Kritik

„Hillbilly-Elegie“ auf Netflix: Mit Starpower & Gefühligkeit am Thema vorbei


In seinem Buch „Hillbilly-Elegie“ hat J.D. Vance 2016 seine Familiengeschichte mit einer aufschlussreichen Milieustudie verwoben. Ron Howards Verfilmung für Netflix reduziert dieses Werk leider auf eine rührselige Aufstiegsgeschichte. Hier kommt unsere Film-Kritik.

„Nach inspirierenden wahren Begebenheiten“ – dieser Claim auf dem Netflix-Poster zu „Hillbilly-Elegie“ hätte schon Warnung genug sein sollen. Zugleich ist darauf Schauspielerin Amy Adams in kurzer Latzhose zu sehen, wie sie vor sonnenbeschienenem Grün an einem Pickup-Truck lehnt. Neben ihr eine betont runtergerockte Glenn Close, auf deren XXL-Shirt eine ausgeblichene amerikanische Flagge prangt.

Trotz dieses allzu plump auf engagierter Starpower anspielenden Posters durfte man gespannt sein auf diese Verfilmung. Denn die gleichnamige Buchvorlage von J.D. Vance ist ein lesenswerter Hybrid aus persönlichen Erinnerungen und aufschlussreicher Milieustudie. Es erschien 2016, nur wenige Monate, bevor Donald Trump zum 45. Präsidenten der USA gewählt wurde, mit dem Untertitel „Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise“. In den darauffolgenden Monaten avancierte es zum viel diskutierten Werk, das ein Schlaglicht auf die weiße Unterschicht (und Trump-Wählerschaft) in den südlichen Appalachen und den Ozarks warf – die sogenannten „Hillbillys“, deren fiktionale Repräsentationen etwa im Drama „Winter’s Bone“ und der Crime-Serie „Ozark“ zu sehen sind. Doch worauf Regisseur Ron Howard („A Beautiful Mind“, „Apollo 13“) die gelungene Bestseller-Vorlage reduziert hat, ist ernüchternd.

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Eine gewichtige Vorlage

Vance, dessen Familie aus Kentucky stammt und der in Ohio aufgewachsen ist, erzählte in seinen Memoiren von den Folgen der Arbeits- und Perspektivlosigkeit in diesen Gebieten, nachdem ein Großteil der Industrie abgewandert war. Der seit Mitte der 90er in dieser Region grassierenden Schmerzmittel- und Heroinabhängigkeit verfiel auch seine Mutter Beverly, weshalb Vance vor allem bei seinen Großeltern aufwuchs. Mit deren Hilfe schaffte er es schließlich dort heraus und absolvierte später ein Jurastudium an der Elite-Universität Yale. Trotz dieses scheinbaren Musterbeispiels für soziale Mobilität war „Hillbilly Elegy“ aber weit von einer platten Aufstiegsstory entfernt. Nachdenklich und differenziert beschrieb Vance in seinem Buch die gefühlte Hoffnungslosigkeit einer weißen Unterschicht, ohne diese zu bagatellisieren oder daraus (vor allem in Anbetracht einer deutlich unterprivilegierteren Schwarzen Unterschicht) eine politische Kampfschrift zu machen.

Es ist keine leichte Aufgabe, so einen komplexen Hybrid aus Sachbuch und Memoiren, der noch dazu die Familiengeschichte dreier Generationen umspannt, für einen Film zu adaptieren. Die Fülle an Stoff arrangierte Drehbuchautorin Vanessa Taylor („The Shape of Water“) auf zwei Zeitebenen: Aus dem Off hören wir einen erwachsenen J.D (Gabriel Basso), der 2011 an Yale Jura studiert, von seiner bewegten Jugend erzählen. Die ersten Szenen setzen 1997 bei einem 13-jährigen J.D. (Owen Asztalos) an, der einen schönen Sommer in Kentucky verbringt und dann mit der Familie in seine Heimatstadt Middletown in Ohio zurückkehrt. Hier wohnt er mit seiner alleinerziehenden Mutter Bev (Amy Adams) und seiner älteren Schwester Lindsay (Haley Bennett), seine geliebten Großeltern leben nur ein paar Häuser weiter.

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Mehr Familien- als Sozialdrama

Regisseur Ron Howard, dessen Produktionsfirma die Rechte am Buch 2017 in einer Auktion erwarb, inszeniert diese ersten Momente als fast schon idyllischen Beginn einer Coming-of-Age-Geschichte, untermalt von Hans Zimmers sentimentalen Kompositionen, in die sich die aus dieser Gegend stammenden Bluegrass-Rhythmen mischen. Auf die Besonderheiten dieser einst stabilen Industrieregion und der Vergangenheit um J.D.s Großeltern geht er nur mit hier und da eingestreuten historischen Fotos ein und indem er Middletown zwischenzeitlich aus dem Blick der Großeltern in die 1940er zurückversetzt.

Dann stößt Howard aber ziemlich unvermittelt zum emotionalen Kern seines Films vor: das arg strapazierte Verhältnis zwischen J.D. und seiner Mutter Beverly. Während J.D. 2011 an Yale um die weitere Finanzierung seines Studiums bangt, erreicht ihn ein Anruf von seiner Schwester: Bev sei nach einer Heroin-Überdosis im Krankenhaus. Fortan erzählt „Hillbilly-Elegie“ von J.D.s Rückkehr nach Ohio und zeigt zugleich in von einer wackligen Handkamera gefilmten Rückblenden, wie Bevs emotionale Instabilität, ihre Gewaltausbrüche und ihr Verfall in die Drogensucht seine Kindheit überschatteten. Als der junge J.D. unter diesen Umständen ebenfalls auf die schiefe Bahn zu geraten droht, interveniert seine resolute Großmutter (Glenn Close), die es als dauerschimpfende Kettenraucherin mit Clint Eastwood in „Gran Torino“ aufnehmen könnte.

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‚Inspiration‘ statt Kontext

Die Familiengeschichte, die der Film „Hillbilly-Elegie“ erzählt, ist nicht uninteressant und wartet mit einigen Momenten emotionaler Tiefe auf. Nichtsdestotrotz wirkt dieses familiäre Drama um Drogensucht und drohende Perspektivlosigkeit leider völlig losgelöst vom gesellschaftspolitischen Kontext, in das die Buchvorlage es eingebettet hatte. Die instabilen Verhältnisse, in denen J.D. aufwächst, sind eben nicht einfach das Ergebnis einer an und für sich dysfunktionalen Familie, sondern verweisen auch auf tiefe strukturelle Probleme in einer Gegend der USA, die die politische Führung über Jahrzehnte ignoriert hatte.

Ron Howard inszeniert seine Verfilmung an diesen gesellschaftspolitischen Dimensionen vorbei und baut noch dazu einen ärgerlichen Spannungsbogen um die Frage herum auf, ob J.D. schließlich aus seinem Milieu ausbrechen und endlich den Amerikanischen Traum leben kann – Spoiler-Warnung: Ja, er kann! Mit dieser Adaption drängt Howard der Buchvorlage eine stark verkürzte Interpretation, eben nach den anfangs erwähnten „inspirierenden wahren Begebenheiten“, auf. In Hollywood-Manier räumt „Hillbilly-Elegie“ damit den emotionalen Darbietungen zweifellos talentierter Schauspieler*innen eine Bühne frei. Doch ein besserer Film hätte diese Bühne für die aufrichtige Darstellung anhaltender gesellschaftlicher Probleme genutzt. Das plumpe Netflix-Poster verweist also einfach auf den mageren Inhalt dieser Verfilmung. Unser Fazit: lieber das Buch lesen.

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Der Film „Hillbilly-Elegie“ ist am 24. November 2020 auf Netflix erschienen.

Lacey Terrell Lacey Terrell/NETFLIX
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