde ihr Gesang per Tonband eingespielt. Dies will sie nicht auf sich sitzen lassen. In den nächsten Tagen gibt es denn auch kein Interview, bei dem Kier nicht aufs Heftigste ihren Live-Gesang herausstellt: „Es gibt schon genug Hochstapler in diesem Business, da müssen wir nicht auch noch mitmachen. Der Journalist, der diese Lüge in die Welt gesetzt hat, muß blind und taub gewesen sein!“ Bei ihrem aktuellen Live-Konzept liegen Deee-Lite genauso voll im Trend, wie mit ihrem Klamottenstyiing. Schon deshalb verbietet sich Playback von selbst: „Ich frage mich, warum wir uns die Mühe machen, zum ersten Mal mit einer richtigen Band auf Tour zu gehen und unsere Musik dann doch nur zum Playback zu mimem“, motzt Kiers russischer Kollege „Super-DJ“ Dmitry nach dem ersten von zwei ausverkauften Auftritten in Vancouver. Die hochkarätige Funk-Band, mit der Deee-Lite auf dieser Tour ihren kunterbunten Sampleund Scratch-Reigen unterstützen, wäre für einen Playback-Etikettenschwindel ohnehin nicht zu haben gewesen: Baß Altmeister William „Bootsy“ Collins (39), der schon auf Deee-Lites Debüt-LP WORLD CLIQUE in die Saiten griff, brachte für die Shows bewährte Mitstreiter seiner Rubber Band als Verstärkung mit — Gitarrist Michael „Kidd Funkadelic“ Hampton, Keyboarder Trey Stone und Schlagzeuger Roger Parker. Ihnen stehen außerdem noth die quirlige Perkussionistin Robin Lobe, früher an der Seite von Latin-Koryphäen wie Tito Puente und Celia Cruz, sowie zwei Tänzerinnen zur Seite.

Im Vergleich zu ihrem aktuellen Spektakel war Deee-Lites letztjährige Club-Tournee (Motto: ,,A Deee-Liteful Evening“) nur ein blasses Vorspiel. Anstelle der computerisierten House-Beats des Albums gibt’s diesmal fette Funk-Grooves von Bootsy & Co. „Vom Kindergarten sind wir jetzt in die erste Klasse aufgestiegen“, freut sich Lady Miss Kier in fast britisch anmutender Bescheidenheit. In ihren schrillen Outfits zieht sie — mal als Cat-Woman, mal als Federboa-behängter Vamp schmachtende Männerblicke auf sich. Und über allem thront Zeremonienmeister Dmitry mit seinen Prinzessin-Leia-Zöpfchen, der an Plattenspielern. Keyboards und Gitarre Regie führt.

Ein Drittel von Deee-Lite fehlt jedoch bei dieser Tournee. Der japanische ,Jungle-DJ“ Towa Towa. bei den Tour-Proben noch dabei, informierte seine beiden Mitstreiter drei Tage vor dem ersten Konzert, daß er sich dem Tournee-Streß nicht gewachsen fühle.

„Eigentlich hatte er schon viele Monate vorher erwähnt, daß er lieber zuhause bei seiner Freundin bleiben wolle, aber wir hatten keine Ahnung, wie ernst er es meinte“, trauern Kier (Kirby) und Dmitry (Brill) um zwei Uhr morgens in ihrem Hotelzimmer beim „Abschlaffen“ nach einem Auftritt, erklären aber im gleichen Atemzug Toleranz zum neuesten Band-Trend: „Wir finden, daß jeder das tun sollte, worin seine wahre Stärke liegt „während uns beiden das Touren und Performen Spaß macht, tüftelt Towa Towa halt lieber zuhause im Wohnzimmer im wohnzimer an seinem Computer herum.“Damit Dcee-Lite-Fans ihren dritten Lite-Hammel mehr vollends vermissen müssen, haben sich Kier und Dmitry einen frechen Gag einfallen paar Tagen (rechtzeitig zur Show in San Francisco) wird ein Pappkamerad in Lebensgröße fertig sein, der den schüchternen Towa Towa auf der Bühne vertreten soll. Inzwischen kommuniziert man täglich mit fröhlichen Fax-Orgien von Küste zu Küste.

Der flotte Fax-Dreier ist aber das einzige, das bei Deee-Lites Weltreise exzessive Züge hat. „Dies ist die zahmste Tournee, die ich jemals mitgemacht habe“, lacht denn auch Bootsy Collins, der einst als Teenager bei Soul-Brother James Brown in die Lehre gegangen war und dann bei George Clintons Parliament/Funkadelic-Trupp einen Schnellkurs in Sachen organisiertes Chaos erhielt. Schlecht tut ihm das Tour-Lite aber nicht — früh morgens, als er einst von drogenschwangeren Parties zurück ins Hotels gestolpert war, ist er heutzutage zusammen mit Band-Kollegen im Fitneß-Raum anzutreffen. Super-DJ Dmitry durchforstet währenddessen die Plattenläden der jeweiligen Stadt nach Maxis zum Mixen (was keine leichte Aufgabe ist, denn allüberall in Amerika gibt es fast nur noch CDs).

Deee-Lite ist auch im fünften Jahr ihrer Band-Laufbahn jeder Zynismus fremd, noch immer sind sie mit anstekkendem Enthusiasmus und teilweise naiv anmutendem Optimismus bei der Sache. Kier und Dmitry wirken wie Kinder, die sich in einem Spielzeugladen austoben dürfen. Und obschon sie sogar in Styling-Dingen Trendsetting betreiben — scharenweise fallen Teenager in knallbunten Sixties-Klamotten bei den Konzerten ein — haben die beiden Lite-Macher noch ungetrübte Bodenhaftung: „Wir kneifen uns jeden Tag aufs Neue in die Wange — diese Tour ist für uns wie ein wahrgewordener Traum, Vor allem Bootsy hat uns hier eine Menge Türen geöffnet“, glänzt Kier. Bis heute noch kann sich Kier nicht immer entscheiden, ob sie sich nun als cooler Pop-Star oder als aufgeregter Fan geben soll.

„Bei unserem Auftritt im Club von Prince in Minneapolis waren sogar Janet Jackson und Sheila E. im Publikum! Für unsere nächste Platte haben wir vor, all unsere Idole, die wir während der Tour getroffen haben, ins Studio einzuladen.“ Mittlerweile werden Deee-Lite in der Szene so hoch gehandelt, daß ihnen schon aus dem Umkreis von Aretha Franklin und Chaka Khan Produzenten-Jobs angeboten werden, doch „leider hat das bisher aus zeitlichen Gründen nicht geklappt“, bedauert Dmitry.

Er ist es auch, der bei den Proben und den Soundchecks den Ton angibt.

und er hat sich mit seinem zurückhaltenden wie kompetenten Auftreten schnell den Respekt der versammelten Funk-Veteranen erworben. Zwischen Soundcheck und Konzert ziehen sich Dmitry und Kier wieder in ihr stilles Kämmerlein zurück, um sich durch Meditation (Kier: „Manchmal hilft auch Sex‘.“) auf die abendliche Performance vorzubereiten. Kurz vor der „Show-Time“ stellt sich die gesamte Band backstage im Kreis auf, um sich mittels Händchenhalten und Konzentrationsübungen auf die gleiche Wellenlänge einzustimmen. 90 Minuten lang geht s dann auf der Bühne zur Sache, wobei die Garderobenverwalterin Rose Cappelluti die meistbeschäftigte Kraft im Hintergrund ist — ständig schlüpft Kier während kurzer Instrumental-Parts in Windeseile in noch engere Latex-Overalls, und auch Bootsy wechselt häufiger mal vom paillettenbehängten Glitzeranzug in den schwarzen Leder-Dress.

Nach einem fulminanten Schlagzeug-/Perkussion-Duell zwischen Roger und Robin plus einer letzten Zugabe zieht das verschwitzte Publikum nach Hause; und Kier und Dmitry begrüßen das Häufchen Fans, das es geschafft hat, die bulligen Sicherheitsleute am Bühneneingang auszutricksen. Während Bootsy nach einer kurzen Verschnaufpause allein auf der Bühne vor leerem Saal aus seinem legendären Star-Baß ohrenbetäubende Heavy-Metal-Sounds herauslockt, beruhigt Kier zum tausendsten Mal besorgte Verehrer, die im vergangenen Jahr durch Schlagzeilen über eine angebliche Heroin-Überdosis der Deee-Lite-Lady aufgeschreckt wurden: „Ich hatte mir in einem Chicagoer Restaurant einfach nur in den Finger geschnitten und mußte zur Notauftiahme ins Krankenhaus, was ein Reporter spitzbekommen haben muß — er bauschte diese Sache dann zur Heroin-Affäre auf. “ Ins Hotel zurückgekehrt, erklärt Kier, warum sie diese harmlos küngende Medien-Enie ärgerte. „Nachdem die Zeitungen darüber berichtet hatten, kamen bei unseren A uftritten ständig Dealer an, die mir ihr Zeug andrehen wollten!“

Höhepunkt in Vancouver: Im stadtischen Aquarium gibt’s anläßlich eines Fernsehinterviews ein Rendezvous mit Beluga-Walen und Delphinen, von denen sich das Deee-Lite-Pärchen gar nicht mehr trennen mag — „die Gesänge der Wale müssen wir unbedingt für unsere nächste LP sampeln!“ Auf dem Weg zum Soundcheck wird per Autotelefon schnell noch eben ein Live-Rundfunkinterview abgewickelt, ein Zwischenstopp bei einem ihrer Lieblings-Schuhgeschäfte eingelegt, bei dem sie kostenlos ein paar „Warenmuster“ zugesteckt bekommen. „Irgendwie ist es komisch“.

erinnert sich Kier an andere Zeiten, „früher konnten wir uns solche Schuhe nicht leisten — heute, da wir sie uns leisten könnten, bekommen wir sie umsonst!“

Am nächsten Tag bricht der Deee-Lite-Troß von Vancouver wieder gen USA auf. Während der Bus mit der Road-Crew die Grenze ungeschoren passiert, wird der Band-Bus vom US-Zoll penibelst gefilzt und dann auch noch von Spürhunden durchschnüffelt. Ergebnis: weniger Drogen als in einer Dose Lite-Bier. Nach den beiden vorausgegangenen Shows in einem alten, kronleuchter-behangenen Ballsaal ist der Auftrittsort diesmal ein heruntergewirtschaftetes Theater in Seattle, das in einer so finsteren Gegend liegt, daß die beiden Tänzerinnen die 50 Meter vom Bühnentor zum Tourbus nur in Begleitung zurücklegen wollen. Nach einer weiteren umjubelten Show und dem Spießrutenlauf durch eine schreiende Meute unentwegter Fans warten auf die erschöpften Performer keine bequemen Hotelbetten, sondern die schmalen Pritschen des Tourneebusses. Die Karawane zieht weiter ins 1.500 Kilometer entfernte San Francisco — immer dem Trend auf der Tour.