Interview

The Libertines im Interview: „Ich würde mir eine Kugel für dich einfangen“


Über Implosionen, Tränensaft und echte Freundschaft: Peter Doherty und Carl Barât im Gespräch.

Vielleicht ist jenes Gespräch der Beweis für Zeichen und Wunder: Vor über zwanzig Jahren war Peter Doherty an einem Londoner Sommertag in die Wohnung seines Bandkollegen eingefallen. Im Wahn stahl und verhökerte er das Interieur von Carl Barât, um seine verzweifelte Drogensucht zu stillen. Darauf trennten sich die Libertines ein erstes Mal, viele weitere Implosionen sollten folgen. Zwei Dekaden später sitzen die beiden Gefährten nun auf einem roten Sofa beisammen – denn tatsächlich veröffentlichen die Briten nach neun Jahren ein neues Studioalbum. Barât trägt eine Schapka auf dem Haupt und eine Lederjacke über den Schultern – gefestigt wirkt er im Zuge seiner Reflexionen über das Geschehene. Im Inneren eines zigarettenrauchenden Dohertys hingegen rumoren die Fragen.

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Lieber Peter, lieber Carl, ich möchte euch bitten, gedanklich in die Vergangenheit zu reisen: Wir schreiben den 7. Dezember 2003. Wäre es damals nicht unglaublich unwahrscheinlich gewesen, dass ihr zwanzig Jahre später sicher, gesund und munter beisammensitzt?

PETER DOHERTY: Was für eine wunderschöne Frage, dafür werden wir ein paar Stunden benötigen – großartig! Offensichtlicherweise werde ich ein bisschen weinen müssen.

CARL BARÂT: Ein bisschen Tränensaft!

PETER: Worte aus Therapiestunden werden ziemlich hilfreich sein, um die Erinnerungen zu bewältigen.

CARL: Du siehst die Reaktion, die diese Frage hervorruft: Wir können es nicht begreifen. Sicherheit ist etwas, mit dem wir nicht sonderlich vertraut sind. Wir müssen uns erst noch daran gewöhnen. Es gibt eine Menge, Peter spricht von Traumata – deshalb bin ich verleitet, allem zu misstrauen. Damit habe ich zu kämpfen. Wenn du es so formulierst, ist mein erster Instinkt, zu sagen: „Nichts ist sicher.“ Aber wenn ich das nicht täte, würde ich Dankbarkeit und Glück empfinden. Und all die Dinge, die Hippies fühlen.

PETER: Neulich hatte ich ein seltsames Gespräch. Jemand versuchte mir vorzuhalten, dass ich glücklich zu sein hätte über den Ort, an dem ich mich befinde – während sich andere durch eine imperialistische Bedrohung zu Tode gebombt sehen. Ich sagte: „Du bist schlimmer als die verfickte imperialistische Bedrohung.“ Natürlich ist nichts schlimmer, als wenn dein Haus zerbombt wird. Aber wenigstens kannst du deine Gitarre voll aufdrehen, wenn die Bomben fallen. Gott vergib mir, dass ich das gesagt habe.

CARL: Was ist die Schlussfolgerung? Dass du etwas gegen den Krieg tun solltest, anstatt Gitarre zu spielen?

PETER: Manchmal kommen die Leute – wenn sie zu viel über die Welt nachdenken oder aus einem bestimmten Blickwinkel darüber lesen – an einen Punkt, an dem es keine anderen Dinge mehr für sie gibt. Es kann nur ein zehnsekündiger Kurzschluss sein. Wenn man aber darin stecken bleibt, schickt man sich plötzlich an, zu kämpfen.

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Was bedeutet es für euch, ein Libertine zu sein? In den vergangenen zwei Jahrzehnten beschwerte der Gedanke eure Schultern auch mit Last.

PETER: In England war es immer in Ordnung. Man musste sich nirgendwo beweisen, weil sich niemand dafür interessierte, was das Wort Libertine bedeutet. Manchmal verwechselten die Leute es auf Festivals mit Liberty X [britische Castingband – Anm.]. In Frankreich war es hingegen so, als würde man mit einer moralphilosophischen Position zur Sexualpolitik ankommen. Auf unserem ersten Magazin-Cover druckten sie über unser Foto einfach nur: „Gefährliche Wichser“. Du durftest im Dezember 2003 nicht auf den Straßen von Paris in einem historischem Gewand herumspazieren. Dort habe ich immer ein bisschen Feindseligkeit gespürt. Als ob die Franzosen mit verschränkten Armen dastehen und sagen: „Wie könnt ihr es wagen, euch Libertines zu nennen?“

Peter, in unserem letzten Interview hast du davon gesprochen, dass du in diesen frühen Tagen eine verzweifelte Sehnsucht nach Ruhm verspürtest. Erging es dir ähnlich, Carl?

CARL: Ich hatte das Gefühl, dass Peter sich so fühlte. Ich habe mich ihm angeschlossen und mich mit ihm auf die Reise begeben.

PETER: Es hätte wirklich verdammt gefährlich werden können, denn ich war immer bereit für Dinge wie … sagen wir, bei Interviews zu übertreiben. Ich habe versucht, Carl anzustiften und er sagte: „Weißt du was, ich werde mich diesmal einfach zurückhalten.“ Nach den Interviews haben wir Passagen herausstreichen lassen. Hätte das niemand getan, wären wir jetzt am Arsch. Wir wären beide gecancelt. Selbst wenn die Dinge im Scherz gesagt wurden.

CARL: Peter wollte immer seine Botschaft singen. Wenn er an einer Beerdigung vorbeikam, sagte er: „Lass uns hingehen und ein Konzert für sie spielen.“ Und ich sagte: „Ich glaube nicht, dass sie ein Konzert von uns hören wollen.“

PETER: Es war eher, als würde man in die U-Bahn steigen; vorgeben, sich nicht zu kennen – und einen Zank vortäuschen. Verstehst du, was ich meine? Es war meine Performance-Kunst-Industrie, ich war immer von diesen Leuten fasziniert.

CARL: Ich war mehr Metakunst.

PETER: Also stiegen wir in den Zug, aber wir planten es minutiös …

CARL: … nicht allzu minutiös. Auf die Leute wirkte das ein bisschen unüberlegt.

In der aktuellen Kino-Doku über Peter ist der Ausschnitt eines Interviews aus euren Anfangstagen zu sehen. Ihr sprecht davon, zwei einbeinige Menschen zu sein, die nur zusammen stehen und laufen können. War das der jugendliche Traum einer Freundschaft oder besteht er auch heute noch in dieser Intensität?

PETER: Was für eine schöne Idee, von der du da sprichst: Menschen, die jung sind und ihre Träume teilen. Ich möchte, dass es echt ist. Ich möchte, dass es für immer hält. Wenn ich es nun überprüfe, habe ich das Versprechen gebrochen.

CARL: Wenn man diese Frage darauf verdichtet, ob wir noch eine Vision teilen? Vermutlich. Ich denke, wir kommen aus einem ähnlichen Kanonenrohr geschossen. Wir haben ein Auge, ein Bein und leider auch zwei Zungen, was zu Problemen führen kann.

PETER: Ich kann mir das damalige Interview bildlich vorstellen. Es ist irgendwie ganz ähnlich wie heute. Der Hintergrund war weiß und karg. Ich kann mich genau erinnern, wo es stattfand: Es war ein Büro oben auf der Brick Lane [Straße in London – Anm.]. Wir sind so lange durch die Stadt gezogen, haben Shows gespielt, haben unsere Leben gelebt und unsere Träume. Dann ging es auf einmal in die Höhe – weißt du, was ich meine? Wir saßen oben und schauten auf die Straße hinunter, wo wir früher an Türen geklopft haben, um Jobs zu bekommen. Wir haben uns in einen trendigen Abschaum verwandelt und waren keine …

CARL: … unschuldigen Zuschauer mehr.

PETER: Genau.

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Shane MacGowan wurde einmal gefragt, was er in Folge seines Zustands und seiner Sucht am meisten vermisse. „Songschreiben und Billard spielen“ lautete die Antwort. Wie hat die Sucht eure Kreativität beeinflusst – und wie wirkte sich das weitgehend drogenfreie Leben in den vergangenen Jahren auf den Schreibprozess aus?

PETER: Was ich im Zusammenhang mit meiner Sucht am meisten vermisse, ist das Heroin, um ehrlich zu sein. Aber ja: Ich denke, das Kom­ponieren ging mir nie besser von der Hand. Mir ist das ein kleines Rätsel, weil … eine mei­ner Ausreden war – ich habe sie nie laut aus­ gesprochen – dass die Drogen vielleicht ein guter Weg seien, um einen kleinen Kokon zu schaffen und mit dem Schreiben von Songs voranzukommen. Aber anscheinend stimmte das nicht. Vielleicht eine Zeit lang.

Betrachtet man frühe Stücke wie „Tell The King“, mimte Peter häufig den Junkie ohne jegliches Verantwortungsgefühl und Carl den enttäuschten Herzensbruder.

PETER: Kennen wir uns gut genug, dass du mich als Junkie bezeichnen darfst?

CARL: Ich habe nicht zwanzig Jahre damit verbracht, nur ein enttäuschter Bruder zu sein. Aber ja: Wir sind beide auf unseren eigenen Wegen unterwegs gewesen. Wie lau­tete die Frage?

Sind alte Wunden mittlerweile geschlossen? Wie steht es heute um eure Freundschaft? Habt ihr euch selbst verziehen – und dem jeweils anderen?

CARL: Ich glaube, wir haben uns immer sofort verziehen.

PETER: Befreit die Vergebung eines anderen Menschen nicht automatisch von Schuld?

CARL: Nein, so läuft das nicht. Du schlägst jemandem ins Gesicht und er sagt: „Das geht in Ordnung“?

PETER: Aber wenn es für denjenigen in die­ sem Moment doch okay ist?

CARL: Das bedeutet nicht, dass es für dich in Ordnung ist, deinen Bruder zu verletzen.

PETER: Ich denke, Carl hat einen kühlen Kopf bewahrt. Ich musste ihm nur einmal physische Gewalt ausreden. Da hat er die Ruhe bewahrt.

CARL: Ich wollte niemanden schlagen. Einmal wollte ich ihn verprügeln, aber stattdessen habe ich mich selbst verprügelt. Ich werde meinen Bruder niemals schlagen. Ich würde mir eine Kugel für dich einfangen, Junge.

In vielen Liedern aus den Nullern habt ihr eure Freundschaft verhandelt und das Zerbrechen dieser Liebe. Auf der neuen Platte finden sich auch einige Songs wie „Mustang“ oder „Merry Old England“ – sie erzählen die Geschichten anderer.

CARL: Wir waren jetzt an einem Punkt, an dem wir uns nicht mehr so sehr auf unsere Beziehung konzentrieren mussten. Auch wenn es in den Texten viele Andeutungen darauf gibt. Ich glaube, jetzt hatten wir zum ersten Mal das Gefühl, über die Welt um uns herum schreiben zu können. Wie stehst du dazu, mein Freund?

PETER: Jedes Mal, wenn ich ein Gespräch über Songwriting führe, habe ich das Gefühl, als würde ein kleiner Teil meiner Fähigkeit zum Schreiben verschwinden. Manche Leute wol­len sich nicht fotografieren lassen, weil sie glauben, dass man dadurch einen Teil ihrer Seele stiehlt. Es ist eine verdammt heikle Angelegenheit. Einige der Lieder sind ein­ fach nur verstümmelte Bewusstseinsströme.

CARL: Ich glaube, was unser Interviewer sagen möchte: Die zweite Platte war sehr, sehr stark auf unsere damalige Situation fokussiert.

PETER: Ich weiß. Das ist ein interessanter Punkt. Ich versuche nur zu denken … er hat recht. Sachen wie „Last Post On The Bugle“. Bei „The Ha Ha Wall“ ging es aber nicht wirk­lich um uns. Weißt du noch, als ich in den Raum kam und sagte: „Carl, mir reicht es mit dem Herumhängen! Nimm eine Gitarre, sie wird diesen Sound haben!“

CARL: [lächelt] Wir kämpfen bereits einen lan­gen Krieg.

PETER: An der aktuellen Platte haben wir ziem­lich viele Stunden gearbeitet. Früher hatten wir die Songs immer schon geschrieben, sind einfach losgezogen, es war ein großes Durch­ einander. Diesmal haben wir viel Zeit damit verbracht, uns mit der Schreibmaschine auf einer Bank vor der Aufnahmehütte gegen­überzusitzen und über die Texte zu reden.

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Gab es einen Punkt nach ANTHEMS FOR DOOMED YOUTH, an dem wieder alles zu implodieren drohte?

CARL: Es war eine ziemliche Odyssee. Wir haben neun Jahre gebraucht, um hier anzu­kommen. In dieser Zeit gab es viele Höhen und Tiefen. Mich hat das Trauma gelehrt, dass nichts jemals sicher ist. Es wird noch lange dauern, bis ich sagen kann: „Alles wird gut, ich kann mich entspannen.“ Die Antwort lautet also: Zwischen damals und heute hat es Phasen gegeben, in denen nichts sicher war.

PETER: Ich sehe Carl nicht so oft. Und wenn ich ihn sehe, ist es … ich liebe ihn und es ist immer noch alles so kostbar, weißt du?

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Besteht für Romantiker eine erhöhte Gefahr, süchtig zu werden – auch weil man im Rausch schöner träumt?

PETER: Die Frage ist eher: Ist es nicht roman­tischer für Süchtige, schwierig zu werden?

CARL: Um Dinge zu denken, die eine roman­tische Vision ausmachen, muss man in gewisser Weise süchtig sein. Besessenheit ist ein Teil von Romantik. Ich würde sagen, die beiden Dinge sind ziemlich eng miteinander verbunden. Wenn du von Sucht sprichst, worauf beziehst du dich?

Drogen und Alkohol, all das.

PETER: Es könnte auch Arbeit sein, Sex oder Glücksspiel.

CARL: Ich war schon immer süchtig und ich war schon immer ein Romantiker, also kann ich nicht objektiv sein.

Hat euer Schiff Albion mittlerweile in Arcadia angelegt?

PETER: Es kommt darauf an, wo man sich auf dem Schiff befindet. Wenn du den ganzen Tag Kohle in den Ofen schaufelst und nicht dazu kommst, die tanzenden Mädchen oder Jungs zu sehen …

Wie denkt ihr über den letzten Hafen? Wo werdet ihr ankommen?

CARL: William Blake beschrieb es als … er hat­te vier Seiten. Seine erste Seite nannte er Newtons Schlaf: eine wissenschaftliche, line­are, alltägliche Seite. Dann hatte er eine zwei­te, seine visionäre Seite. Sie stellte das Innen­leben und die Gefühlswelten dar. Dann hatte er noch einen Ort, der Jerusalem oder so hieß. Das war im Grunde ein Zwischenstopp vor dem Paradies – oder die weltliche Vor­stellung vom Himmel. Seine vierte Seite, das war die Ewigkeit. Und ich glaube, ich werde seine Ewigkeit für mich hassen.

PETER: [schluchzt]

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Mehr zu The Libertines

Peter Doherty und Carl Bârat werden einander 1997 bekanntgemacht. Beide verehren sie The Clash und Velvet Underground, Oscar Wilde und William Blake. In einer gemeinsamen Wohnung in der Londoner Camden Road schreiben sie Lieder und verfallen ihrem Traum vom Rock’n’Roll. Ihre erste Single „What A Waster“ erscheint im Juni 2002 auf dem ikonischen Plattenlabel Rough Trade. Vier Monate darauf verhilft ihnen das Debütalbum UP THE BRACKET zum Durchbruch. Bereits jetzt sorgen indessen nicht nur ihre wüsten Indie-Rock-Songs für Schlagzeilen, sondern auch die Eskapaden Dohertys. Auf dem 2004 veröffentlichten und selbstbetitelten Nachfolger verhandeln sie ihre Konflikte in Musik – kurze Zeit darauf sind die Libertines vorerst Geschichte. Immer mal wieder findet das Quartett in den Folgejahren für eine Reunion auf der Bühne zusammen. Schließlich veröffentlichen sie 2015 ihren dritten Langspieler ANTHEMS FOR DOOMED YOUTH. Am 8. März 2024 erschien nun ihre vierte Studioplatte ALL QUIET ON THE EASTERN ESPLANADE.