Genie Essen Seele


Peter Gabriel ist ein nobler Mensch, ein nimmermüder Workaholic im Einsatz für die gute Sache. Über all seine uneigennützigen Aktionen ist das Privatleben allerdings etwas aus den Fugen geraten. ME/Sounds-Mitarbeiter Hendrik Bebber traf in Bath einen Intellektuellen, der sich zwischen Frau und Freundin emotional aufreibt.

Seine Privat-Adresse hat Peter Gabriel in einem seiner frühen Hits verewigt: „Solisbury Hill“. Von seinem grandiosen Herrenhaus blickt er auf die Täler um den Solisbury-Tafelberg in der Grafschaft Avon, reinstes Bilderbuch-England. Glückliche Kühe und Schafe mampfen im endlosen Grün zwischen Swainswick und Tadwick. Wenn in dieser Idylle ein pensionierter Kolonialoberst sein schmuckes „Cottage“ liegend, mit den Füßen voran, verläßt, herrscht bei Londoner Imobilienmaklern Großalarm: Medienvolk und Börsen-Jobber der Hauptstadt zahlen fast jeden Preis, um sich den Londoner Goldstaub in der intakten, freien Natur aus den Nadelstreifenanzügen klopfen zu können. Wem das ruhige Landleben zuviel wird, rollt kurz über die Hügel nach Bath, das je nach Geschmack als die eleganteste Stadt oder das größte Mausoleum Englands gilt.

Die Gabriels gehören mittlerweile zu den Alteingesessenen. Die zwei Teenie-Töchter Anna (14) und Melanie (12) sind hier aufgewachsen und nehmen ihre besten Freundinnen selbst in den Urlaub mit. Peter Gabriel bemüht sich sehr bei seinem ¿unruhigen Job. den Kindern eine stabile Umgebung zu schaffen. So setzt er sich im Gemeindesaal auch einmal ans Piano und klimpert Volksweisen für eine Wohltätigkeitsveranstaltungoder brennt das Feuerwerk bei der „Guy-Fawkes“-Feier ab. Aber im Augenblick schwoft seine Frau Jill alleine bei den örtlichen Scheunentänzen. Wie schon einige Male in den letzten Jahren, denken die beiden über ihre Zukunft nach. Um den nötigen Abstand zu gewinnen, verbrachte Peter seinen Urlaub zusammen mit seiner Geliebten, der bekannten US-Schauspielerin Rosanna Arquette in Hawaii und Peters Frau Jill am anderen Ende des Pazifik, in Tahiti.

Im Oktober 1987 hatte sich Peter Gabriel wieder (wie schon früher) von seiner Frau Jill getrennt und traf sich wieder mit Rosanna, die ihren Mann, den Gitarristen. Platten-Produzenten und Film-Soundtrack-Komponisten James Newton-Howard verlassen hatte.

Die Turbulenzen in Gabriels Privatleben haben schon fast Tradition.

Trotzdem hebt er seine Frau Jill und seine beiden Töchter, so daß seine Liebe zu Rosanna Arquette beinahe unlösbare private Konflikte geschaffen hat. Tatsächlich schlief Gabriel zum Beispiel nach der Trennung von Jill auf dem Fußboden des Büros in seinem „Real World Studio“ in Box bei Bath. und beabsichtigte in der Gegend um Bath ein neues Haus zu finden. Vor allem aus Rücksicht auf seine beiden Töchter, die er abgöttisch liebt, hat er dieses Vorhaben bis heute nicht verwirklicht.

Die Irrungen und Wirrungen ihrer Beziehung kann Jill Gabriel wenigstens in ihren Job einbringen: Die Tochter eines hohen Hofbeamten der Königin arbeitet ehrenamtlich als Eheberaterin in einer caritativen Einrichtung.

Peter Gabriel hat jetzt wenig Zeit, um über seine privaten Beziehungen zu grübeln. In seinem Zwei-Millionen-Pfund-Studio in der alten Textilmühle in Box, feilt er an dem Sound für die zweite Welttournee in diesem Jahr. Die Proben finden im Hangar eines nahen Feldflughafens statt. Die Unabhängigkeit vom Londoner Musikbetrieb ist ein weiterer Grund neben der noch einigermaßen intakten Natur, warum Peter Gabriel so sehr an dieser Gegend hängt. Aber der herbstliche Nieselregen bleibt ihm diesmal erspart. Mit Bruce Springsteen. Sting und Tracey Chapman erinnert er für „Amnesty International“ zwischen Toronto und Turin, Buenos Aires und Budapest an den 20. Jahrestag der Erklärung der Menschenrechte. Sind solche Benefizkonzerte nicht eher ein Egotrip von Super-Stars, Wohltätigkeits-Alibi von Multi-Millionären oder glauben Rockmusiker damit auch der Sache zu dienen?

„Ich finde es gut. daß Leute aus dem Unterhaltungsgeschäft seil „Band Aid“ wieder ihr soziales Gewissen entdecken. Künstler sind ja ihrer Natur nach sehr auf sich selbst bezogen. Auf der anderen Seite haben sie eine kommunikative Wirkung und können soziales Bewußtsein erwecken. Man kann dabei wohl selten etwas direkt verändern, aber man bietet sich als Informationsquelle an. „

Für Peter Gabriel ist sein politisches und soziales Engagement aber auch ein persönlicher Reifeprozeß: .. Wenn man um die 20 ist, ist man mehr daran interessiert, seinen eigenen Platz in der Welt zu finden. Aber ich gehe jetzt auf die 40 zu und sehe vieles unter einem anderen Blickwinkel. Vielleicht hängt es damit zusammen, daß man sich um seine Kinder sorgt. Man wird nachdenklicher über die

Well, in der sie aufwachsen.“

Welche Chancen aber hat ein Rock-Konzert gegen die herrschende politische Meinung in einem Land? Konservative Parlamentabgeordnete verdammten die Übertragung des „Mandela“ Festivals, auf dem Gabriel mit“.Biko“ seine bewegende Anklage gegen die Apartheid sang:“.Miese Propaganda“. In Nicaragua traf Gabriel mit Präsident Ortega zusammen, der ihm von dem Druck der USA aufsein Land erzählte. Was kann die neue Tournee für die Menschenrechte bei den Auftritten in Philadelphia und Los Angeles anderes erreichen, außer ganz banal Geld für“.Amnesty International“ zusammenzuspielen?

Peter Gabriel ist da optimistischer:

„Die LSA sintl teilweise sehr isoliert von dem, was in der Welt vor sich geht.“.Amnesty International“ hat dort lange nicht die Bedeutung, die sie in Europa hm. Es wäre gut. wenn die Amerikaner mehr wüßten, was in anderen Teilen der Well läuft. Wenn in dieser mächtigen Nation das öffentliche Bewußtsein für politische Gefangene. Folter und Verletzung der Menschenrechte stärker wäre, so hätte dies gewiß einen Einfluß auf totalitäre Regimes, die von den L SA gestützt werden. Ein ermutigendes Beispiel ist“.Sun Ciiv“, wo Rockmusiker gegen die Apartheid demonstrierten. Präsident Reagan sah sich :u einer neuen Haltung gezwungen und verhängte wirtschaftliche Sanktionen gegen Südafrika. So können Musiker durchaus eine Kettenreaktion in Gang setzen, die — zusammen mit anderen Faktoren — einen Wandel bewirken.“

Sein Engagement für „Amnesty International“ ist die zweite Mission, die Peter Gabriel in seiner künstlerischen Laufbahn erfüllt. „Fourth World Music“, die „Musik der vierten Welt“, ist ein Begriff, den der kanadische Komponist John Hassel geprägt hat. Er versteht darunter die Fusion des Primitiven und des Futuristischen. Sie vereinigt Elemente aus den traditionellen ethnischen Musikstilen der Welt mit der heutigen Technologie. Peter Gabriel wurde zum führenden Vertreter dieser Richtung, der die „New York Times“ schon vor acht Jahren die Zukunft der Rock-Musik prophezeite. Nach seiner Trennung von „Genesis“ hat Gabriel gleichermaßen erfolgreich mit synthetischer Computer-Musik experimentiert und Brücken zwischen westlichen Rock-Musikern und Musikern aus der dritten Welt geschlagen. Er begründete die ersten der “ Womad Festivals“, bei denen Kora-Spieler aus Senegal und Gambia, pakistanische Instrumentalisten. karibische. indonesische und nordafrikanische Solisten und Gruppen mit Englands Rock-Elite zusammentraten.

In seinem Studio kommt es oft genug zu seltsamen musikalischen Begegnungen. Bei meinem ersten Besuch fütterte Gabriel gerade einen Fairlight-Computer mit Baustellen-Lärm, der ihn zu ungewöhnlichen Klängen und Rhythmen verdaute. Neben dem mit modernster Elektronik vollgestopften Studio, trommeln sich afrikanische Perkussionisten die Seele aus dem Leib. Wie paßt dies alles zusammen? Die Wirkung seiner Musik beruht auf der Verbindung traditioneller Musikkulturen und moderner Technologie, die aber oft genug in den Texten als Bedrohung menschlicher Lebensformen angegriffen wird. Für Peter Gabriel besteht da kein Widerspruch:

„Mein Vater war Elektronik-Ingenieur und obwohl ich nicht sein Talent geerbt habe, fand ich diesen Bereich schon als Kind faszinierend. Es ist wichtig, daß man neue technologische Entwicklungen versieht und ihnen nicht hilflos und furchtvoll ausgeliefert ist. Seltsamerweise bin ich über die moderne Technik an die „primitive“ Musik herangekommen. Vor zwölf Jahren beschäftigte ich mich mit Rhytlvmtsmaschinen um nicht mehr von den Ideen der Drummer abhängig zu sein. Wo aber bekomme ich diese Rhythmen her? Was ich in der abendländischen Musik und im Rock hörte, kannte ich schon. Durch Zufall verdrehte ich einmal die Skala am Radio und hörte auf einem holländischen Sender den Soundtrack zu einem afrikanischen Film. Ich gab diese Rhythmen in meine Maschine ein und war beseisien.“

Die Tränen in Peter Gabriels Augen stammen nicht von der Rührung über alte Zeiten, sondern von den Zwiebeln, die der strenge Vegetarier für den Gemüseeintopf schneidet. ¿

Was seinen musikalischen Appetit anbelangt, ist er hemmungslos: „Ich bin ein Dieb“, bekennt er geradeaus, „Ich glaube, daß es heute in der Musik wie in jeder anderen Kunstform nichts Ursprüngliches gibt. Jede künstlerische Schöpfung beruht auf Einflüssen oder schlicht gesagt: auf Diebstahl. Aber der Diebstahl, der in jeder Art von Kunst stattfindet, gibt ihr Vitalität und Stärke. Das bekannteste Beispiel ist wohl Picasso, der in den 20er Jahren Elemente der afrikanischen Plastik zum Kubismus verarbeitete. Der Musiker stiehlt von dem, was ihn am meisten reizt und das ist auch seine wirkliche Aufgabe. Ich begann als Schlagzeuger. Obwohl ich nicht besonders gut war, machte es mich empfänglich für verschiedene rhythmische Sprachen und das ist das wichtigste Element meiner Arbeit geworden. Die rhythmischen Grundmuster stammen häufig aus anderen Musikkulturen, denen ich begegnet bin und das hat meinen eigenen Stil ungeheuer befreit. „

Peter Gabriel war sich von Anfang an bewußt, daß solch „kreativer Diebstahl“ nicht zum Vorwand eines neuen „kulturellen Imperialismus“ dienen darf:

„Wenn weiße Musiker, die afrikanische Musik verwenden, dadurch immer reicher und bekannter werden und die schwarzen Musiker dafür immer ärmer, dann ist dies miese Ausbeutung.“

Er braucht sich da nichts vorwerfen. Die „Womad“-Festivals haben den Bekanntheitsgrad und den Verkauf von Platten afrikanischer Musiker stark gefördert. Während man noch vor einigen Jahren danach suchen mußte, gibt es in vielen britischen Plattenläden jetzt dafür schon eigen Regale. Youssou N’Dour, den Peter Gabriel in Senegal entdeckte, ist durch die gemeinsamen Auftritte zum internationalen Star geworden und gehört mit zu den Headlinern der Welt-Tournee für „Amnesty International“.

Bei jedem dieser Konzerte treten zudem Stars der nationalen Rock-Szene auf. Peter Gabriel hält die Dominanz der englischen Sprache in der internationalen Rock-Musik auch für eine Art „kulturellen Imperialismus“ und hat deshalb verschiedene LPs auch ins Deutsche übersetzt: „Ich freue mich, daß in der Bundesrepublik deutschsprachiger Rock einen gewissen Erfolg hat. Dort bin ich vielen Gruppen begegnet, die englisch sangen, um in Großbritannien oder in den USA auf den Markt zu kommen. Das ist verständlich, aber sie wirkten immer so distanziert zu dem was sie sangen. Es ist wichtig, daß man sich zunächst in seiner Muttersprache künstlerisch ausdrücken lernt. „

Für „Amnesty“ bricht Peter Gabriel auch sein Prinzip, nach einer Tournee eine lange Pause einzulegen und scheinbar nichts zu tun: „Um sich zu erneuern, sind zwei Dinge notwendig: Zeit zum Nachdenken und der Mut, auch einmal einen Fehlschlag zu tun. Wenn man sich nicht ab und zu aus der Rockmaschinerie zurückzieht und Dinge erforscht, die einen aufregen und interessieren, dann kann man kaum seine Batterien wieder aufladen. Ich habe soviele Rock-Zombies erlebt, die sich nur im Kreis zwischen Platten und Tourneen bewegen. Manchmal muß man einfach seine Routine töten um Platz für ein neues Leben zu gewinnen. Dann mache ich eine Pause und hoffe, daß mich meine Interessen zu einem neuen Ziel führen.“

Wenn Peter Gabriel in die Gummistiefel steigt und mit den zwei Neufundländern „Aslan“‚ und „Harry“ über die regennassen Wiesen stapft, kann man in ihm nur schlecht den Star erkennen, der jede Bewegung auf der Bühne genau mit Lichtregisseuren und Choreographen einstudiert hat. So sehr er die Einsamkeit in seinem abgeschotteten Tal liebt, so sehr braucht er „den nächtlichen Antwortschrei der Menge“ bei einem Konzert: „Ich bin wie jeder Musiker auf den „Great Groove“ aus. Ich brauche auch die A tmosphärc eines Live-Konzerts. Nach einer Tournee weiß ich ganz genau, wo die Spannung in meiner Musik liegt und wo es flache Stellen gibt. „

Der seit „SO“ vom konstanten Jubel der Kritik verwöhnte Star verhehlt nicht, wie sehr ihn Mißerfolge niedergeschlagen haben. Die Computer-Experimente auf früheren Alben fanden recht gemischte Aufnahmen. Auch sein großer Traum hat sich zerschlagen: mit Malern, Musikern, Filmemachern. Psychologen und Architekten hatte er die Pläne für einen „Erfahrungs-Park“ in der australischen Stadt Sydney entwickelt. Hier sollten die Besucher aktiv in neue Dimensionen sinnlicher Wahrnehmung geführt werden.

Doch das Projekt wurde schließlich abgelehnt. „Ich nehme Kritiken sehr ernst. In einer Zeitung stand mal, daß ich eine bessere Presse hätte, als die Königin-Mutter. Aber eine schlechte Kritik wirkt auf mich mein; a/s zehn gute. Auch wenn ich mitüerweilen nur Sachen mache, von denen ich selbst überzeugt bin und es mir scheinbar nichts ausmacht, ob es anderen Leuten gefällt, schmettern mich schlechte Kritiken nieder. Ich möchte wagemutiger werden, nicht mehr soviel von dem töten, was ich geschaffen habe. Das letzte, was Leute aufgeben wollen, ist ihr Leiden. Ich finde das selber bei mir. Es ist für mich viel einfacher, sorgenvoll und mißgestimmt zu sein, als fröhlich. Was mich an Kindern so fasziniert, ist ihre schamlose Freude. Beim Spielen mit anderen Musikern finde ich schnell zu diesem Gefühl.

Im Leben ist dies ~~^~~^^~ für mich sehr viel schwieriger. Dieser Verlust von Begeisterung ist für mich die Hauptursache für den Niedergang Englands. Es ist sicherer für Menschen, kritisch und negativ zu sein, als das Risiko einzugehen, sich für etwas uneingeschränkt zu begeistern. Das gilt für den beruflichen Bereich genauso wie für den privaten. Aus diesem Enthusiasmus aber wachsen Vitalität und Drive, die später einmal die Welt bewegen.

Mit den herrschenden religiösen und moralischen Wertvorstellungen, die von den politischen Systemen der Industrie-Nationen in Osi und West heutzutage zur Norm erhoben werden, entstehen regelrechte Mauern, an denen sich jeder Mensch mit anderen, individuellen Vorstellungen den Kopf einrennt.

Für mehr Toleranz, für mehr Freiheit gehe ich auf die Straße und natürlich auch auf die Bühne, ich will mir schließlich später nicht vorwerfen müssen, im entscheidenden Moment das Richtige nicht getan zu haben“.