Fünf für Europa


Engagement und Kompetenz machen das kleine, feine Label Double T Music zur gefragten Adresse für alternativen Pop-„im weitesten Sinne".

In direkter Nachbarschaft zu drei lustigen Einrichtungen – nämlich der Flugsicherung, dem deutschen Wetterdienst und dem Flüßchen Main – sitzen Double T Music zwar zentral, aber doch weit vom Schuß: In Offenbach nämlich, über dem die vom Frankfurter Flughafen aufsteigenden lumbos geräuschvoll Höhe gewinnen. „Es gibt nichts langweiligeres als Büromöbel“, sagt Helmut Rücker, als der Lärm abgeklungen ist. Bei den meisten Plattenfirmen regiert eine kühle Ästhetik aus edlen Sitzgamituren und modernem Design – der Managing Director von Double T Music dagegen empfängt seine Besucher zwischen hölzernen Antiquitäten. Helmut Rücker genießt es sichtlich, nach dreizehn Jahren beim Kölner Major EMI nun ein kleineres Boot nach ganz eigenen Vorstellungen zu steuern: „Auf zu langen Dienstwegen geht oft viel Kreativität verloren“, sagt er, und: „Hier bist du viel näher dran an Künstlern und Publikum.“ Ioannis Panagopoulos, bei Double T verantwortlich für A&R und nebenberuflich als DJ tätig, präzisiert die Vorstellungen seines Chefs: „Wir greifen gerne zu ungewöhnlichen Maßnahmen, um ein Produkt an den Start zu bringen“. Und örg Sauer, ebenfalls stadtbekannter DI und Promoter bei Double T, fügt ergänzend hinzu: „Im Gegensatz zu anderen Plattenfirmen stellen wir themenbezogene Teams zusammen, die zur Promotion alternative Wege beschreiten. Es geht darum, eine Basis zu schaffen, eine echte Fangemeinde“ – die Keimzelle eines riesigen Marktes, denn Double T Music ist ins Sony International Network integriert, was europaweile Veröffentlichungen von Bands wie Arid, Ozark Henry oder K’s Choice garantiert. K’s Choice war denn auch das erste Signing, nachdem die Belgier Turcksin und Theys das Label vor sieben lahren aus der Taufe hoben. Inzwischen gibt es Filialen in Holland, Belgien, England und Frankreich. „Wir setzen mehr auf alternativen Pop und Künstler, die auch wirklich live überzeugen können“, sagt Helmut Rücker, „Die meisten unserer Acts sind in ihren Heimatländern bereits Stars“. Neu aufzubauende Künstler, wie etwa die Hanauer Rocker Seesaw, werden vom Double T-Team beratend begleitet, vom Artwork des Tonträgers bis zur Videoproduktion. Bei allem Engagement aber beherzigt Helmut Rücker noch immer eine allgemein unterschätzte Weisheit: „Musik muß Spaß machen. Und berühren „

SEESAW In A Spiral 314 Seesaw aus dem hessischen Hanau ist das erste Signing von Double T Music Germany. das Brandzeichen „Newcomer“ ist hier dennoch nicht angebracht. Immerhin spielen drei der Jungs schon seit über sechs Jahren zusammen, bereits vor drei Jahren brachten sie ihr selbst produziertes Debüt auf den Markt – und verkauften davon über 2000 Stück. Kein Wunder, siedelt Seesaws alternativer Rock doch zwischen Nirvana, BuffaloTom und Bon Jovi. Und daß dabei das Produzententeam Galore die Finger im Spiel hatte, muß nicht das schlechteste Zeichen sein: Die Kameraden zeichnen auch für das letzte Album von The Notwist verantwortlich.

ARID Little Things Of Venom 4:31 Es ist kein Geheimnis, daß es ein Weilchen dauern kann, bis man an neue Musik „angedockt“ hat. Für Arid allerdings sollte man sich die Zeit nehmen -es lohnt. Das belgische Quartett trumpft nicht nur mit dem exorbitanten Falsett ihres Sängers Jasper Steverlinck aussondern setzt auch gerne mal über in klassische Gefilde: Die Streicher auf ihrem Debütalbum ließen sie sich vom Landsmann Ozark Henry arrangieren, produziert wurde es vom Briten Dave Anderson (Edwyn Collins).

KASHMIR Make It Grand 4:35 Wenige Begriffe beflügeln die Phantasie in ähnlicherweise wie“Kashmir“-ein sagenhaftes Fürstentum im Himalaya, edelster Zwirn und der sattsam bekannte Klassiker von Led Zeppelin. Die Dänen von Kashmir tun alles, um das Wort um eine weitere Assoziation zu bereichern. Sänger,Gitarrist und Keyboarder Kaspar Eistrup jedenfalls schätzt das Spiel der Gegensätze, von balladesker und brutaler, von spartanischer und opulenter Musik. Dieser emotionalen Berg- und Talfahrt lieh James Guthrie (Pink Floyd) seine Skills als Produzent, Skandinavien liegt Kashmir bereits zu Füßen. Und „Make It Grand“ belegt, daß es für musikalische Visionen noch lange nicht zu spät ist.

SUSIE VAN DER MEER

Gravity 4:20

Susie Van der Meer ist lässig und couragiert genug, mit „Gravity“ eine gelungene Skizze aus der laufenden Aufnahmesession vorzustellen. Es ist das erste Lebenszeichen der engagierten Norddeutschen, seit sie auf den „Meschugge“- und „Lola rennt“-Soundtracks vertreten war. Zusammen mit Bassist und Produzent Moses Schneider (u.a. Bodo In White Wooden Houses, Sun, Die Schröders) und Schlagzeuger Ben Lauber, der nebenbei für die Loops zuständig ist, arbeitet sie gegenwärtig am zweiten Album, das im Frühjahr 2000 erscheinen soll. Ihr eingängiger und doch spezieller Stil läßt sich an „Gravity“ schon erahnen -es soll schließlich später niemand sagen, er habe von nichts gewußt.

SUPER FURRY ANIMALS The Turning Tide 2:50 „Die Leute scheinen Angst zu haben, die Trampelpfade des Rock ’n‘ Roll zu verlassen“, räsoniert Gruff von den Super Furry Animals. Er muß es wissen, schließlich wurde seine Band wegen Alben wie „Fuzzy Logic“ und „Radiator“ in die Britpop-Ecke gedrängt-„obwohl wirviel lieber Techno hören!“ Die Liebe zur Technik hört man der aktuellen Platte „Guerrilla“ deutlich an. geblieben aber ist der Mut zu großem Songwriting.

TRASHMONK Girl I Used 2 Know 412

Mit 13 rannte er von zuhause weg, später wohnte er ein Weilchen bei Paul Simon, der ihm das Songwriting näherbrachte, arbeitete als Soundassistent für Led Zeppelin, The Who und Pink Floyd. Nun, da er lange genug reifte, legt Nick Laird-Clowes alias Trashmonk sein mehr als gelungenes Debütalbum vor. Ein Tagtraum zwischen Mercury Rev und Nick Drake: „Girl I Used 2 Know“ auf der CD im ME K’S CHOICE Freestyle 3:17 Mehr als 800.000 Exemplare ihres letzten Albums „Paradise In Me“ haben K’s Choice europaweit absetzen können. Ein Erfolg, auf dem sich die Geschwister Gert und Sarah Bettens keineswegs ausgeruht haben: Mit „Cocoon Crash“ setzen sie erneut ihre ganz eigene Duftmarke zwischen Alternative und Mainstream. Dabei überzeugt Sarahs rauchige Stimme ebenso wie die stilsichere Produktion von Gil Norton (Pixies, Foo Fighters). „Ich glaube nicht, daß wir dank Gil eine bessere Band geworden sind“, sagte Frau Bettens unmittelbar nach den Aufnahmen, „es klingt nur alles so viel besser als zuvor“. Wer’s nicht glaubt, möge sich „Freestyle“ zu Gemüte führen.

THE SILENCERS Receiving 4:25 Schon 1986 wurden The Silencers von Jimme O’Neill in London gegründet, gleich ihr erster Hit („Painted Moon“) chartete in Amerika und Europa. Während die französische Presse The Silencers für ihre gekonnte Melange aus Beatles, Velvet Underground und Popmusik der späten 6oer Jahre pries, wurden sie in ihrer Heimat teilweise als Verschnitt von U2 oder den Simple Minds gemieden. „In Großbritannien standen die Leute zu jener Zeit entweder auf Ultrapop ä la Stock, Aitken & Waterman oder auf Indie wir sind weder das eine noch das andere!“ resümiert O’Neill. Jahrelang setze die Gruppe daher auf die schweißtreibende Intensität ihre Live-Auftritte. Nun haben sie den intelligenten Richtungswechsel gewagt – und sind ihrer Intention, Spaß zu verbreiten, trotzdem treu geblieben.

THE ULTRA MONTANES Late 2:32 „Wir sind verrückt. Er ist professionell. Gemeinsam machten wir eine Platte“, sagt Sänger Rory O’Keefe mit der ihm eigenen Lakonie über den Produzenten Charlie Francis, der bereits R.E.M. und High Llamas den letzten Schliff verpaßte. Obwohl: Schliff hat der knappe Noisepop der Ultra Montanes sowieso, und mit dem nötigen Biß und gefeierten üveauftritten brachten sie den auch in Eigen regie unters Volk. „Late“ dagegen resultiert aus der Zusammenarbeit mit Francis und weist den Weg zu einem exotischeren, experimentelleren Klang. Wie sagte Rory? „Musik und Lyrics reichen nicht. Es kommt auch auf den Stil an.“ Wo er recht hat…

OZARK HENRY Inhaling 354 Ozark wie die Ozark Mountains in den USA, Henry wie die Hauptfigur in William S. Burroughs Roman Junkie“. Das sind die Parameter, aus denen sich der Namen dieses anspruchsvollen Projektes zusammensetzt. Und wenn dann noch Namen wie John Zorn, David Bowie oderTricky fallen (allesamt Vorbilder von Ozark Henry-Mastermind Piet Goddaer), dürfte klar sein, womit wir es hier zu tun haben: Belgiens Kommentar zum künstlerischen Fortschreiten des Pop. Dabei kann Piet Goddaer auf eine illustre Biographie zurückblicken. Bereits mit sechs Jahren lernt er Klavierspielen, bekommt mit 16 seine erste Gitarre und malt später Bilder, um vom Erlös sein erstes elektronisches Equipment an Land zu ziehen. „This Last Warm Solitude“ ist der vorläufige Höhepunkt einer Karriere, die Poesie und Vielschichtigkeit wieder zu ihrem Recht verhelfen will.

YULDUZ Dema (Don’t Say) 5:32 Wer in einem Land mit gerade mal 15 Millionen Einwohnern fünf Millionen Platten verkauft, darf sich wohl mit Fug und Recht Superstar nennen. Das Land heißt Usbekistan, der Supertar Yulduz Usmanova. Und wer die Dame auf dem Roskilde Festival oder auf WOMAD gesehen hat, weiß, worin der besondere Reiz ihrer Musik liegt: Eine altehrwürdige Folk-Tradition, mit so viel Charme interpretiert, daß auch ein westliches Publikum damit etwas anzufangen weiß. Auch ihr jüngstes Album „Yulduz“, aufgenommen in Amsterdam und Zentralasien, verbindet die Würde des Maqam (die usbekische Hofmusik) mit der Griffigkeit des Pop. Eine Mischung, die der Kosmopolitin nicht nur in ihrer Heimatstadt Taschkent Freunde machen wird.

TRINKWASSER Extra eben 3:56 Jörg Burger alias The Modernist alias Autobianci alias The Bionaut, Kölner Vorzeige-Elektroniker im Dienste streng strukturierter Beats, dieser Jörg Burger also schickt sich an, dem Genre ein wenig Seele zurückzugeben. In heiliger Allianz mit dem bildenden Künstler Lothar Hempel hat Burger Trinkwasser ins Leben gerufen. Ins „Extraleben“ sozusagen, wo rhytmische Muster auf gesungene Poesie treffen: „Zwischen den Bäumen ein blauer Tennisplatz, der erste Tag im Extraleben, uns wird es immer geben quer durch Raum und Zeit“, singt Hempel. 80er Popzitate Hand in Hand mit zeitgenössischer Elektronik-ein gewagtes Experiment.

THE MODERNIST Global Entertainment (Original) 506 Neues Label, neue Website (www.popular.org), undsogar beim Sound eilt Jörg Burger mit Siebenmeilenstiefeln voran. Zwischen Disco und Techno, zwischen Kraftwerk und Daft Punk siedelten schon seine früheren Würfe („Opportunity Knox“, sie Heft 4/99). „Global Entertainment“ vom kommenden Album „The Modernist Explosion“ verrät, daß der Modernisierer des House sein kompromißloses Konzept weiter in die Tiefe treibt. Warm, flächig und mit genügend Notausgängen zum Träumen „Architainment“ heißt ein weiterer Titel, der Burgers Vision auf den Punkt bringt: Strenge musikalische Architektur mit einem Höchstmaß an Entertainment für Bauch und Beine.

AUTOBIANCI Boy vs. Girl (Rough Cut) 3:35 Autobianchi ist nicht nur eine italienische Automarke mit Kultstatus, sondern auch ein brandneues Projekt, bestehend aus den beiden Sängerinnen Beryll und Aquamarine. Produziert von J. Burger und M.Flux präsentiert das Label hier nach Trinkwasser den nächsten Ansatz, klassische Pop-Schule mit moderner Elektronik zu verbinden. Rhythmisch und treibend wie zu erwarten war-aber auch zart und fast kinderliedhaft stellen sie das älteste Problem der Welt in ein elektronisches Spannungsfeld.

1 Seesaw In A Spiral 3:14 2 Arid Little Things Of Venom 4:31 3 Kashmir Make It Grand 4:35 4 Susie Van der Meer Gravity4:2O 5 Super Furry Animals TheTurningTide 2:50 6 Trashmonk Girl I Used 2 Know 4:12 7 K S Choice Freestyle 3:17 8 The Silencers Receiving 4:25 9 The Ultra Montanes Late 2:32 10 Ozark Henry inhaling 3:54 11 Yulduz Dema (Don’t Say) 5:32 12 Trinkwasser Extraleben 3:56 13 The Modernist Global Entertainment (Original) 5:06 14 Autobianci Boy vs. Girl (Rough Cut) 3:35