Henry Rollins straft platte Rock-Klischees Lügen


Ehrlich währt am längsten - nach langen Jahren im düsteren Untergrund geht für den Hardcore-Poeten der Alternativ-Rockszene endlich die Sonne auf

Henry Rollins leidet unter Jetlag und entschuldigt sich grinsend, wenn er beim Reden ein Gähnen nicht unterdrücken kann. Scheinbar müde hat er sich auf dem Sofa des Hotelzimmers langgemacht, ein weiches Kissen unter dem kurzgeschorenen Haupt. Trotzdem kann er seine überschäumende Energie nicht lange zügeln: Schon bald untermalt er seine Worte mit heftigen Gesten und verwandelt das Sofa in eine Art Bühne. Ein Gespräch mit dem langjährigen Kultstar des US-Hardcore hat den Charakter einer privaten „Spoken Word“-Performance.

Für diese Auftritte, einer Mischung aus Lesung, Schauspiel und Kabarett, ist er inzwischen fast so berühmt wie für seine brachialen Konzerte. Mit beiden Formaten tourt er häufig, hundertfünfzigprozentiger Einsatz ist sein allabendliches Credo. Aber Henry Rollins, den das US-Magazin „Details“ zum Mann des Jahres 1993 erklärte, schreibt auch Bücher und arbeitet zuhause in Los Angeles in seinem Buchverlag. Außerdem gehören ihm zwei Plattenlabels und ein Musikverlag, Rollins entdeckt und produziert neue Bands. Seit einiger Zeit avanciert er sogar zu einem gefragten Filmschauspieler: Regisseur Adam Rifkin drehte mit ihm (in der Rolle eines Polizisten) und Charlie Sheen eine Verfolgungsgeschichte „The Chase“, die in den USA gerade erfolgreich im Kino lief. Derzeit spielt er in der Verfilmung einer Story des Cyberpunk-Papstes William Gibson. Wie hält Rollins diese Ackerei Tag für Tag durch?

„Ich bin gut in Form“, sagt er. Ein Blick auf die tätowierten Muskelpakete genügt, und man glaubt ihm aufs Wort. „Ich mache viel Fitness-Training, ich ernähre mich ausgewogen, ich mißbrauche meinen Körper nicht und nehme keine Drogen. Das ist gut für die Ausdauer. Wie David Lee Roth einmal sagte: Musik sollte so aussehen, wie sie sich anhört.“ Auf Rollins‘ Arbeit trifft das unbedingt zu, seinen Tatendrang erklärt es dennoch nicht. „Es ist eine Kombination aus körperlicher Energie und geistiger Disziplin. Man muß sehr konzentriert sein und ein wirkliches Ziel vor Augen haben“, erklärt er.

Die Frage nach der Natur dieses Ziels beantwortet er knapp und mit einem unschuldigen Lächeln: „Mich völlig zu verausgaben!“ Durch die zwölf Songs auf „Weight“, dem neuen Album

der Rollins Band, fegt er denn auch mit gewohnter Veheraenz, obgleich das dynamische Powerplay nie zum Selbstzweck degeneriert. Nach der 92er-Veröffentlichung „The End Of Silence“, ihrer bislang erfolgreichsten Platte, verbrachte die Band fast ein ganzes Jahr auf Tournee, bevor die Musiker ihr Lager für mehrere Monate in New York aufschlugen, um neue Stücke zu schreiben. Für den ausgestiegenen Bassisten Andrew Weiss stieß Melvin Gibbs, ehemaliges Mitglied von Defunkt und ein renommierter New Yorker Avantgarde-Produzent, dazu. Um der beengenden Atmosphäre gewöhnlicher Studios zu entfliehen, ging man anschließend nach Nevada, wo sich die Band bei den Aufnahmen in einem einsam gelegenen Häuschen ungestört austoben konnte.

Immer noch mit beiden Beinen fest auf dem Boden von Hardcore und Metal, gestattet Henry Rollins sich und der Band auf „Weight“ dennoch Ausflüge in Rap- und Jazz-Gefilde – schließlich ist er ein kenntnisreicher Jazzfan. Die Gitarren erinnern an Vernon Reid von Living Colour und Jimi Hendrix, die Texte sind ebenso wuchtig wie die Musik. Zu Recht gelten seine unverblümten Worte bei den Fans als absolut ehrlich, seit Jahren ist er vielen wegen seiner Integrität und Kompromißlosigkeit eine Art Vorbild. „Ich habe nicht eine Bühnen- und eine Privatpersönlichkeit“, bestätigt er. „What you see is what you get.“

Merkwürdig ist allerdings, daß ihn das Gros der Medien jahrelang ignorierte, daß sich nun aber plötzlich alles, was eine Kamera oder ein Diktiergerät halten kann, auf ihn zu stürzen scheint. Dabei hat Rollins sich nie als Prinz im Elfenbeinturm der Alternativ-Szene verstanden, nie die breite Öffentlichkeit gescheut. Er schreibt für mehrere Magazine, hat sich in den schicken T-Shirts von GAP fotografieren lassen und auf „MTV Sports“ Fitness-Ratschläge gegeben. Der daraus resultierende, offensichtlich unvermeidbare Vorwurf des Ausverkaufs ist ihm gleichgültig. „Das sagten die Leute schon, als meine Ex-Band Black Flag das erste Album pressen ließ – weil im wahren Untergrund angeblich nur Singles gemacht wurden“, winkt er ab. „das ist doch albern.“