Duell im Digi-Tal


Süßer die Kassen-Glocken nie klingen, als in dieser Weihnachtszeit. Die Elektronik-Gi- ganten Philips und Sony wollen ihre neuen digitalen Kisten an den Christbäumen bau- meln sehen. Digitale Cassette oder bespiel- bare Mini-CD - wer bringt Licht ins Digi- Tal? ME/Sounds-Experte Volker Schnurr- busch meint: Alles eine Sache des Formats.

Auf der Kölner Musikmesse „POP KOMM.“ gehörte sie zu den nutzlosesten Werbe-Geschenken in den Presseunterlagen: Eine scheinbar unscheinbare, etwas andere Musicassette mit den neuesten Hits einer großen Plattenfirma. Nutzlos, denn jeder Versuch, das Präsent in den mitgeführten Walkman zu schieben, mußte scheitern. Nicht die handelsübliche Compactcassette war’s, sondern ihre brandneue digitale Variante, die DCC (Digital Compact Cassette). Bei näherem Hinsehen fallen auch die äußerlichen Unterschiede auf: Die DCC steckt nicht in einer Schachtel mit Klappdeckel, sondern in einem dunkelgrauen Schuber; das Band selbst ist geschützt hinter einem Metallschieber verborgen; die Löcher für die Wickeldorne gehen nicht durch die Cassette hindurch, denn sie muß niemals umgedreht werden. Digital und mit einem Metall-Schieber — das sind auch die beiden einzigen Gemeinsamkeiten mit dem Hoffnungs-Träger von Konkurrent Sony: die bespielbare Compact Disc, kurz MD (Mini Disc) genannt.

In diesem Monat, hier hat Philips die Nase vorn, steht die bespielte DCC erstmals bei etwa 300 ausgewählten Plattenläden im Regal und wartet darauf, von Technik-Pionieren entdeckt zu werden, die schon immer das neueste Equipment ihr eigen nennen müssen. Billig werden die neuen digitalen Freuden nicht, denn die DCC erfordert auch den Kauf eines entsprechenden Gerätes. Ähnlich wie bei der Einführung der CD vor gut zehn Jahren kostet der Eintritt in das digitale Band-Zeitalter mindestens 1.000 Mark. DCC-Entwickler Philips bringt für das Weihnachtsgeschäft drei Cassetten-Decks auf den Markt, die sieh vor allem im Bedienkomfort unterscheiden. Der Preis für das Spitzenmodell liegt bei 1.400 Mark.

Dafür erhält der Käufer ein Gerät, dessen Besonderheit in seinem Tonkopf liegt. Nicht weniger als 20 Spuren kann diese Neuentwicklung erfassen. Je neun sind für die digitale Wiedergabe und Aufnahme bestimmt. Die restlichen zwei dienen der analogen Wiedergabe. Letzteres soll nach Vorstellung der Entwickler auch das Erfolgsrezept von DCC sein: Auch wenn das alte Cassetten-Deck ausgemustert wird, lassen sich die liebgewonnenen Bänder auf dem neuen Gerät abspielen. Nur wenn analoge Cassetten neu bespielt werden sollen, streikt DCC.

Mit der Verwendbarkeit des alten Format«: im Firhchinesisch „Rückwartsknmpahilitär genannt — wetzt DCC die Scharte aus. die DAT (Digital Audio Tape) immer anhaftete. Inzwischen werden einfache DAT-Decks zwar für knapp 600- Mark angeboten, doch hiermit ist die Untergrenze erreicht. DCC wird dagegen schon bei der zweiten Gerätegeneration mit Kunststofflaufwerken auskommen Das bedeutet einen deutlichen Preisrückgang schon in absehbarer Zeit. Im Handel spricht man von zehn bis zwanzig Prozent innerhalb des ersten Jahres.

Nur Feinhörige können die Unterschiede zwischen den beiden digitalen Cassetten-Formaten herausfiltern. Puristen werden sich an der Tatsache stören, daß DCC nur mit Hilfe eines technischen Tricks zu einem zufriedenstellenden Ergebnis kommt: Die Entwickler haben schlicht alle Signale ausgefiltert, die außerhalb des menschlichen Hörvermögens liegen. Es bleibt den Akustik-Philosophen überlassen, hier eventuelle Unterschiede in der Klang-Atmosphäre zu ermitteln.

Einen wesentlichen Nachteil hat dieses, „Datenreduktion“ genanntes, Verfahren jedoch auch für den Laien: Sie verbraucht reichlich Strom und könnte, damit dem mobilen Einsatz von DCC Grenzen setzen. Es bleibt abzuwarten, ob der für Frühjahr 1993 geplante DCC-Walkman nur mit einer Großpackung Batterien oder pfundschwerem Akku betrieben werden kann.

DCC ist für Hauptentwickler Philips nicht nur ein neuer Absatzzweig in der Unterhaltungselektronik, sondern der Hoffnungsträger der nächsten Jahre. Deutschland-Chef Dieter Oehms beziffert den Bestand an herkömmlichen Cassetten-Recordern in deutschen Haushalten auf 80 Millionen Stück. Die Cassette hat sich in den 30 Jahren ihres Bestehens als weltweit beliebtester Tonträger etabliert. Doch die neuesten Statistiken zeigen eine fallende Tendenz an. Philips hofft nun, der in die Jahre gekommenen Cassette mit der Digitalisierung neue Attraktivität zu verleihen und innerhalb von fünf Jahren den Generationenwechsel im HiFi-Rack zu vollziehen. 65 Millionen DCC-Geräte pro Jahr sollen dann weltweit die alten Decks, Radio-Recorder und Walkmen ersetzen. ¿

Ehrgeizige Ziele, wenn man die schwere Geburt dieses Formats berücksichtigt. Angekündigt wurde DCC bereits auf der letztjährigen Funkausstellung in Berlin. Damals wurden für das Frühjahr 1992 die ersten Seriengeräte versprochen. Durch Probleme bei der Band- und Tonkopfproduktion konnte DCC erst in diesen Wochen auf der Photokina Serien-Premiere feiern. So werden zunächst auch nur maximal 10.000 DCC-Decks in den (ausgewählten) Handel kommen, in Europa werden sonst nur noch Verkaufsstellen in Großbritannien, Frankreich und den Niederlanden bedient.

Die mehrfache Verschiebung des

Die Plattenkonzerne setzen voll auf die DCC, schielen …

Starttermins hatte für Philips — und für den Konsumenten — fatale Folgen. Der Weihnachtsmann hat nun die Qual der Wahl, denn DCC kommt nicht allein. Im Bestreben, der CD ein bespielbares Pendant zur Seite zu stellen, setzt Sony, charmanterweise ehemals Philips‘ Partner bei der CD-Entwicklung, auf ein völlig neues Format: Mini Disc (MD). Während die Holländer die Digitalisierung der Musicassette im Blick haben und dabei auf den Ersatz von Millionen alter Geräte schielen, steht für die Japaner einmal mehr die Miniarurisierung und Mobilisierung im Vordergrund: Die CD soll auch am Strand und im Auto für digitalen Hörgenuß sorgen — und bis zu eine Million mal ohne jeden Qualitätsverlust überspielbar sein.

Auf einer nur 6,4 Zentimeter durchmessenden Scheibe (zum Vergleich: die CD hat 12 cm) haben bis zu 74 Minuten Musik in Platz. Auch MD benutzt ein System zur Datenreduktion, auch hier ist angeblich mit bloßem Ohr kein Unterschied zur CD auszumachen.

Die kleinen Silberlinge kommen in einem Plastik-Gehäuse daher, die ihnen das Aussehen einer Computer-Diskette verleihen. Die eigentliche Scheibe ist durch einen Stahlschieber geschützt; zusätzlich erhält die MD eine Plastikschachtel, die etwas größer ist als die von Musicassetten — zu groß für

…aber schon in die wahre minidigitale Umsatz-Zukunft

Cassetten-Aufbewahrungssysteme im Handel und zuhause.

Sony stellte auf der Photokina zwei Geräte vor, die im Dezember in den Handel kommen sollen: einen reinen MD-Player für ca. 750 Mark und einen vollwertigen Recorder für unter 1.000 Mark. Die Abmessungen des Players entsprechen etwa denen eines Walkmans. Auch hier ist, wie bei den DCC-Minis, die Frage nach dem Energieverbrauch unbeantwortet, ebenso die Frage, ob ein MD-Walkman mit Aufnahme-Möglichkeit technisch umsetzbar ist.

DCC und MD — zwei neue Kombattanten auf dem Schlachtfeld der Systeme? Die Fachöffentlichkeit hat nichts ausgelassen, um dieses Bild zu zeichnen. Zu verlockend ist die Versuchung, nach dem Video-Dreikampf und der DAT-Diskussion, nach D2Mac und Super-Pal. nach Hi8 und C-VHS, nach CD-Single und Maxi-CD einen weiteren Glaubenskrieg auszurufen.

Tatsächlich sind die Lager gespalten. Dabei scheint Sony allein auf weiter Flur zu sein. Philips hat sich frühzeitig der Unterstützung des mächtigen Sony-Gegenspielers Matsushita (Hardware: Panasonic. Technics, Software: MCA, Geffen) versichert. Alle multinationalen Schallplattenkonzerne stehen hinter DCC, während MD zur Zeit in Sachen bespielter Tonträger nur von Sony Music unterstützt wird.

Ein nicht zu unterschätzender Vorteil ist die Verfügbarkeit von bespielter Software — auch wenn der Produktnutzen vor allem in der Bespielbarkeil des Tonträgers begründet liegt. Mindestens 500 Titel – von Claudio Abbado über The Cure bis Bon Jovi und Vaya con Dios — sollen den digitalen Cassetten auf die Sprünge helfen, während Aufnahmen von Mariah Carey, Michael Bolton, den Stones und Springsteen zu den 300 Titeln gehören, die auf Mini Disc erscheinen. Für beide Formate gilt ein Verkaufspreis auf CD-Niveau, für leere Tonträger werden 12 bis 15 Mark verlangt.

Da sowohl Philips als auch Sony über Hard- und Software-Divisionen verfügen, spannen sie ihre besten Pferde vor den Karren. Wie schon für die CD müssen die Dire Straits auch für die DCC-Werbung herhalten (noch siehe Kasten); um jüngere Käuferschichten anzusprechen, wurden U2 als DCC-Propheten verpflichtet; im MD-Lager prangt Sony-Superstar Michael Jackson von jedem Prospekt.

Warum nimmt die Schallplattenindustrie so eindeutig Partei für die DCC? Thomas Stein, Geschäftsführer der BMG Ariola und Vorsitzender des Phono-Verbandes, nennt die Gründe:

„Die Industrie will den Verbraucher nicht mit einer Vielzahl von Formaten verunsichern. Wir halten die DCC für die ideale Ergänzung zur CD. Was uns bei der Mini-Disc Sorgen bereitet, ist der fehlende Kopierschutz. Der Schaden, der der Industrie und den Künstlern bereits jetzt durch illegale Vennelfältigung entsteht, ist zu groß, um in diesem Punkt nachsichtig zu sein.“

Wea-Geschäftsführer Gerd Gebhardt bläst in dasselbe Hom: „Für uns ist das eine logische Entwicklung: Die LP verschwindet, und die Musicassette wird bald denselben Weg antreten. Die DCC ist ihr Nachfolger. Daher haben wir uns zu einer gemeinsamen Marketing-Kampagne entschlossen. „

In puncto Kopierschutz hat die MD tatsachlich schlechte Karten: DCC verwendet das bei DAT bewährte SCMS (Serial Copy Management System), das nur eine einzige digitale Kopie erlaubt. Sony hält sich in dieser Frage noch bedeckt — womöglich aber nur deshalb, weil bis September die Aufnahme-Funktion der MD-Geräte noch nicht demonstriert werden konnte.

Die Vorbehalte der Schallplattenindustrie sind allerdings wesentlich tiefer begründet: Die DCC ersetzt einen weit verbreiteten alten Tonträger und verspricht Neugeschäft auf hohem Preisniveau. Die MD stellt dagegen langfristig eine Konkurrenz zur CD dar. Sie vereint alle Eigenschaften, die die CD zu einem Erfolg gemacht hat, mit zwei neuen überzeugenden Features: Bespielbarkeit und Mobilität. Spätestens wenn die MD-Recorder denselben Preisverfall erleben wie die CD-Player, gibt es für den Normalverbraucher keinen Grund mehr, das antiquierte Medium Tonband — in welcher Form auch immer — zu benutzen. Die Entwicklung in der Computer-Industrie hat bereits den Weg gewiesen: Das Magnetband ist durch Mikro-Chips und optische Datenspeicher überflügelt worden; die Lasertechnologie wird es bald ermöglichen, von einer CD/MD die doppelte und dreifache Daten-, sprich: Musikmenge abzutasten. Mini Discs sind als universelle Datenträger einsetzbar: für Camcorder, Computer und die HiFi-Anlage — der digitalen Verbindung von Ton und Bild auch im Heimbereich steht nichts mehr im Wege.

Die Produktvorteile der CD/MD — hohe Tonqualität, verschleißfreie Abtastung, direkter Titelzugriff und robuste Oberfläche — sind dem Band in jeder Hinsicht überlegen. Der Alptraum vom Bandsalat begleitet jeden Benutzer von Cassetten. Auch eine digitale Cassette muß hinund hergespult werden, um ein Musikstück zu finden — ein echter Nachteil für verwöhnte CD-User. Es wird nicht schwerfallen, die Commodore-Generation, die ihre Cassetten-Spieler gegen Disketten eintauschte, von den Vorteilen der MD zu überzeugen. Gerade in diesem Zusammenhang kommen aus dem Kreis der Plattenhändler Zweifel auf. ob sich der Handel überhaupt einen neuen Tonträger in den Laden stellen soll. „Die Erfolgszahlen von Ninlendo oder Sega sprechen eine deutliche Sprache“, orakelte ein Händler im Branchenblatt „Der Musikmarkt“. Jeder Fachhändler sollte sich darüber Gedanken machen, ob drei Quadratmeter Verkaufsflüche für Nintendo-Spiele nicht mehr Rendite bringen als MD oder DCC. „

Dazu kommt das Image-Gefälle zwischen Scheibe und Spule. Besonders in den „entwickelten“ Hi-Tech-Märkten Japan und Deutschland war die bespielte Cassette im Kernmarkt der Musikkäufer immer unterbelichtet. Wichtig ist sie im Niedrigpreis-Bereich (Volksmusik-, Tanzmusik-, Schlager-Kopplungen) und im Kinderzimmer. Der typische, regelmäßige und für die Industrie interessante Konsument von Klassik, Jazz, Pop und Rock entscheidet sich für die Scheibe, früher schwarz, jetzt silbern.

Demnach wird es auch nicht zu einem echten Wettkampf der Systeme kommen, sondern vielmehr zu einer parallelen Entwicklung. Die DCC zielt auf den Heimbereich und wird — bei raschem Preisverfall — den Ersatzbedarf an neuen Cassetten-Decks befriedigen; die MD wird im Mobilbereich alle CD-Fans glücklich machen und ihnen eine Ahnung dessen vermitteln, wie die kleinen Silberlinge die Zukunft der Unterhaltungs-Elektronik verändern werden.

Abgesehen von allen technischen und wirtschaftlichen Aspekten sollte ein Faktor nicht unterschätzt werden: Die Käufer könnten eines der beiden Formate schlichtweg „geiler“ als das andere finden. Daß dabei Sony eher den Finger am Puls hat, zeigte die Weltpremiere auf der Photokina. DCC fand zwar in „wom“ einen innovativen Handelspartner, Sony setzte dagegen auf das Gesamterlebnis MiniDisc: In einer New Yorker Streetlife-Kulisse warb der neue Tonträger gemeinsam mit vier Giganten des Jugendmarktes: Coke und Camel, Nike und Mc Donalds.