Kritik

„Ginny & Georgia“ auf Netflix: „Gilmore Girls“ für die Generation Z


Blendend durch die Vorstadt-Upper-Class: In der neuen Netflix-Serie „Ginny & Georgia“ schauen wir einer alleinerziehenden Mutter dabei zu, wie sie ihren Kindern ein gutes Leben bieten will – und ihre eigene Vergangenheit dafür um jeden Preis verheimlichen muss.

Seit dem 24. Februar 2021 ist auf Netflix die neue Serie „Ginny & Georgia“ im Stream verfügbar – und hat sich prompt zum Publikumshit gemausert. Seit Tagen steht sie auf Platz 1 der aktuell beliebtesten, im Sinne von meistgeschauten Serien bei dem Streamingdienst. Wer dieses Ranking schon seit längerer Zeit verfolgt, mag ahnen: Ein Qualitätsmesser ist das Auftauchen nicht unbedingt, oft werden gerade die Serien und Filme zum Renner, deren Inhalt und Produktion auf Berieselung, seichter Unterhaltung oder Popcornkino oder Blockbuster ausgerichtet ist und die, da Netflix-Originale, ebenda besonders offensiv beworben werden. Wer „Ginny & Georgia“ trotzdem eine Chance gibt, ahnt spätestens nach Folge 1: Ganz so leicht macht diese Serie es sich nur auf den ersten Blick.

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Georgia (Brianne Howey) ist eine alleinerziehende junge Mutter. Mit ihrer 15-jährigen Tochter Ginny (Antonia Gentry) und ihrem neunjährigen Sohn Austin (Diesel La Torraca) zieht sie in die fiktive Kleinstadt Wellsbury, Massachussetts, um einen Neuanfang zu wagen. Ihr reicher Mann – nicht der Vater der Kinder – starb bei einem Autounfall, nachdem er am Steuer scheinbar einen Herzinfarkt erlitt. Die Familie richtet sich im neuen Haus ein und schnell auch in der Nachbarschaft und der Highschool. Alles scheint ganz easy: Ginny findet fix Freundinnen, die attraktive und freigeistige Georgia quatscht sich selbstbewusst in Jobs und Society rein, und wenn Austin Ärger mit einem doofen Mitschüler hat, übt sich seine Mutter kurzerhand in zielführender Selbstjustiz.

Dunkelheit hinter der Fassade

In Rückblicken erfahren wir nicht nur, wie Georgia mit 15 schwanger wurde, dass sie eigentlich gar nicht Georgia heißt, welche Scheiße sie in ihrer eigenen Kindheit und Jugend durchleben musste und warum sie ihren eigenen Kindern nun um jeden Preis ein besseres Leben bescheren will. Wir sehen aber auch, dass sie noch dunklere Geheimnisse und Gewalttaten in sich trägt, die nicht an das ach so rosarot-pastellfarbenegilmore girls Licht ihres neuen Ichs/Fassade kommen dürfen. Weil dann nicht nur ihr Leben wieder einem Scherbenhaufen gliche, sondern auch das relativ unbeschwerte ihrer Kinder.

Über weite Strecken gibt sich „Ginny & Georgia“ wie eine Feel-Good-Version von „Tote Mädchen lügen nicht“ (schon der Soundschnipsel im Vorspann klingt ähnlich); wie einer Highschool-Coming-of-Age-Serie über augenscheinlich privilegierte Vorstadtteenies, in der sich die Dramen im Kleineren, Gewöhnlicheren abspielen. Es geht an der Schule nicht um Suizid, Mobbing und Gewalt, sondern „lediglich“ um erste Crushes und sexuelle Erfahrungen und Orientierungen, Ladendiebstähle als Mutproben, weiche Drogen und um Alltagsrassismen und -sexismen, etwa dann, wenn die Schwarze Ginnie ihren Weißen Lehrer auf die Unterdrückung von Frauen in der Gesellschaft und auf die von ihm ignorierte Wichtigkeit des „Black History Month“ aufmerksam macht – und dafür zurechtgewiesen wird.

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Auf den zweiten Blick, den die Zuschauer*innen erstmals am Ende von Folge 1 riskieren dürfen und müssen, offenbart „Ginny & Georgia“ eine bis dahin ungeahnte Tiefe. In gut gesetzten Andeutungen, Cliffhangern und Flashbacks erfahren wir mehr über Georgias Vergangenheit. Zum Beispiel – Achtung, milder Spoiler –, dass sie am Tod ihres Mannes eventuell nicht ganz unschuldig ist. Dass sie schon früh mit Waffen in Berührung kam. Und dass ihr Lebensstil schon immer der eine modernen Vagabundin glich. Der Eindruck einer Komödie ist wie weggeblasen, in den weiteren neun Folgen verfolgen wir eine waschechte Dramedy. Von dort an erinnert „Ginny & Georgia“ vielmehr an HBOs beeindruckendes Seriendrama „Little Fires Everywhere“, in dem die Schwarze Mia Warren (Kerry Washington) ebenfalls mit ihrer Tochter einen Neuanfang wagt, um ihrer Vergangenheit zu entkommen – und es in ihrem neuen Kapitel unter anderem mit Soccer Mom Elena Richardson (Reese Witherspoon) zu tun kriegt. Und natürlich erinnert Sarah Lamperts Show spätestens jetzt unweigerlich an die Kultserie „Gilmore Girls“, in der es ja auch um eine Single Mom in einer fiktiven Kleinstadt und den sich dort ergebenen Freuden und Leiden geht.

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Auch die popkulturellen Referenzen kommen zwischen Drama und Humor nicht zu kurz: Ginny diskutiert mit ihren neuen Freund*innen über Lana Del Rey und hört Billie Eilish, der witzigste Kurzdialog ergibt sich indes in einem Café, in dem ihre Freundin Max den Namen David Bowie droppt. Der Cafébetreiber wundert sich: „Ihr kennt David Bowie?“ Max antwortet flapsig: „Duh! Aus ‚Shrek‘!“ Urkomisch auch die Szene, in der Mutter, Tochter und Sohn über Gruselfilme von „Scream“ bis „The Shining“ diskutieren, während Set und Kamera mit scharfen Küchenmessern, sich öffnenden Türen und lauten Schreien ebendiese parodieren. Man kann von Glück reden, dass „Ginny & Georgia“ immerhin mehr ist als das. Ob es an die Tiefe und Klassengesellschaftsabbildung seiner Vorbilder heranreichen wird, muss sich in einer eventuellen zweiten Staffel zeigen. Bestätigt ist die offiziell noch nicht, ein, natürlich, Cliffhanger im Finale von Staffel 1 rollt ihr aber schon mal den Teppich aus.

„Ginny & Georgia“, 10 Folgen á rund 54 Minuten, seit 24. Februar 2021 auf Netflix im Stream verfügbar.