Der Britpop-Boom machte Pulp und ihren Frontmann Jarvis Cocker zu Szene-Darlings. Doch dem Rausch folgten der Kater und die Rückbesinnung auf einfache Wahrheiten.


Eeigentlich hätten sich Pulp ihres Lebens erfreuen können. „Aren’t you happy just to be alive?“ sang Jarvis Cocker 1998 folgerichtig in „Dishes“, im Tonfall aber doch sehr sarkastisch. Warum nur? Nachdem sich der Mann jahrelang abgekämpft hatte, ereilte ihn Mitte der 90er im Zuge der Britpop-Euphorie Erfolg ungeahnten Ausmaßes. Jarvis hier, Jarvis dort, Hits im Radio, Fernsehauftritte en masse, umjubelte Live-Gigs vor immer größerem Publikum, eine Party ohne Britanniens neues Sex-Symbol Jarvis Cocker? Konnte nichts taugen.

In Wahrheit aber hatte der Popularitäts-Schub für den einstigen Filmstudenten auch herbe Schattenseiten. „Wenn ich weiter so ein Leben wie damals geführt hätte, wäre ich heute wohl kaum gesund, im Extremfall tot. Ich war ständig auf Piste, hatte keine normalen Beziehungen, nahm Drogen, fand kaum Schlaf – das ging auf Kosten von Geist und Physis.“ Von wegen eitel Sonnenschein und „happy to be alive“. Cocker schlitterte in eine Krise, weil er dem alten Mythos vom schillernden, ausufernden Rock’n’Roll-Lifestyle erlegen war. „Die Wirklichkeit sieht anders aus , weiß Cocker heute. „Oh,‘ sagt er mit pseudoamerikanischem Akzent, „Jim Morrison ist in Paris in einer Badewanne gestorben. Ist das nicht große Kunst?“ – und gibt gleich selbst die Antwort: „Nein ist es nicht! Das war ein aufgedunsener, fetter Idiot, der besoffen war und zu viele Schlaftabletten schluckte. Das ist nicht glamourös. Sterben ist nicht glamourös. Lind trotzdem lebt der Mythos, tote Rocker seien cool, weiter. Ich finde das, mit Verlaub, beschissen. Klar, jemand wie Slash würde mich jetzt wahrscheinlich auslachen. Der stünde hier mit Sonnenbrille, Whiskeyglas und Kippe im Mund und würde sagen: Rock’n’Roll regiert die Well!“ Jedem das Seine, gewiss.

Drei Jahre hat die Welt auf den Nachfolger zu Pulps ’98er-Album „This Is Hardcore“ warten müssen. Drei lahre, in denen sich die Band rarer machte, weniger Auftritte hatte, höchstens einmal einen Song wie „We Are The Boyz“ für den „Velvet Goldmine“-Soundtrack einspielte. Sonst lief wenig. Dafür grübelte man eifrig darüber, wie es wohl weiter gehen könnte. Dieser Prozess zog sich hin, weil, wie Cocker es ausdrückt, die Band „generell etwas ungeschickt ist. Das ist zwar manchmal ganz amüsant, bringt mich aber auch oft zum Weinen. In meiner Naivität dachte ich, dass wir nach 20 Jahren Musikerdasein eigentlich eine gewisse Routine haben müssten, was die Fertigstellung einer Platte angeht. Aber aus unerfindlichen Gründen klappt es nie so, wie wir uns das vorstellen. Ein Automechaniker hat irgendwann bestimmte Griffe einfach drauf und wird bei der Arbeit immer schneller. Wir werden aber immer langsamer, je mehr Jahre wir auf dem Buckel haben.“ Gibt es dafür Erklärungen? Vielleicht. Hat man als Musiker seinen Stil einmal gefunden – wie Pulp auf Alben wie „His’n’Hers“ und „Different Class“ – und obendrein Erfolg damit, kommt man davon nicht ohne Weiteres los. Man braucht Zeit. In Pulps Fall musste erst einmal der schon beschriebene ungesunde Lebenswandel ein Ende haben, ebenso ein gewisses Selbstmitleid in Bezug auf das Älterwerden. Auf dem Cover von „This 1s Hardcore“ stand zu lesen: „Es ist okay, erwachsen zu werden, solange man dabei nicht alt wird. Sieh der Tatsache ins Auge: Du bist jung.“ Der Song dazu hieß „Help The Aged“ und war nach einer britischen Organisation für Seniorenhilfe benannt. Nur: Hinter der spaßigen Fassade spürte man jene Sorge, die Popmusiker um die 35 naturgemäß überkommt: Bin ich zu alt für diesen Zirkus?

Mittlerweile ist Jarvis Cocker klar, dass es nichts bringt, sich zu viele Gedanken über das Alter zu machen: „Davon wird alles nur schlimmer.“ Also rafften sich Pulp wieder auf und suchten nach neuen musikalischen und thematischen Herausforderungen, larvis schrieb plötzlich nicht mehr ausschließlich über seltsame Gewohnheiten seiner Mitmenschen, sondern entdeckte die Natur als Thema. Er hörte Bäume und Unkraut sprießen, Vögel singen, Flüsse plätschern. Aus der Besinnung auf die LJmwelt wurde schließlich ein Konzeptgedanke. „Wenn man sich This ls Hardcore‘ anhört, wird man von der Schwere dieser Platte fast erdrückt. Eine unnatürliche Platte, wenn man so will. Das neue Album sollte einfacher, klarer und nicht zuletzt freundlicher klingen. Die Depression musste ein Ende haben.“ Das bezog sich dann nicht nur auf die Texte, sondern auf alles, was mit der Band und ihrer Arbeitsweise zu tun hat. Denn im gegenseitigen Llmgang hatten sich Cocker, Gitarrist Mark Webber, Bassist Steve Mackey, Keyboarderin Candida Doyle und Drummer Nick Banks zunehmend entfremdet, hatten sich daran gewöhnt, ihre Studiotakes jeweils getrennt einzuspielen. Jetzt war man wieder zusammen im Studio. So entstanden Momentaufnahmen, keine über längere Zeit kunstvoll ausgefeilte Konstrukte.

Großen Anteil am Sinneswandel hatte der legendäre Scott Walker. Pulp lernten den zurückgezogen lebenden Songwriter-Avantgardisten beim londoner „Meltdown“ kennen, einem Experimental-Festival, das Walker letztes Jahr als Kurator betreute. Als sich die Aufnahmen zum neuen Album dann hinzogen und immer neue Produzenten ohne Erfolg getestet wurden, kam Cocker auf die Idee, Walker zu fragen, ob er Lust hätte, die Platte zu produzieren. Kein naheliegender Einfall, denn bisher war Walker nie als Produzent für andere Musiker tätig geworden. Doch er sagte )a – und erwies sich als Glücksgriff. „Erst habe ich mir Sorgen gemacht, ob das als Arbeitsverhältnis gut gehen kann“, erinnert sich Cocker. „Wir haben alle größten Respekt vor ihm, bewundern seine Arbeit.Und dann ist er ja eine sehr geheimnisumwobene Person. Da befürchtet man natürlich, dass die Kommunikation schwierig werden könnte, er seine Anweisungen auf Tafeln schreibt oder sie in Stille-Post-Manier weitergibt. Aber so war es überhaupt nicht. Alles lief bestens. Der Mann hat uns Mut gemacht.“

Dann war da noch ein Problem: Ein Albumtitel musste her. Zunächst hatte man sich auf „Pulp Love Life“ geeinigt, doch das erschien der Band dann doch zu albern, zumal man sich als Covermotiv ein dickes Herz ausgedacht hatte. Es war auch im Gespräch, die Platte einfach nur „Pulp“ zu nennen, was gut zur neuen Einfachheit gepasst hätte. Dann aber kam es zu den Terroranschlägen in den LISA, und alles war wieder über den Haufen geworfen. Cocker: „Ich hatte höllische Angst, wie jeder andere auch. Aus dem Gefühl heraus, dass wir vielleicht bald alle sterben werden, konnte ich dem ursprünglichen lebensbejahenden Titel wieder etwas abgewinnen. Es schien einfach richtig, ein positives Zeichen zu setzen.“ Nun heißt das Album also allumfassend „We Love Life“, und das scheinen keine leeren Worte zu sein. Der Jarvis Cocker des Jahrgangs 2001 wirkt irgendwie entstaubt und entkrampft. Lebenslustig und liebenswert. Entschlossen und selbstbewusst. „Wir haben bewiesen, dass Musik von Erwachsenen nicht unbedingt langweilig sein muss“, resümiert er. Pulp wollen noch einmal durchstarten. Irgendwo muss man mit seiner Begeisterung ja hin, wenn man am Ende doch „happy to be alive“ ist.

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