ESC 2025: Ein Sieg für die Klassik – und den Schwips

Der Wiener Countertenor JJ dreht Popmusik auf Mozart. „Baller“ aus Deutschland war nett, aber zu harmlos.


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„Meine wildest dreams sind true gekommen. Das gibts ja ned.“ Im Ausruf der Ergriffenheit bilanziert Gewinner Johannes „JJ“ Pietsch (24) den European Song Contest 2025 in Basel recht treffend. Ein wilder Kultur- und Spachmix aus der europäischen Neo-Schlagerküche. Die charmanten bis seltsamen Momente dominierten. Im Camp der Musiker und Musikerinnen kein Beißreflex gegen Israel wie im letzten Jahr. Das passierte draußen mit Wasserwerfern in der Stadt und bei der Farbattacke gegen Yuval Raphael. Die Hallen-Security konnte das Wurf-Duo vorher abfangen. Back to normal also? Eher Post Malmö.

„Die Liebe hat gewonnen“

JJ ist der Sieger des ESC 2025

ESC-Kompetenzcenter Thomas Hermanns wies bei der Pre- und Aftershow-Runde auf die weiterhin starke Queer-Präsenz im Parkour hin. Doch Sieger und Countertenor JJ aus Wien, dessen Opern-Pop eine stilistische Fortführung des 2024er-Tracks von Nemo ist, hat daraus keine politische Botschaft gemacht. „Die Liebe hat gewonnen. Lasst uns Liebe verbreiten, Leute. Vergesst den Hass – Liebe ist die stärkste Kraft“, diktierte er der heimischen „Kronen“-Zeitung. Die anstehende Gala zum 70sten ESC-Jubiläum will er zusammen mit Conchita (vormals Wurst) moderieren. Vorzugsweise in Wien: „Mein Boyfriend wohnt gleich bei der Stadthalle – da könnte ich einfach rüber spazieren“, so sein unaufgeregter Wunsch. Eine bleischwere „Lösung“ des Nahostkonflikts durch Ausschluss der israelischen Rundfunkanstalt verlangte im Kontext des Finalabends zumindest niemand. Doch das Thema wird bleiben.

So ist der Dachorganisation EBU sicherlich ein Stein vom Orga-Herzen gefallen, als JJ im „Herzschlagfinale“ der Publikumswertung Yuval Raphael mit ihrer Stadion-Ballade „New Day Will Rise“ kurz vor knapp noch von Platz Eins stupsen konnte. ESC 26 in Tel Aviv, das hätte die Verhältnisse zum Kochen gebracht. In Wien oder Salzburg ist das eher nicht zu befürchten.

Null Punkte beim Publikums-Voting für die Pop-Nation

Remember Monday beim ESC
Remember Monday beim ESC

Werfen wir also einen Blick auf die musikologischen Momente. Und da ist das nationale Kopfschütteln in Großbritannien noch größer als anderswo. „Wir haben David Bowie. Wir haben die Beatles. Wir haben Adele! Wie könnten wir nicht besser sein als all die Lieder, die wir Engländer beim Apres-Ski goutieren“, heißt aus Online-Plattform „i-press“. Die trutschige Darbietung des Frauentrios Remember Monday hatte etwas von Bingo-Halle 1986, passend zum Look in abgestimmten Pastell-Kleidern. Die angestrebte „brat“-Haftigkeit wurde dabei weit unterflogen. „Es sollte respektlos und augenzwinkernd sein, kam aber verklemmt rüber. Glänzend und lächelnd, gleich sex- und seelenlos.“ Das internationale Publikums-Voting vergab Null Punkte für die Pop-Nation. Diese tröstet sich einmal mehr darüber hinweg, dass der ESC auf der Insel sowieso nicht sonderlich ernst genommen wird. Man konzentriere sich lieber auf den echten internationalen Musikmarkt; jenseits des Fernseh-Spektakels.

Nicht nur Diät-Baller

 

Abor & Tynna auf Platz 15 beim ESC

So lässig kann das natürlich der einstige TV-Titan Stefan Raab nicht sehen. Angetreten die bundesdeutschen „Zero-Points“-Schlappen vergangener Jahre vergessen zu machen, schickte er das Geschwisterpaar Abor & Tynna ins Rennen. Deren Song „Baller“, aufgeführt mit einem leuchtenden Zauber-Cello und Hüpf-Dance-Moves hat nun durchaus das Potenzial zu einem Party-Kracher. Doch im internationalen ESC-Urteil blieb der Track nur Mittelmaß (Platz 15). Eine Schippe mehr Wagnis und Wumms hätte hier keineswegs geschadet. Nicht nur Diät-Baller eben. Raab selbst wirkte bereits in der Vorab-Runde bei Barbara Schöneberger wie der grantelnde Ex-Fußballer Mario Basler. Nicht mehr seine Welt. 15 Jahre nach „seinem“ ESC-Sieg mit Lena und 25 Jahre nach „Wadde hadde dudde da?“ hat sich sein Midas Touch im Popgeschäft verbraucht. Was in der schnelllebigen Branche nicht weiter schlimm ist. Vielleicht sieht er das ja in den kommenden Tagen und Wochen ein.

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Gummibein-Tanz und Sauna-Song

Tommy Cash beim ESC
Tommy Cash beim ESC

Wie die Sache etwa mit Ironie läuft, könnte man bei Tommy Cash aus Estland und seinem Gummibein-Tanz zu „Espresso Macchiato“ sehen. Oder bei den gestürzten Favoriten Schweden-Favoriten KAJ, die in ihrem Sauna-Song „Bara Badu Bastu“ die Rhythmus-Struktur des finnischen Sechziger-Jahre-Modetanz Letkiss verarbeiteten, aber letztlich im Voting-Orbit nur auf Platz Vier landeten.

Es ist beruhigend, dass der ESC 2025 vorerst wieder auf den leicht beschwipsten Pfad der Stile und Moden zurückgefunden hat.

FABRICE COFFRINI AFP
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