Groove der Seele


Tod der Schnellebigkeit - der Londoner sagt schnöden Dancefloor-Klängen ade. Seals neue Berufung: Pop mit Tiefgang

Die Haare sind streichholzkurz, das Gesicht von ebenmäßiger Schönheit, bis auf die wüst wucherden, markanten Narben um Nase und Wangen. Der dazugehörige Kerl ist baumlang und muskulös. Eine beeindruckende Persönlichkeit, dieser Sealhenry Samuel, denkt man auf den ersten Blick. Und Seal, wie sich der in London geborene und lebende Sohn nigerianisch-brasilianischer Eltern der Einfachheit halber als Künstler nennt, bemüht sich nach Kräften, diesen Eindruck mit breitem Grinsen und lässigem Händedruck zu unterstreichen. Doch die riesigen, dunklen Pupillen sprechen eine andere Sprache, flitzen nervös und flackernd von einem Ort zum anderen und signalisieren Unsicherheit und Ratlosigkeit, sich selbst und dem Leben gegenüber.

Das Cover seines aktuellen zweiten Albums – verwirrenderweise wie das 91er-Debüt mit „Seal“ betitelt – verrät, wie es um seinen Seelenzustand bestellt ist: Es zeigt ihn nackt und zusammengekauert, dem Beobachter den kahlrasierten Schädel entgegenstreckend. Seal wirkt auf diesem Bild ängstlich, doch in sich ruhend wie ein buddhistischer Mönch. Diesen Eindruck erwecken auch seine elf neuen Songs: Es sind warmherzige, ausgeglichene Lieder doch je näher man sich damit beschäftigt, desto tiefer ziehen sie dich in einen Strudel auswegloser Melancholie. „Puh, ja“, stöhnt der 1,95-Meter-Riese, „ich bin eine völlig zerrissene Persönlichkeit. Ich habe es geliebt, daß sich gleich meine erste Platte millionenfach verkaufte und ich mit meinen Singles die Charts anführte. Darauf bin ich bis heute verdammt stolz. Und im gleichen Maße hasse ich diesen Zustand, weil ich mich damit nicht abfinden kann. Mein Gott, ich bin ein trauriger Mensch, und mit einem Schlag bittet mich alle Welt um meine Meinung! Dabei habe ich Angst vor anderen Leuten und kann nur schwer mit ihnen umgehen. Die meiste Zeit fühle ich mich abgrundtief melancholisch und fernab von dieser Welt. Gottseidank habe ich in den letzten Jahren gelernt, mich in dieser Melancholie behaglich einzurichten. Ich schöpfe inzwischen Kraft daraus, denn die Melancholie ist mein ständiger Begleiter.“

Die vergangenen drei Jahre waren eine schlimme Zeit für Seal: Er hatte einen schweren Autounfall, gleich darauf ging eine langjährige, intensive Beziehung in die Brüche, und zu allem Unglück wurde er auch noch von einem seltenen Virus befallen, das ihn beinahe umgebracht hätte. Als Reaktion auf all das Unglück gingen ihm die Ideen aus: „Ich hatte Angst, daß ich nie wieder einen Song schreiben könnte.“ Nach etlichen frustrierenden Monaten war die alte Stärke jedoch zurückgekehrt. Ausgeprägter als je zuvor: „Es bedurfte“, erklärt Seal mit versonnenem Lächeln, „einer völligen mentalen Reinigung, ehe ich wieder ein Studio betreten und singen konnte. Ich mußte vergessen, daß ich Seal der Superstar bin, auf dessen neue Platte Millionen von Menschen warten. Statt dessen mußte mir beim Singen klar werden, daß ich diese Platte nur für mich einspiele und Musik eine heilende Kraft ist: ein Groove, der von innen kommt. Der Groove der Seele.“