Drive


September 1992 auf AUTOMATIC FOR THE PEOPLE "Drive" ist, unbestritten, ein regelrechter Grabgesang - aber einer der besten der Rockgeschichte.

Das Tempo des Songs ist schwermütig, aber die Wirkung gewaltig; es fiihlt sich an wie ein letztes zorniges Aufbäumen des Rock’n ‚Roll, bevor seine Wut verraucht ist. Das pessimistische Gegenstück zu Songs wie „The Sidewinder Sleeps Tonight“ und dem tröstenden „Everybody Hurts“ traf den Geist einer ganz besonders beladenen Zeit, nach zwölf langen Jahren Herrschaft der Republikaner und „Bushismus“ in den USA. Sein Erscheinen fiel außerdem in eine Phase, als die innovativen Kräfte und die Dominanz der Rockmusik in den letzten Zügen lagen, was Stipe im Text aufgreift: „Maybe we’ve rocked around the clock.“ Gut elf Jahre später hatsich erwiesen, dass die Fähigkeit des Rock, sich selbst neu zu erfinden, und seine zentrale Stellung im Leben der Menschen alles andere als ausgeschöpft sind-undnicht nur sie; denn hier stehen wir, mit einem neuen Bush am Ruder und den furchtbaren Nachwirkungen eines neuen Irakkriegs.

mills: Es ist schon faszinierend, wieviele Songs wir heute spielen, die klingen, als hätten wir sie gestern erst geschrieben – „Welcome To The Occupation“, „Exhuming McCarthy“, viele von den Sachen, die wir spielen, sind heute so relevant wie eh und je. Für „Drive“ trifft das mit Sicherheit auch zu. Buchstäblich: der nächste Bush, der nächste Irakkrieg. Aber das ist nur ein Beweis dafür, dass es unmöglich ist, die Intelligenz des amerikanischen Volks zu unterschätzen. sti pe: Wir haben diesen Song kürzlich gespielt, und ich war richtig schockiert. Ich dachte, das wird ein Reinfall und der Song klatscht hin wie ein Pfannkuchen, aber die Leute lieben ihn. Er funktioniert, und zwar nicht nur auf der Textebene, mit der sich die Leute im Konzert ja gar nicht auseinandersetzen.

bück: Wir wollten das unbedingt als erste Single, weil es Automatic FOR the people definitiv gut widerspiegelt und ganz was anderes war als „Shiny Happy People“. Davor hatten wir viel poppiges Zeug auf Singles rausgebracht, und „Drive“ war eher düster. Heute erzählen dir die Marketing-Leute, wenn du nicht gerade, sagen wir: Mariah Carey in ihrer besten Zeit bist, dann kriegst du nur eine Chance mit einer Single und wirfst darum lieber gleich dein Bestes in die Wagschale. Damals war der Plan, erst mal was rauszubringen, was im Radio gespielt wird, und dann, wenn das Album erscheint, schiebt man den richtigen Hit nach. STIPE: Ich war besessen von der Vorstellung von Radio als einzigem Medium für jemanden, der jung und ein Außenseiter ist- in einer Zeit, als es noch kein Internet gab und keine Magazine, die solche Bedürfnisse befriedigten. Und trotzdem blieb das Radio weiterhin beschissen, ein großes schwarzes Loch. „Drive“ ist daneben auch eine Verbeugung vor David Essex, eine Hommage an einen meiner liebsten Songs aller Zeiten: „Rock On“. bück: Damals gab es so ein allgemeines Gefühl, dass Rock’n’Roll, der Geist von Abenteuer, etwas war, was einfach nicht stattfand. Ich meine, es gab großartige Platten, die Nirvana-Ära hat mir sehr gefallen, sogar Guns N ‚Roses. Aber ich weiß noch, dass ich Anfang der 90er Jahre dachte, wir werden lange Zeit nicht mehr erleben, dass Rock’n’Roll-Platten die Charts beherrschen. In gewisser Weise kommt es mir so vor, als wäre alles wieder so wie in den 60er Jahren, als in der Ed-Sullivan-Show schon auch mal die Rolling Stones und die Beatles auftraten, aber dann kam eine Truppe ungarischer Kunstturner. Buchstäblich. Und ein Kerl, der Teller auf Stangen jongliert. Ich hatte gedacht, Rock’n’Roll würde dieses ganze Konzept von netter Unterhaltung hinwegfegen, es würde in Zukunft darum gehen, zu sagen, was man meint, und zu meinen, was man sagt-aber die nette Unterhaltung ist absolut wieder da. Tanzschritte, Choreographieunterricht, überkronte Zähne, eingeflochtene Haare, wenn man eine Glatze kriegt, und die ganze Zeit auf jeden Fall lächeln. Es gibt einen Platz für so was, aber ich hatte immer gehofft, mit dem Rock’n‘ Roll würde die Unterhaltung in andere Bereiche vorstoßen, es würde in Zukunft mehr um einen gemeinsamen Sinn im Leben gehen. Aber nein, es ist alles wieder da.

Losing My Religion Februar 1997 (auf OUT OF TIME) Die Musik von R.E.M. war immer regelrecht vollgesogen mit Ironie, und hier ist das Musterbeispiel dafür. Nach GREEN und diversen Versuchen mit scheinbar großen, stupiden, ausschließlich Pop-orientierten Songs, war die Single, die die Band kommerziell schließlich weit über sich selbst hinauswachsen ließ, gerade keine „Bitte kauf mich‘.“-Kapitulation vor Massenerwartungen, sondern eines ihrer natürlichsten und persönlichsten Bekenntnisse, mitMandoline und einer Melodie, dieso klarund schön dahinfließt wiefrisches Quellwasser. Von der aufgesetzt wirkenden Extrovertiertheit, die R.E.M. damalsgelegentlich ausstrahlten, ist hier nichts zu finden – vielmehr ringt Stipe mit den Zwängen und Kompromissen des Ruhms, dem möglichen Verlustvon Ehrlichkeit und Privatleben. „I don’t know if I can do it“, erklärt er und balanciert weiter an der schmalen Grenze entlang, die immer typisch für R.E.M. war: „I’ve said too much / 1 haven’t said enough.“ Stoff dass R.E.M. Make-up aufgelegt und das Rampenlicht gesucht hätten, fand mit „Losing My Religion “ das Rampenlicht R.E.M. in ihrer dunklen, stillen Ecke, wo sie ihr eigenes Dingmachten. Und die Welt liebte sie dafür. Undfür Stipes merkwürdiges Getanze. Ein Moment der Vollendung.

bück: Ich hab mir die Mandoline Ende 1989 gekauft und ungefähr 1990 den Song geschrieben, die Musik; viel gespielt hatte ich noch nicht darauf, und besonders gut spielte ich sie auch nicht – ehrlich gesagt heute noch nicht. Ich nehm sie nur in die Hand, um „Losing My Religion“ zu spielen. mills: Die Plattenfirma benutzte das zum Aufwärmen für „Shiny Happy People“. Sie rechneten nicht damit, dass es ein Hit wird. stipe: „The One I Love“ warder Song, der uns im Radio etabliert hatte. Danach haben wir bewusst immer vor den Alben Singles rausgebracht, die für Radioleute eine echte Herausforderung waren. Der Gedanke war, die Türen weit aufzureißen, weil wir ja wussten, dass die Radioleute alles spielen, was wir machen und was die Plattenfirma ihnen hinschmeißt, weil sie es sechs Wochen vor dem Album hatten. So entwickelten wir einen regelrechten Fimmel, diese unglaublich seltsamen Songs zu veröffentlichen, die dann im Radio liefen, wodurch sich in unserer Vorstellung die Radiosender, die Formate öffnen und für die Grant Lee Buffalos dieser Welt zugänglich würden. Wir waren uneigennützig und gleichzeitig ein bisschen unverschämt. Ich meine, „Losing My Religion“? Es gibt keinen Refrain, keine Gitarre, es ist fünf Minuten lang und ein elendes Mandolinenlied. Was für eine Art von Popsong soll das denn sein?

MILLS: Musikalisch ist es sehr geradlining, aber der Song hat etwas Befriedigendes, wie sich der Klang der Mandoline mit den Akkorden verbindet, das ansprechende, beschwörende Wesen des Textes – und ein fabelhaftes Video. Ich muss zugeben, dass ich kein großer Fan von Videos bin, aber das Video zu diesem Song hat etwas, was ihn zum Erfolg werden ließ. Wenn alles so zusammenkommt, ist das ein ziemlicher Glücksfall, aber Gott sei Dank. Ich weiß nicht mal, ob so ein Song heute als Single erscheinen könnte, ob er überhaupt in die engere Auswahl käme. Es passierte eben zur richtigen Zeit am richtigen Ort… STIPE: Es wurde behauptet, ich hätte den Tanz in dem Video zu „Losing My Religion“ von David Byrne in „Once In A Lifetime“ geklaut. Das ist aber nicht wahr. In Wirklichkeit hab ich ihn von Sinead O’Connor gestohlen. Der Regisseur des Videos hatte eine sehr klare Vorstellung, wie es werden sollte. Meine Darstellung beruhte auf großen Anleihen bei Bollywood, russischen Plakaten des Konstruktivismus und so weiter der Regisseur hat seine Vorlieben sehr klar und deutlich gezeigt. Er wollte, dass meine Darbietung total Bollywood-mäßig ist, wie ich da vor der Kamera sitze wie Kleopatra auf dem Ruhesofa, die Beine verschränkt und Blumen um mich rum, und dann diese verzerrte Drehung mache und meine Zeile vortrage. An diesen ganzen Posen hat er einen guten halben Tag lang mit mir gearbeitet. Und dann, nach einem halben Tag, kam er daher und sagte: „Mir ist richtig schlecht.“ Ist aufs Klo gegangen und hat sich die Gedärme rausgekotzt. Und kam zurück und sagte: „Ich weiß nicht, was wir tun sollen.“ Er hatte sein Budget, all die Schauspieler, dieses unheimlich teure Set, und es haute nicht hin. Ich gab alles, was ich geben konnte, aber es wurde nichts. Also sagte ich: „Schalt die Kamera an und lass mich einfach machen, lass mich meinen Text so singen, wie ich ihn singen möchte.“ Ich hatte keinen MikroStänder- also musste ich was mit meinen Händen machen. Und da dachte ich an „Last Day Of Our Acquaintance“ von Sinead O‘ Connor – was sie in dem Video zeigte, war verdammt schön. Also machte ich meine Version von Sinead. Und es hat funktioniert.

buck: Wir beschlossen, mit out OF time nicht auf Tour zu gehen, obwohl wir davon ausgehen mussten, damit unsere Karriere restlos zu ruinieren. Es gab eine große Versammlung, und wir berieten, ob wir unsere Gehälter kürzen und auf Versicherungen zurückgreifen müssen, wenn wir nicht touren. Und dann verkaufte sich das Album nach dem Erfolg von „Losing My Religion“ zehn Millionen Mal. Da dachten wir. was soll’s. Aber im Grunde war ich darauf vorbereitet, dass es andersrum läuft. Meine Einstellung war: Wenn wir so, wie wir sind, keinen Erfolg haben können, dann will ich einfach nicht erfolgreich sein. Für einen Fan gibt es nichts Schlimmeres, als wenn eine Band, die absolut einzigartig ist, alles hinwirft, nur um einen Hit zu haben. Denn wenn du erst einmal das aufgibst, was du bist… na ja, wofür gibst du es denn auf? Geld? Hey, ich habe eine Mittelklasse-Einstellung zum Geld. Ich kann jederzeit arbeiten oder so was. Aber seine Seele zu verkaufen – oder erst die Seele und dann aber keine Platten zu verkaufen, stell dir mal vor, wie erbärmlich das wäre. Ich kenne Leute, denen das passiert ist, und die fragen sich jetzt: Was hab ich mir dabei nur gedacht?