Der Steppenwolf


Ein geselliger Mensch war er noch nie. Und mit wachsendem Alter wuchs seine Aversion gegen Konfektion und Konvention nur noch weiter. Daß er nun doch nicht im Kloster landete, verdanken wir seiner Muse, die ihn wieder rücksichtslos nach vorne prügelte. BIG WORLD, sein jüngstes Album, überrascht mit einer Vitalität, die man dem spröden Eigenbrötler nicht mehr zugetraut hätte.

Ich bin da ein bißchen wie durch eine … Nebelwand gegangen, ja. Schien lange Zeit nichts schreiben zu können. War sehr deprimiert und frustriert über die ganze Musikszene und den Status (er schnaubt verächtlich) eines … Popstars oder wie immer man es nennt.

Mich hat das völlig verunsichert, und ich zog ernsthaft in Erwägung, ganz auszusteigen und nur noch Instrumentalmusik zu schreiben, Filmmusik vielleicht. Ich dachte, ich komme aus diesem grauslichen Popmusik-Business nur heraus, wenn ich buchstäblich aufhöre. Ich dachte, vielleicht bekomme ich ja einen passablen Job als Pianist in irgendeiner Band. „

Joe Jackson versucht zu erklären, warum er sich zwei Jahre lang von Bühne und Studio ferngehalten hat.

„Aber dann kamen mir Schritt für Schritt diese Songs in den Kopf. Ich versuchte, sie zu verdrängen, aber mir wurde klar, daß man sich nicht selbst kastrieren kann. Und jetzt, nun, hier wären wir wieder…“

Hier ist in diesem Fall Paris. Ein herrlicher Frühlingstag. Schwer, unter diesen Umständen schlechter Laune zu sein. Joe schafft ein kurzes Knurren, aber vielleicht eher um der guten alten Gewohnheit willen, als aus einem triftigen Grund. „Muß in ein paar Minuten zu einer beschissenen Fotosession“, mosert er. „Hab‘ höllische Angst davor.“ Und als wir gehen, deutet er kurz mit dem Daumen auf das Cover von Stings „Russians“, das im A&M-Büro an der Wand hängt. „Kann die verdammte Platte nicht ausstehen“ murmelt er.

Eigenartiger Bursche, dieser Jackson. Seltsamer noch aus der Nähe als auf der Bühne. Mit seinen überlangen Armen und Beinen wirkt er dürrer, als er wirklich ist. Der Kopf (kahl) sitzt in einem komischen Winkel auf dem vornübergeneigten Hals, die Ohren stehen ab. Er sieht ein wenig aus wie eine blutarme Giraffe, die man gerade aus einem dunklen Käfig gelassen hat. Seine Hautfarbe ist von fahler Geisterblässe, ein durchscheinendes Grauweiß. Die Kleidung stammt vom Roten Kreuz: Die Hosen, für einen weitaus korpulenteren Mann geschnitten, werden von hellroten Hosenträgern bis unter die Achselhöhlen hochgezerrt. Die Schulterpolster in seinem Gangstersakko erlauben ihm nur mit Mühe und Not. sieh durch den Türrahmen zu zwängen. Sein knöcherner Körper scheint sich verloren und verirrt zu haben in den überdimensionalen Klamotten.

Die Wirkung ist die von Verletzlichkeit? Absichtlich? Schwer zu sagen, aber sie verleiht ihm zweifellos einen exzentrischen Charme. Unter Journalisten heißt es immer, er sei ein „schwieriger Interviewpanner“, aber viel von seiner „Mimosenhaftigkeit“ erscheint mir bewußt theatralisch und gespielt. Oder vielleicht habe ich ihn auch nur in aufgeräumter Stimmung erwischt, einigermaßen zufrieden mit sich selbst.

Und dazu hat er auch allen Grund, denn 1. ist er frisch verheiratet — und 2. hat er gerade eine wirklich gelungene LP veröffentlicht.

BIG WORLD ist eine Platte, die neue Wege geht und wie ein Protest wirkt gegen die Konfektionsware, aus der die gegenwärtige Popmusik größtenteils besteht. Es ist ein Live-Album. obwohl es völlig neues Material präsentiert; das Publikum wurde ausdrücklich aufgefordert, sich still zu verhalten (erstaunlicherweise verzichteten die New Yorker auf ihre obligatorischen Zwischenrufe); das Konzert selbst wurde dann direkt auf ein digitales Zwei-Spur-Master aufgenommen, wodurch die kosmetischen Korrekturen, die bei den sogenannten Live-Alben gang und gäbe sind, unmöglich wurden. Ehrliche Arbeit.

Wenn man sich Jackson’s vorangegangene Inkarnationen ins Gedächtnis ruft (die als baskenbemützter Big Band-Jazzer von BODY AND SOUL und die als Latino-Weltmann von N1GHT AND DAY). ist die größte Überraschung von BIG WORLD dessen Direktheit. Diese Songs rocken härter als alles, was Jackson seit LOOK SHARP! gemacht hat.

Rock? Joe Jackson? Noch vor zwei Jahren hätte der aufmerksame ME/Sounds-Leser folgendes Zitat von Joe finden können: „Ich habe Rock so satt —- er ist genauso stagnierend und klischeebeladen wie alles andere. Rock macht dumm. Musik von Faulen für Faule …“

Zu jener Zeit verbannte er auch die elektrische Gitarre aus seiner Musik, denn sie wurde für ihn zum Symbol all dessen, was an der Rockmusik falsch war.

Und doch ist BIG WORLD unter anderem auch ein Gitarren-Album, auf dem das Instrument überzeugend und unbestreitbar rockig von einem gewissen Vinnie Zummo gehandhabt wird. Was ist los, Joe? Sind die markigen Worte von gestern schon Makulatur?

Er lacht tatsächlich. Nicht zu glauben. „Äh … nein! Hmmm …“ Er lacht schon wieder. „Es gibt einige Antworten darauf: Grundsätzlich bin ich der Meinung, daß alle Instrumente nur Werkzeuge sind, die zu dem jeweiligen Job passen müssen. Und als ich N1GHF AND DAY machte, sollte es nicht wie eine Rock ’n‘ Roll-PIatte klingen: deshalb auch keine Gitarren. „

Wir sprechen über Joes Unzufriedenheit mit dem Allgemeinzustand der Popmusik. „Es gibt einfuch zuviel von diesem hochtechnisierten Studio-Sound: Schlagzeugmaschinen und andere Tricks, die Sänger, die den Ton nicht halten können, klingen lassen, als könnten sie es. Da werden Stimmen verändert mit dem Harmonizer, da wird ‚Sampling‘ betrieben und wer weiß, was sonst noch alles. Das ist zur Norm geworden — und Normen haben mir noch nie gefallen. Es muß Alternativen geben, und ich wollte Aspekte der neuen Technik benutzen, um etwas einzufangen, das real ist, statt etwas Künstliches zu fabrizieren. Es ist heutzutage doch absolut narrensicher, Studioplatten zu machen. Es ist schon so weit gekommen, daß die Band eigentlich gar nicht aufzutauchen braucht. „

Es ist in der Tat erstaunlich, daß eine Plattenfirma einem Produzenten gewaltige Geldsummen vorschießt, um eine Frankie Goes To Hollywood-Platte zu machen, und dann noch mehr Geld hinausschmeißt an eine Truppe von Poseuren, damit sie „die Band“ spielen und im Video herumstolzieren, ist hirnrissig.

..Absolut meine Meinung. Die meisten Popstars unserer Tage haben nicht die geringste Ahnung, was sie eigentlich machen. Sie wissen nicht,

was sie wollen, und wenn sie es wissen, sind sie als Musiker nicht gut genug, um es zu erreichen. Heule braucht man nur einen guten Toningenieur und jemanden, der die Schlagzeugmaschine programmiert. Die meisten Bands heute können weder spielen noch arrangieren noch proben. Ihnen fehlen die musikalischen Grundvoraussetzungen. Und deswegen ist der Produzent immer wichtiger geworden. „

Manche würden dagegen argumentieren, daß der Produzent schon immer das kreativste Glied der Kette gewesen sei. Man denke an die Svengalis der 60er Jahre wie Phil Spector, Leiber Stoller, Joe Meek…

„Aber Spector hatte wenigstens musikalische Substanz, mit der er arbeiten konnte, stimmt’s? Großartige Sänger, die besten Musiker. Während heute die Musik ein hohles Sonderangebot geworden ist, ein Paket mit clever gemachter Platte und clever gemachtem Video. Aber wenn man an der feschen Oberfläche kratzt, stellt man schnell fest, daß es an Substanz mangelt. BIG WORLD ist der bewußte Versuch, gegen diesen Strom zu schwimmen: es handelt sich um l00 Prozent Musik. Ich bin auf diese Platte stolzer als auf alles andere, was ich je gemacht habe.“

Obwohl er sehr unmißverständlich ist, was seine Prioritäten in diesen Tagen betrifft (Musik iii allererster Linie, angemessen für einen Mann, der sich an allen Keyboard-Instrumenten auskennt plus am Saxophon plus an der Geige sowie an seinem alten Gegner, der Gitarre), hatte ich damals, als Jackson 1979 in der Szene auftauchte, das Gefühl, er hielte mit seiner musikalischen Vergangenheit hinter dem Berg. Damals galt noch die Devise: Lerne-drei-Akkorde-und-gründe-eine-Band. Und da war dieser junge Mann, der zwar ebenso freaky aussah wie seine Zeitgenossen, aber doch schon als Teenager in Großbritanniens superkonventionellem National Yquth Jazz Orchestra gespielt hatte. Ein junger Mann, der Beethovens Fünfte „Sister Ray“ von Velvet Underground vorzog und sogar die Royal Academy of Music erfolgreich abgeschlossen hatte.

Nichts davon wurde in den frühen Pressedarstellungen erwähnt. Wir bekamen eine Menge Unmut, Düsternis und Widerwillen gegen die nicht enden wollenden Vergleiche mit Elvis Costello präsentiert, während Joe darauf beharrte. Rachegefühle und Haß seien der Antrieb und die Kraft, die sein Songschreiben beflügelten. Nun, das war vor langer Zeit.

„Ahhh … ich will versuchen, mich zu erinnern. Bis zu einem gewissen Grad hast du recht. Aber gleichzeitig war ich mir bewußt, daß ich ein professioneller Musiker werden wollte. Die Tatsache, daß ich die Royal Academy besucht halte, wollte ich dabei nicht groß aufgeblasen sehen. Ich wollte nicht als der neue Rick Wukeman dargestellt werden.

Ich war 12 oder 13 als ich ein wenig mit Pop liebäugelte. Ich mochte die Beatles und besonders die Kinks, aber danach erwischte mich die klassische Musik voll. Beethoven war mein Idol. Und alle meine Kumpels wollten mir Cream schmackhaft machen. Ich sagte ihnen, es sei alles Mist. Wir haben uns sehr gestritten, richtig geprügelt.

Später dann merkte ich, daß es kein Mist war, sondern eigentlich ziemlich gut. Cream, Hendrix, die ganze Schiene. Schließlich schloß sich der Kreis und ich trennte mich von allen Vorurteilen, aufgrund derer ich mir manchmal wie ein musikalischer Snob vorkam. Ich kann mich aus vollem Herzen begeistern für Musik aus jeder Kultur, für jede Ausdrucksform. Und ich bin der Meinung, was auch immer Beethoven motiviert haben mag, Symphonien zu schreiben, dürfte sich nicht sonderlich unterscheiden von dem Impuls, der die Beatles dazu brachte, eine Band zu gründen und ‚Love Me Do‘ zu schreiben.

Ich glaube, daß es eine gemeinsame Wahrheit gibt, wenn man von Musik spricht und nicht von Stil oder Image oder Pose. Aber leider ist je heutzutage fast nur noch letzteres ungesagt.“

Das musikalisch kosmopolitischste Album Jacksons war bis dato ganz gewiß NIGHT AND DAY von 1982, von einem Kritiker treffend beschrieben als das musikalische Äquivalent eines Spaziergangs durch Manhattan. Pop, Salsa, Funk, Cool Jazz, sogar ein Anflug Steve Reich Phil Glass-Minimalismus, in einem Netz vielfältiger Verweise versponnen. Eine kühne (manche sagten prätentiöse) Platte. Die Band, mit der er das Album auf Tournee vorstellte, war ebenfalls ein bewundernswert gemischter Haufen. Amerikaner. Engländer. Puertorikaner. Männer. Frauen…

„Yeah, das war meine An Traum einer ‚Regenbogenkoalition'“, sagt Joe und bedient sich einer Wortschöpfung von Jesse Jackson (nicht verwandt). „Wahrscheinlich war es musikalisch die beste Band, die ich je halle. Aber sie war nicht besonders haltbar, was die beteiligten Persönlichkeiten betraf Als wir die Tour hinter uns hatten, wollten wir … äh … kein Wort mehr miteinander reden. Wir konnten einander absolut nicht mehr sehen. Eine intensive Tour kann dazu fuhren, und diese Gruppe war schließlich fast ein ganzes Jahr ununterbrochen unterwegs. „

Die neue Gruppe — mit dem Gitarristen Vinnie Zummo und Rick Ford am Baß sowie Gary Burke am Schlagzeug und Jackson hier und da am Klavier — betritt die Szene zu einem Zeitpunkt, da der Film „Absolute Beginners“ nun endlich das ewig angekündigte „Jazz Revival“ bestätigen will.

Joe war dem Spiel schon einen Schritt voraus, hängte aber vor einem Jahr sein Altsaxophon an den Nagel. Bis auf einige raffinierte Akkordfolgen machen sich auf BIG WORLD keine Jazzeinflüsse bemerkbar.

„Bei der Arbeit an der Plane ging es darum, eine Musik zu finden, die wirklich zu mir paß, meine wahre Musik ist. Als wir NIGHT AND DAY machten, waren die lateinamerikanischen Rhythmen durchaus nicht gelürkt. Wir studierten die Form und unsere Annäherung war von Respekt geprägt, ja … und es sind authentische lateinamerikanische Rhythmen. Aber letztendlich ist es doch nicht meine Musik. Und in gewissem Sinne kann es auch nie meine Musik sein.

Irgendwie ist es dasselbe mit dem Jazz: Ich habe mich hineingeschafft in den Jazz der 40er und 50er Jahre, und ich verbrachte so gut wie meine ganze Zeit damit, Altsaxophon zu üben.

Ich bin unmöglich in solchen Situationen. Ein Perfektionist, der es so übertreibt, daß es schon fast idiotisch ist. Schließlich sagte ich mir: ‚Moment mal, was mache ich da eigentlich?‘ Ich übe drei Stunden am Tag -— und habe es doch gar nicht nötig, ein begnadeter Saxophonist zu werden! Es liegt doch auf der Hand, daß ich niemals Entscheidendes zur Geschichte dieses Instruments beitragen werde. Wohingegen ich ja vielleicht als Songschreiber eine neue Nische entdecken könnte.

Also versuchte ich, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren und mich nicht mehr aus der Spur bringen zu lassen.“

Hat die Tatsache, daß plötzlich jeder ein Jazzmusiker sein wollte, deine Entscheidung beeinflußt?

„Nein. Aber das wäre ein weiterer guter Grund gewesen, das Saxophon an den Nagel zu hängen. Oder, Moment … es wäre ein guter Grund gewesen weiterzumachen! Hätte ich weiter geübt, könnte ich …“

… dem Jazz Revival heute zeigen, was eine Harke ist?

„Yeah, du sagst es.“