ES WAR EINE SELTSAME ZEIT. KRIST NOVOSELIC


30. August 1992, Reading-Festival, Backstage-Bar. Es ist eine gefühlte Ewigkeit, die wir schon auf Kurt Cobain warten. Vor Nirvanas Auftritt als Headliner soll er noch ein TV-Interview absolvieren, doch während wir warten, wuchern Spekulationen, ob sich die Band überhaupt auf dem Festivalgelände befindet. Gerüchte machen die Runde, dass Nirvana kurz vor dem Split stünden und gar nicht auftreten würden.

Irgendwann kreuzt dann Krist Novoselic auf, führt für Cobain das Interview und lässt alle Gerüchte verstummen: Keine Frage – Nirvana sind noch zusammen. Auf die Frage, wie denn das Nachfolge-Album von NEVERMIND ausfallen werde, zögert er ein paar Sekunden. „Es wird unser Befreiungsschlag werden“, sagt er dann.

Genau 21 Jahre nach diesem Gespräch habe ich ihn am Telefon: Novoselic sitzt zu Hause in Deep River/Washington, um ein weiteres Mal über Nirvanas letztes Album zu sprechen – diesmal mit der Abgeklärtheit, die der zeitliche Abstand mit sich bringt.

Was fällt dir ein, wenn du an IN UTERO denkst?

KRIST NOVOSELIC: Einige Songs stammten noch aus der Zeit vor NEVERMIND. Im Proberaum schlug Kurt eigentlich immer ein Riff vor, das dann als Ausgangspunkt für das Arrangement und die weitere Bearbeitung diente – wir jammten einfach so lange, bis sich die Nummer herausgeschält hatte. Damals war in unserem Leben die Hölle los – und wir empfanden es als Erleichterung, ins Studio gehen zu können, um uns auf die Musik zu konzentrieren.

Spielte Musik nur noch die zweite Geige?

Absolut. Wenn ich mich an die Zeit von NEVERMIND bis zu Kurts Tod erinnere Es waren nur zweieinhalb Jahre, doch die waren so intensiv, dass sie mir heute wie 15 vorkommen. Es war eine seltsame Zeit.

Was war der Plan für die Platte?

Sie sollte in jedem Fall roher ausfallen. Als wir uns entschlossen, mit Steve Albini zu arbeiten, wussten wir, dass wir einen kruderen Indie-Sound bekommen würden. Wobei eine Menge der Songs schon von Natur aus heavy waren.

Du sagtest einmal, dass dich die Arbeit im „Pachyderm Studio“ in Minnesota an einen Gulag erinnert habe. War die Bezeichnung im Rückblick ein wenig übertrieben?

War sie – obwohl die eigentliche Arbeit mich tatsächlich an einen Gulag erinnerte. Das Studio ist total in der Pampa, in Cannon Falls, einer sehr ländlichen Gegend Minnesotas. Es war kalt, es hatte geschneit und wir waren völlig isoliert – das wollte ich mit „Gulag“ ausgedrückt haben.

Kurt äußerte sich damals recht kritisch zu NEVERMIND, du auch. Wie siehst du es heute?

NEVERMIND? Es ist fantastisch! Wenn ich das Album heute höre, klingt es wirklich erstaunlich gut. Damals passierte halt so viel, dass man nicht mehr den Wald vor Bäumen sah. Wir waren gesellschaftliche Outsider, die plötzlich ins Rampenlicht gestoßen wurden – und daran musste man sich erst mal gewöhnen. Also schob man alle Probleme dem Album in die Schuhe: Die Platte klingt einfach zu gut! Ich habe 20 Jahre gebraucht, um zu kapieren, wie großartig das Album war – und noch immer ist.

Auf der neuen Version von IN UTERO gibt es sechs zusätzliche Demos, u.a. „Scentless Apprentice“, das in Rio aufgenommen wurde.

Wir spielten einen Gig in São Paulo und hatten danach eine Woche frei. Es waren verrückte Tage, weil Alice In Chains und die Red Hot Chili Peppers auch in der Stadt waren. Unsere Plattenfirma dort besaß ein Studio mit einem ausgezeichneten Mischpult, also gingen wir einfach mal rein und hauten „Scentless Apprentice“ problemlos raus. Soweit ich weiß, kam dieser Track nie in Umlauf. Und er hat Kurts Vocals, was bei den anderen nicht der Fall war.

Was den Sound von IN UTERO betrifft, so gab es offensichtlich Differenzen über Steve Albinis Mixe. „Heart-Shaped Box“ und „All Apologies“ wurden daraufh in von Scott Litt neu abgemischt. Welche Version ziehst du vor?

Die von Scott. Was uns wieder zum Thema NEVERMIND und Abmischung zurückführt: Bevor Scott eingeschaltet wurde, gab es Mixe auf IN UTERO, bei denen sich Kurt und Steve geradezu in einen Wahn hineinsteigerten: Wie schaffe ich es, dass das Gitarrensolo wirklich abstoßend klingt? Ich fragte mehrfach: „Warum macht ihr das bloß?“ Es war wohl der Versuch, möglichst sperrig und unkommerziell zu klingen, aber es passte einfach nicht zu dem Song.

Wie war die Stimmung in der Band, als IN UTERO veröffentlicht wurde?

Es gab inzwischen so viele Psycho-Probleme, dass man das heute kaum noch aufdröseln oder gar in Worte kleiden kann. Wir waren doch eigentlich nur zusammen, um gemeinsam Musik zu machen, aber tatsächlich war’s für alle Beteiligten eine elende Zeit. Und wenn man sich vor Augen hält, wie dann alles zu Ende ging, muss man nicht mehr viel dazu sagen. Wir kamen (im Januar ’94 – Anm. d. A.) noch mal zusammen, um „You Know You’re Right“ aufzunehmen – was der Beweis war, dass wir sehr wohl noch miteinander spielen konnten, auch wenn in unserem Umfeld alles drunter und drüber ging. Aber eine schwierige Zeit war’s trotzdem.

Für die „In Utero“-Tour kam Pat Smear mit an Bord. Welchen Input brachte er in die Band?

Pat war locker und immer gut drauf. Wir spielten ja inzwischen richtig große Shows – und einen zusätzlichen Gitarristen zu haben, erwies sich dabei als hilfreich. Wir hatten auch noch eine Cellistin (Lori Goldston ) dabei – und plötzlich hatten wir fast so was wie eine richtige Show. Ich spielte sogar Akkordeon auf der Bühne!

Wobei das Wort „Show“ nicht unbedingt zu der Vorstellung passt, die man gemeinhin von der Band hat. Oder?

Ich glaube schon, dass es passte. Wir wuchsen langsam in die Rolle rein. Wir waren so lange die Frontschweine gewesen und hatten unser Ding wirklich drauf, wir konnten inzwischen richtig gut spielen. Die „Show“ war da einfach eine natürliche Entwicklung. Man sollte sich auch dran erinnern, dass die Auftritte ihre Spuren hinterließen: Kurt riss sich tagtäglich den Arsch auf.

Man bekommt einen Eindruck von der Show, wenn man sich den „Live And Loud“-Auftritt in Seattle anschaut, der mit zum IN UTERO-Paket gehört. Kannst du dich an den Gig noch erinnern?

Klar, es war auf dem Pier in Seattle – ein Heimspiel also. Mein Bruder war da, meine Mutter und andere Familienangehörige wohl auch. Oh ja, und Cypress Hill traten im Vorprogramm auf. Wir hingen die meiste Zeit mit ihnen ab – und wer die Jungs kennt, kann sich leicht vorstellen, wie das alles endete. Pearl Jam sollten eigentlich auch kommen, aber dann kam irgendwas dazwischen und wir mussten unsere Show etwas strecken. Ich schaue gerade auf meine Hand und die Narbe, die ich als Andenken von diesem Gig habe. Als ich meinen Bass zertrümmerte, bekam ich einen Splitter in die Hand. Blutete wie Sau. Davon abgesehen zogen wir unseren Gig durch – und nun kann sich auch die Nachwelt ein Bild davon machen.

1992 sagtest du, IN UTERO würde euer Befreiungsschlag werden.

Unser Befreiungsschlag? Ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern. Wovon sollten wir uns befreien? Ich vermute, wir wollten nur beweisen, dass wir noch immer eine Indie-Band waren. Wir wollten unsere Identität bewahren, waren aber nicht sicher, wie wir das anstellen sollten. Ein paar Jahre vorher hatten wir in Tacoma halt noch unter der Brücke gelebt. Wir waren Teil dieser Gegenkultur. Wir wuchsen mit Punk und all den anderen Subkulturen auf – bis dann plötzlich diese andere Sache in unser Leben trat. Ich denke, wir wollten versuchen, trotzdem nach unseren eigenen Gesetzen zu leben. Vielleicht war’s das, was ich damals ausdrücken wollte.

IN UTERO klingt manchmal wie eine Noise-Platte, hat aber auch einige der besten Songs, die man je von der Band hörte.

Ja, das Album ist eindeutig Kurt Cobains Vermächtnis und reflektiert all das, wofür er als Künstler stand. Allein die Art, wie er Songs schrieb, war so bezeichnend. Ich habe eine kleine Skulptur hier zu Hause, die er mal anfertigte – eine seltsame Kreatur, die auch diese bizarre, gequälte Eigenschaft hat. Wenn man sich IN UTERO anhört, glaubt man zunächst, ein Heavy-Rock-Album zu hören, aber gleichzeitig ist es auch eine seltsam verdrehte Platte, die sich jeder Einordnung entzieht. Und erstaunlich melodiös ist sie obendrein auch. Das war Kurt.

War es so was wie das Ende der Unschuld, als Kurt starb?

Absolut … Wir befanden uns alle in einem Zustand des völligen Schocks …

Gibt es denn etwas, das du – als Mensch oder Musiker – aus der Entstehungsgeschichte von IN UTERO mit auf den Weg genommen hast?

(Stille) Diese Phase … was hat sie mir gegeben? Hmm. Persönlich habe ich vielleicht daraus gelernt, dass es keinen Grund gibt, immer mit dem Strom schwimmen zu wollen. Und musikalisch hab ich wohl endlich kapiert, wie man sich diese Grunge-Bass-Sache richtig draufschafft.

Fällt es dir schwer, auf die damalige Zeit zurückzublicken?

Klar. Aber andererseits ist sie auch ein elementarer Bestandteil meiner Identität. Ich empfinde es als Privileg, Teil dieser Zeit gewesen zu sein und mit Kurt und Dave arbeiten zu können. Es war eine Gnade und ist es noch immer. Aber vor allem bin ich stolz auf das, was wir geschaffen haben.

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