Der Feind in meiner Band


The Libertines haben Pete Doherty beurlaubt. Wegen Drogenproblemen. Ende August erscheint das zweite Album, und niemand weiß, ob es die Band dann überhaupt noch geben wird,

Was für eine Idylle: Auf dem Neuen See in Berlin Tiergarten fahren Touristen in Ruderbooten herum. Zu einem Soundtrack aus aufgeregten Kinderstimmen, Lachen, Wasserplätschern und Vogelgezwitscher. Durch das satte Grün der Bäume blinzelt ab und zu die Sonne. Eine echte Rarität in diesem deutschen Sommer. Irgendwo hinten im Gebüsch könnte sich Claude Monet versteckt haben, mit einem Strohhut auf dem Kopf vor seiner Staffelei sitzend, um die Idylle festzuhalten. Und irgendwo vorne im Biergarten des Cafes sitzt Carl Barât unter einem großen Sonnenschirm, trinkt abwechselnd Bier und Mineralwasser und raucht Lucky Strike. Die Idylle trügt. Der Sänger und Gitarrist der Libertines muss das vielleicht am sehnsüchtigsten erwartete Album des Jahrzehnts promoten, nein: er will es promoten, weil er überzeugt davon ist, dass es großartig geworden ist, weil er verdammt stolz ist auf das zweite Album seiner Band. Und die Welt – verdammt noch mal – soll das auch wissen. Aber Barât quälen im Augenblick ganz andere Fragen. Zum Beispiel die: Werden The Libertines überhaupt noch existieren, wenn Ende August das neue Album der Band The Libertines erscheint? Oder: Welches neue Kapitel für die Seifenoper The Libertines hat sich sein Freund und Bandpartner Pete Doherty wieder einfallen lassen? Barât macht Witze, ist relativ gesprächig für einen Libertine, eine Spezies, die als mundfaul bekannt ist, und doch stehen Verzweiflung und Ratlosigkeit hinter jedem Satz, den er sagt. Auf dem Kalender steht: 29. juni 2004, und es ist nicht unwichtig, dieses Datum zu erwähnen, weil zu jedem Teil der Seifenoper The Libertines wöchentlich ein neuer dazu kommt. Die Seifenoper ist seit gut einem Jahr auf Sendung. Damals taucht Pete Doherty für die Auftritte der Band bei den Festivals „Rock am Ring“ und „Rock im Park“ nicht auf. Versuche von Label und Management, die branchenübliche Desinformationspolitik zu betreiben („Peter ist krank“) lösen sich bald auf wie ein Libertines-Song, weil Doherty seinerseits an die Öffentlichkeit geht, nachdem seine Kollegen deutlich machen, ihn „in seinem gegenwärtigen Zustand“ nicht in der Band haben zu wollen. Noch weiß aber keiner, was das sein soll, dieser „gegenwärtige Zustand“, in dem sich Doherty befindet. Deshalb kann er auch getrost weinerliche Botschaften auf seiner Website verbreiten. Er fühlt sich ungerecht behandelt, er weiß gar nicht, was seine Bandkollegen wollen, ja, aus der Band wollen sie ihn ekeln, da muss eine Verschwörung gegen ihn im Gange sein. Bald ist klar, Doherty hat ein Drogenproblem: er ist abhängig von Heroin und Crack. Jetzt wird auch deutlich, was die anderen mit dem „gegenwärtigen Zustand“ gemeint haben.

Es folgen zwölf turbulente Monate, in denen The Libertines permanent in die Schlagzeilen geraten. Und die wenigsten Meldungen haben etwas mit Musik zu tun, oder irgendwie doch, zumindest indirekt. Denn die Seifenoper The Libertines ist nicht von der Band The Libertines zu trennen. Weil die Hauptdarsteller der Seifenoper The Libertines identisch sind mit den Hauptdarstellern der Band The Libertines, weil nur diese Menschen in der Lage waren, das beste Album des Jahres 2002, das größte, wundervollste Album des Jahres 2004 und der nächsten Jahre aufzunehmen, weil nur diese Menschen in der Lage sind, Großes zu erschaffen und im nächsten Moment wieder zu zerstören. So wie ein Libertines-Song, der sich großartig aufbaut, um irgendwann zu implodieren. Das Libertines-Drama ist keine Marketing-Idee, keine Inszenierung zur Ankurbelung von Plattenverkäufen, das ist nicht Hollywood, das ist das richtige Leben: Doherty ist raus ist aus der Band, Doherty tritt wieder auf mit der Band, Doherty geht auf Entzug, Doherty bricht den Entzug ab und in Barâts Wohnung ein, Doherty kommt ins Gefängnis, Doherty gründet seine eigene Band, mit Bassist Patrick Walden und Schlagzeuger Seb Rochford. Er nennt die Band „The Libertines“. Aus Trotz. Später wird er sie in „Babyshambles“ umtaufen und „Guerilla-Konzerte“ geben, in Wohnzimmern von Fans, an öffentlichen Orten – ohne Genehmigung, so lange, bis die Polizei kommt. Der Konflikt zwischen zwei Freunden in einer Band ist nicht unbedingt neu in der Rockgeschichte. Beispiellos ist dagegen, wie mit diesem Konflikt umgegangen wird, wie offen, wie ehrlich sich alle Beteiligten zum Fall Libertines äußern, nachdem das Kind erstmal beim Namen genannt wurde. Wenn Mariah Carey sich die Pulsadern aufschneidet, tischt ihr Management den Medien irgendein Märchen auf, von wegen im Badezimmer ausgerutscht und auf die Fingernagelschere gefallen. Damit bloß nicht das Bild von der sauberen Diva, der R&B-Prinzessin beschädigt wird.

Zurück in der Idylle. Barât springt plötzlich von seinem Stuhl auf und fuchtelt mit den Armen herum wie ein Mädchen. Eine Wespe ist ihm zu nahe gekommen. „Ich hasse diese Viecher“, sagt er, lacht verschämt und fragt rhetorisch: „Das ist nicht cool,was? „Weil er weiß, dass es nicht cool ist, wenn ein Libertine Angst vor einer Wespe hat, und dass es nicht cool ist, wenn ein Journalist dabei zusieht, wie ein Libertine Angst vor einer Wespe hat. Zwei Wochen bevor Barât gegen Wespen kämpft, hat Doherty seinen Entzug abgebrochen, den dritten innerhalb weniger Monate. Kurz nachdem er aus Bangkok zurückgekehrt ist, wird er in London wegen unerlaubten Waffenbesitzes festgenommen. Einen Tag später stellen ihm Barât, Bassist John Hassall, Schlagzeuger Gary Powell und Manager Alan McGee ein Ultimatum: Doherty wird solange nicht mit den Libertines auftreten, bis er clean ist. Ja.

Barât zieht an seiner Zigarette, inhaliert tief und nuschelt, weil er nur nuscheln kann, oder nur nuscheln will, so dass sogar seine Landsleute Schwierigkeiten haben, ihn zu verstehen: „Wir haben ihn nach Bangkok geschickt, weil wir wollten, dass es ihm besser gehen sollte. Wir haben ihm sogar diesen Trip bezahlt. Wir haben aus Respekt vor ihm einige Libertines-Gigs abgesagt. Und dann kommt er zurück und gibt Konzerte mit den Babyshambles. Das ist eine Schande! Wir wollten, dass es ihm bessergeht!“ Barât wirkt äußerlich cool, gelangweilt, aber man spürt, dass ihm die Geschichte sehr nahe geht. Jeder zweiten Antwort schickt er ein „Oh, Mann“ voraus, jedem vierten Satz ein „Das ist eine Schande“ hinterher. „Ich möchte nicht mit Pete abhängen, wenn er Drogen nimmt. Alles was ich will, ist, dass es ihm besser geht, dass er die Finger lässt von dieser Drogenscheiße und dass er wieder zurückkommt als mein Freund und das tut, was er am besten kann. Pete ist immer willkommen bei uns. Und immer wenn er und ich gemeinsam auf einer Bühne stehen, sind wir eine Band. Ich hoffe, dass dieser Tag wieder einmal kommen wird. Zum jetzigen Zeitpunkt bezweifle ich aber, dass wir mit den Libertines weitermachen werden,falls es Pete nicht besser geht und falb er nicht zurückkommen will. Das soll aber nicht bedeuten, dass The Libertines nicht irgendwann einmal zurückkommen. Ich könnte mir vorstellen, etwas anderes zu machen, aber ich habe keine Zeit, darüber nachzudenken, was das sein könnte. Mein Kopf ist zur Zeit voll von Emotionen und Verwirrungen und Gedanken und Gefühlen über die ganze Geschichte. Ich kann nur soviel sagen: Wenn die Situation so bleibt, wie sie jetzt ist, werde ich ohne Peter nicht unter dem Namen The Libertines weitermachen. Aber ich bin der Meinung, dass das neue Album es verdient, gespielt zu werden, und dass wir-auch wenn Peter nicht da ist – diese Gigs spielen müssen.“

Einen Tag nach dem Interview, Barât ist mittlerweile nach Köln weitergereist zu weiteren Fachgesprächen mit deutschen Musikjournalisten, kündigt das Libertines-Management in London an, dass die Band im Juli bei einigen Festivals in England auftreten wird. Ohne Doherty, aber mit dem tiefen Ausdruck des Bedauerns. Der Rausgeworfene sitzt derweil in seiner Wohnung in Islington in Nord-London und redet mit dem New Musical Express. Auch über seinen Freund Carl Barât: „Ich liebe ihn… ich möchte, dass er glücklich ist. Aber irgendwie scheine ich die Fähigkeit zu haben, ihn unglücklich zu machen.“ Doherty fühlt sich ungerecht behandelt. Weil er nicht beim „T In The Park Festival“ in London mit den Libertines auftreten darf. Erbricht in Tränen aus vor dem englischen Journalisten. Man hat ihn aus der Band geworfen. Sie haben kein Recht dazu. Er verschwendet keinen Gedanken daran, dass er sich vielleicht selber in diese Situation gebracht haben könnte. Er glaubt, dass sich Band, Label und Management gegen ihn verschworen haben. Er leidet an drogeninduzierter Realitäts Verschiebung. Er kann nicht anders. Es brennt. Das Rock’n’Roll-Fieber. Pete ist krank.

Der Libertine gibt Interviews für die Regenbogenpresse. Sie haben dafür bezahlt. Und sie zahlen gut. Er kann das Geld gut brauchen, um sich Drogen zu kaufen. Im Revolverblatt „Sun“ wirft er Barât vor, der habe die Freundschaft mit ihm schon vor Jahren zu den Akten gelegt. „Das ist eine Schande!“, sagt Barât. „Später hat er sich bei mir entschuldigt: ‚Sorry für die ganze Scheiße, die ich in der Sun gesagt habe.‘ Ich bin nicht sauer auf ihn, ich weiß nur nicht, was mit ihm los ist im Moment. Jetzt gerade, während wir reden, spricht er mit dem Mirror. „Tatsächlich wird ein paar Tage später ein Interview mit Doherty im „Mirror“ veröffentlicht. Dort erzählt er, was er getrieben hat, nachdem er die Entzugsklinik in Thailand verlassen hat: „Ich nahm mir ein Zimmer in einem Hotel (in Bangkok), Der Room Service hatte neben Schinken und Eiern auch Heroin im Angebot. Ich habe ihnen gesagt, dass ich pleite bin, aber sie haben mir das Zeug auf Kredit gegeben. Nach drei Tagen bekam ich eine Rechnung über 280 Pfund. Hätte ich dieselbe Menge Heroin in England genommen, hätte mich das Tausende von Pfund gekostet. „Einem Journalisten des NME wird er ein paar Wochen später erklären, dass er vollkommen clean ist. Um Gerüchte aus der Welt zu schaffen, dass er 1.000 Pfund pro Tag für Drogen ausgibt, zieht er drei Päckchen Heroin aus dem Regal in seiner Wohnung, deutet darauf und sagt: „Das kostet 60 Pfund, es reicht zwei Tage oder so.“ Ob er Drogen verherrliche, will der Mann vom NME wissen. „Ich?“, fragt Doherty, „keine Ahnung.“

„Drogen zu nehmen und nicht du selber sein, hat nichts zu tun mit der Schönheit und der Poesie, die in der Musik der Libertines liegen“, sagt Geoff Travis. „Die romantische Vorstellung, dass man durch Drogen auf eine höhere kreative Ebene gelangt, ist meiner Meinung nach ein Mythos. „Der Mann, der das sagt, ist eine lebende Legende. 1978 hat Travis Rough Trade, die Mutter aller Indie-Labels, gegründet, Bands wie The Smiths entdeckt und gefördert und mit seiner antikapitalisnschen Geschäftsidee, einen kleinen Plattenladen in Notting Hill in ein Label zu verwandeln, die Musiklandschaft verändert, weil er gezeigt hat, dass auch ein von den Musikherstellungskonzernen unabhängiges Label als Stimme der Gegenkultur ein gewichtiges Wörtchen mitreden kann im Musikgeschäft, gerade weil es die Betonung auf das Wort „Musik“ und nicht auf „Geschäft“ legt. Und irgendwann ist Rough Trade dann pleite gegangen, weil sie dort die Betonung zu sehr auf das Wort „Musik“ gelegt haben und nicht so

sehr auf das „Geschäft“. Die lebende Legende sitzt an ihrem Schreibtisch im Rough-Trade-Büro in London am Telefon, um über die Libertines zu sprechen. Was folgt, ist kein klassisches Interview, es hat den Charakter eines Gedankenaustausches über die derzeit beste Band der Welt. „Ich war noch nie zuvor in einer derartigen Situation mit einer meiner Bands“, wird Geoff Travis am Ende sagen. Ratlosigkeit auch hier. Vor drei Jahren hat Travis den Namen „Rough Trade“ zurückgekauft und das Label neu aufgezogen. Als ihn eines Nachts ein Freund aus New York anruft, um ihm die EP einer Band vorzuspielen, ist Travis komplett aus dem Häuschen. „Ich muss diese Band unter Vertrag nehmen!“, hat er gesagt und dann auch getan. Diese Band hieß The Strokes. Travis hat im hohen Rock’n’Roll-Alter von 52 immer noch den richtigen Riecher für neue Bands. Irgendwann lädt Banny Poostchi, damals noch die Managerin der Libertines, den Rough-Trade-A&R-Mann James Endicott ein, sich die Band bei einem Auftritt in London anzusehen. Endicott nimmt die Einladung an, ist begeistert und übermittelt die frohe Botschaft an seinen Chef. In all den Jahren hat Geoff Travis gelernt, wessen Begeisterung über neue Bands er teilen kann und auf wessen Rat er besser verzichten sollte. Auf James Endicott kann er sich verlassen. Deshalb besucht Travis die Band ein paar Tage später in ihrem Proberaum. Was er dort hört und sieht, findet er „einfach wunderbar“. „Ich liebe die Kinks, und als ich die Libertines zum ersten Mal gehört habe, dachte ich: diese Songs tragen das Echo der Kinks in sich. Was waren das für großartige Songs! Es war aufregend, weil ich das Gefühl hatte, dass die Libertines das real thing sind. Und wenn du dich mit Musik schon so lange beschäftigst wie wir hier, erkennst du sehr leicht den Unterschied zwischen dem real thing und den wannabees.“

Der Rest ist neuere Musikgeschichte, bis zum Erbrechen publizistisch penetriert. Noch bevor die erste Single “ What A Waster“ im Juni 2002 veröffentlicht wird, werden The Libertines als heißester Scheiß der Saison auf dem Titel des „New Musical Express“ gefeiert. Dann im November 2002 das Debütalbum Up The Bracket, produziert von Mick Jones: das beste Album des Jahres, für alle, die sich wirklich für Rock’n’Roll interessieren, eine Sammlung fieser kleiner, chaotischer, schlampiger Punk-Pop-Hits, die sich drehen, aufbäumen, zusammenfallen, nachscheppern, bumm und aus. „Die Strokes arbeiten wie eine perfekt geölte Maschine“, sagt Travis, „und die Libertines sind das perfekte Chaos. Das ist aber offensichtlich Teil ihres Charmes. Die beiden Bands könnten nicht gegensätzlicher sein, aber das Endergebnis ist so ziemlich das gleiche.“

Wie zum Teufel hat es diese Band, dieses perfekte Chaos, zustande gebracht, ein zweites Album aufzunehmen – in nur sieben Tagen? Pete Doherty war laut Carl Barât „fast immer“ dabei. Eine ganze Woche lang hat sich die Band zusammengerissen, eine Woche lang haben The Libertines diszipliniert und hart gearbeitet.

„Aber die Disziplin der Libertines folgt ihrer ganz eigenen Logik , sagt Geoff Travis und lacht. Produzent Mick Jones ist der große Katalysator. Er liebt die Band heiß und innig. Barât bezeichnet ihn als „einen von uns, er ist der fünfte Libertine“. Ohne Jones hätten sie es nicht geschafft. Der Clash-Gitarrist steht hinter der Glasscheibe im Kontrollraum, während sich die Libertines im Studio einen Wolf spielen. Jones tanzt vor der Scheibe, um die Band anzutreiben. Der Produzent hat eine Idee, für einen Song. Er fragt: Wollen wir den Part so oder so einspielen? Die Libertines sagen: „Ach nö. „Jones erwidert: „Kommt schon!“ Und sie gehorchen. Sie haben Respekt vor dem fünften Libertine. Es gibt keinen Druck. Alles ist relaxt. Am Mischpult sitzt Bill Price, auch so ein Großer. Er war bei den Aufnahmen Von NEVER MIND THE BOLLOCKS – HERE’S THE SEX PISTOLS und London calling dabei. Jones und Price verstehen sich blind, Geoff Travis ist begeistert von Jones: „Mick ist sehr glücklich darüber, dass er mit den Libertines die Tradition großer englischer Popmusikfortsetzen kann-von The Clash zu The Libertines. Im Gegensatz zu dem, was man annehmen könnte, haben The Libertines sehr hart an diesem Album gearbeitet. Peter war absolut in Form – mental und körperlich und heiß auf die Aufnahmesessions. Micks Hauptrolle war, dafür zu sorgen, dass die richtigen Takes auf das Album kommen, die Band zusammenzuhalten, Dinge, die nur fragmentarisch vorhanden waren, zu einem Ganzen zusammenzufügen. Er spielt eine sehr wichtige Rolle bei den Libertines. Es geht darum, den Moment einzufangen, so würde es Mick ausdrücken. Es ist nicht so wie bei den Strokes, wo Nick Valensi etwas spielt, und Julian Casablancas ist nicht hundertprozentig zufrieden, und daraufhin muss er es wieder und wieder und wieder spielen. Bei den Libertines ist das nicht so.“

Bei den Libertines ist manches anders, in dieser Band gibt es zwei Julian Casablancas, zwei gleichberechtigte Frontleute, die den klassischen Rock’n’Roll-Frontleute-Konflikt austragen, obwohl oder gerade weil sie Brüder im Geiste sind. „Carl befindet sich im Gegensatz zu Pete – nicht auf einem geistigen Höhenflug, er nimmt keine illegalen Substanzen zu sich, die seinem geistigen und körperlichen Wohlbefinden schaden könnten. Und das ist ein sehr großer Unterschied. In musikalischer Hinsicht sind die beiden wirklich wie zwei Brüder. Es gibt kaum Unterschiede zwischen den beiden, außer: Peter glaubt an seine Unsterblichkeit. Und da irrt er sich. Wir wissen nicht, warum das so ist-er ist so intelligent. Er müsste sich eigentlich sicher sein, auf was er sich einlässt. Carl würde einen Schlussstrich ziehen, er würde sagen: Genug ist genug. Das ist ein großer Unterschied zwischen den beiden. Ambition und Karriere-Dinge, die für eine Band normalerweise wichtig sind-scheinen nicht unbedingt an erster Stelle bei Peter zu stehen. Auf der anderen Seite ist er sich schon bewusst, dass er sehr talentiert ist.Und er scheint alles zu tun, um dieses Talent zu verschwenden. Es ist sehr schwierig, ihn zu verstehen. Es ergibt nicht unbedingt Sinn“, grübelt Geoff Travis.

Derweil treibt sich Pete Doherty in London herum, und niemand weiß so ganz genau, was er tut, außer dass er sich für unsterblich hält. Carl Barât hat zuletzt mit seinem Freund gesprochen, als der aus Thailand zurückgekehrt ist. Manchmal, wenn er ein Kindermädchen braucht, meldet sich Doherty im Rough-Trade-Büro. „Wir stehen immer noch in Verbindung mit ihm. Er ruft uns an, wir sprechen mit ihm“, sagt Geoff Travis. „Er bittet uns um gewisse Dinge, wenn er zum Beispiel ein Taxi braucht, das ihn von A nach B bringt, wenn er eine Gitarre aus dem Lager haben will solche Sachen.Ich weiß nicht, was er denkt. Er muss sich bewusst werden, dass er nur aus der Band geworfen wurde, weil er sich selber in diese Situation gebracht hat. Aber das will er nicht akzeptieren. An manchen Tagen ist er gut drauf, und an anderen Tagen ist er nicht er selbst. Es ist wirklich eine Tragödie. Und wir wissen nicht, wie die Sache weitergeht. Pete scheint einfach nicht akzeptieren zu wollen, dass er derjenige ist, der die Probleme hat. Er ist nicht in dem Zustand, um mit den Libertines aufzutreten. Wenn er dir gegenüber am Computer beim Musikexpress sitzen würde, würdest du ihm raten, nach Hause zu gehen. Und irgendwie ist Pete nach Hause gegangen“

Unterm Strich steht: für alle Beteiligten – außer für Pete Doherty selber – ist die Existenz Dohertys wichtiger ist als die der Libertines. Keiner will, wie in England bereits spekuliert wird, dass Pete Libertine in die Geschichte eingeht als der erste große Rock’n’Roll-Tote des neuen Jahrzehnts. Carl Barât betont, dass für ihn die Freundschaft zu Doherty wichtiger ist als die Musik, „was sehr viel bedeutet, wenn du in Betracht ziehst, dass die Musik schon ein sehr wesentlicher Bestandteil meines Lebens ist“. Und Geoff Travis macht sich Gedanken über die „moralisch beste Handlungsweise“ im Fall Pete. „Das Tragische ist: wenn dieses Album erscheint und wenn es sehr erfolgreich wird, könnte das das Schlimmste bedeuten. Weites weiter die Legende von Peters Unsterblichkeit untermauert. Was ihn wiederum glauben lassen könnte, dass er sich benehmen kann, wie er will. Manchmal glaube ich, es wäre besser, wenn das Album nicht herauskommt. Dann möchte ich am liebsten alles stoppen und sagen: Peter, wir veröffentlichen das Album, wenn du clean bist. Vielleicht wäre das das Richtige. Es ist sehr schwierig. Es scheint aber schon zu spät zu sein, um die ganze Sache zu stoppen. Auf der anderen Seite: wenn das Album herauskommt und Peter sieht, was die Libertines sein könnten, vielleicht gibt ihm das dann einen Grund, wieder gesund zu werden.“

Die Geschichte der Libertines ist eine Tragödie, eine Schande, ein Triumph, ein glorioser Sieg – die Geschichte der Libertines ist die Geschichte des Rock’n’Roll. Wie heißt es in „Can’t Stand Me Now“, einem der besten Songs auf dem neuen Libertines-Album: „Have we enough to keep it together. Or do we just keep on pretending (and hope our luck is never ending)? Try to pull the wool, I wasn’t feeling too clever, you took all they’re lending until you needed mending“ – wie großartig, wie wahr, wie traurig.