Jahresrückblick 2015

Die neue Avantgarde


In den Jahren mit der Fünf werden die Weichen gestellt. Das galt von 1955 bis 2005. Und das gilt für 2015: Eine neue Form von Avantgarde ist erfolgreich, weil sie eine Gegenreaktion zur digitalen Musikrevolution ist. Das Äquivalent der Musik zum philosophischen Roman und zum experimentellen Hollywoodfilm.

Das Atonal-Festival im geräumigen Kraftwerk in Berlin war im August 2015 restlos ausverkauft. Im Publikum auch diejenigen, die man sich landläufig unter der Avantgarde-Zielgruppe vorstellt, Damen und Herren im besten Alter. Zu sehen waren aber vorwiegend junge Leute, sogenannte Digital Natives, denen man gerne vorwirft, das Leben mit der Aufmerksamkeitsspanne eines Goldfisches zu bestreiten. Auf dem Atonal waren die Krautrockveteranen Faust zu Gast, die, anders als viele Kollegen von damals, nie zum Wohlklang gewechselt sind. Das Duo spielte ein Konzert zusammen mit dem 75-jährigen studierten Mathematiker und Minimal-Universalgelehrten Tony Conrad. „Selbiger sägte eine Stunde lang aus seiner elektrisch verstärkten Geige unermüdlich ein und denselben Ton heraus, während Faust-Bassist Jean-Hervé Péron und Schlagzeuger Zappi Diermaier stoisch wie eine elektrisch verstärkte Zahnbürste ein und denselben Rhythmus erzeugten“, berichtete Musikkritiker Jens Balzer in der „Berliner Zeitung“. Noch einmal: Dies geschah nicht vor zwei Dutzend Ewig-Avantgardistischen, sondern vor einigen Tausend Leuten. Und die waren begeistert.

Die Liste der experimentellen Musiker, die heutzutage spielend große Säle füllen, wird immer länger

Die Liste der experimentellen Musiker, die heute spielend große Säle füllen, wird immer länger. Dazu zählen der Kanadier Tim Hecker, der Amerikaner Daniel Lopatin und Ben Frost, Australier mit Wohnsitz in Island. Die drei sind Weggefährten, alle bereits seit Anfang der 2000er-Jahre aktiv. Und immer erfolgreicher. Lopatins neues Werk als Oneohtrix Point Never lässt das letzte Album von Aphex Twin wirken wie ein Stück elektronisches Biedermeier: GARDEN OF DELETE funktioniert als Klangbild eines Gehirns nach zwei Jahren ununterbrochenen digitalen Medienmissbrauchs; das wirre Album ist wohl deshalb so faszinierend, weil wir beim Hören merken, dass Lopatin nicht den Irren spielt, sondern uns besser kennt, als wir glauben. Ben Frost ist mit seinem Album AURORA bei Mute gelandet, die Platte kam schon 2014 raus, aber richtig geknallt hat sie in diesem Jahr. Tim Hecker bestritt die Zeit von Ende 2014 bis Mitte 2015 mit einer Reihe sehr gut dotierter Festivalauftritte in Hamburg und Helsinki, Sydney und San Francisco, Bern und London. Extrem gut beschäftigt sind auch Nils Frahm und Ólafur Arnalds, beide beim Berlin/ Londoner Label Erased Tapes unter Vertrag – und befinden sich dort mal alleine, mal zusammen, mal gemeinsam mit anderen auf der überaus interessanten Suche nach dem Analogen im Digitalen, nach den Brüchen der Schönheit.

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