„Ich bin dein Spiegel“


Zwei Reisende in einem Hotel in Paris. Ein Gespräch mit Michael Stipe über das Unterwegssein, Politik, Musik aus Omaha und Dinosaurier,

Wer einen Film über das Phänomen des Understatements drehen möchte, dem sei als Schauplatz das Hotel Costes im mittelalterlichen Herzen von Paris ans Herz gelegt. Die Pracht entfaltet sich hier nicht mithilfe einer schillernden Fassade, sondern verbirgt sich hinter einem dezenten Eingang, der auch in eine Boutique fuhren könnte. Das leise Rascheln seidener Fächer, kaum übertönt von süffig plätschernder Lounge-Musik, die an der Rezeption verkauft wird. Stephane Pompougnac, der Haus-DJ. Auf Vinyl. Daneben liegt ein weinrotes T-Shirt mit aufgedruckter Dornenkrone für 300 Euro. Ja, 300 Euro. Zimmer gibt’s schon ab 630 Euro, Hotel Costes was es will.

Wo es bitte zu Michael Stipe geht? Durch die Lounge, Monsieur. Antike Kerzenständer spenden spärliches Licht für konzentrierte Leser klassischer Literatur in schweren Sesseln mit vergoldeten Bordüren , vorbei an Stofftapeten aus ägyptischem Purpur, hinein in ei nen gedämpft beleuchteten Lift aus Ebenholz, der gerade aus dem Keller kommt, wo das Schwimmbad aus dem 19. Jahrhundert liegt. Im Zwielicht des Fahrstuhls steht eine kleine Frau mit Handtuch um den Kopf, sie sagt: „Oh, you sure are going to visit Michael“. Äh, wie bitte? „Michael Stipe! He’s such a niceguy“. Hm, ja, kann sein. Doch wer ist diese Frau? Was will sie? Die Türen öffnen sich im dritten Stock, Licht flutet die Kabine, mich trifft der Schlag. Die Frau ist Björk. Sie will nett sein.

„Ach, Madame Gudmundsdottir, sie ist so nett“, schwärmt Michael Stipe später und lächelt versonnen. Alle sind so nett. Und so geht’s erstmal auch weiter:

Michael STIPE: Woher kommst Du?

musikexpresS: Naja, aus Berlin.

Oh, wie ist Berlin in diesen Tagen? Ich war so lange nicht mehr dort!

Keine andere Stadt, die ich kenne, hat sich in den letzten vier, fünf Jahren so rapide entwickelt! Unglaubliche Stadt, so voller Energie.

Schoner wird es nicht. Aber es wird.

Na gut, es gibt viele gute Ideen…

Und viel Geld!

Ist das so wichtig ? Geld?

Oh, es macht vieles einfacher. Deshalb sollten ja auch alle genug davon haben. Huch, Entschuldigung… (MichaelStipe greift nach seinem kleinen Mobiltelefon, das mit diskretem Piepsen auf sich aufmerksam gemacht hat, liest, lächelt). Ich habe gerade eine SMS von Q-Tip bekommen. Letzte Nacht habe ich ihm geschrieben, wie positiv die Journalisten bisher auf „Outsiders“ reagiert haben.

Das ist das Stück auf eurem neuen Album, in dem Q-Tip einen Rap-Part übernommen hat. Was hat er geantwortet? Nur ein Wort: „Phänomenal“. Wie findest Du es denn? Unerwartet, gut. Unerwartet gut. Ganz ehrlich?

Klar!

Als ich hörte, Q-Tip wäre bei der nächsten R.E.M. -Platte dabei, da hatte ich einen Remix erwartet, Scratching, solche Sachen, wie man sie von seiner Zusammenarbeit mit DJ Shadow kennt.

A Tribe Called Quest! Das ist doch toll! Oder seine Zusammenarbeit mit den Beach Boys … äh …

Was?

Sagte ich Beach Boys? Ich meinte die Beastie Boys! Du glaubst es nicht…

KRS One, Kate Pierson, Patti Smith und nun Q-Tip. Warum braucht eine R.E.M.-Platte Gastsänger?

Weil ich eine Stimme höre. Es ist nicht meine, und es ist nicht die von Mike Mills. Als ich „Outsiders“ schrieb, hörte ich eine Stimme, und es wardie von Q-Tipp. Genau genommen war das Ende, also Q-Tips Teil, der Kern des Songs. Alles andere wurde um diesen Part herum geschrieben … Hey, was ist das denn?

Mein Tabak.

Ist ja lustig. Ich rauche genau die selbe Marke: Drum, halbschwarz.

Ist ja lustig.

Warum?

Weil ich dachte, Amerikaner rauchen, wenn überhaupt, keinen Drehtabak. Und wenn, dann rauchen sie American Spirit. So wie du, als wir uns das letzte Mal trafen.

In New York?

Ja, vor fast sechs Jahren.

Ah, ja, da muss ich einen schlechten Tag gehabt haben. Normalerweise rauche ich nur Tabak, aber manchmal gibt es Tage, an denen mir das Drehen einfach zu viel ist. Dann gibt’s American Spirit.

Wenn dieser ME erscheint, werden R. E. M. mit Leuten wie Pearl Jam, Bruce Springsteen auf „Swing State“-Tournee sein – also Leute in den traditionell eher unentschiedenen US-Bundesstaaten zur Wahl von John Kerry auffordern…

R.E.M. haben sich jetzt schon privat wie geschäftlich in hohem Maß für diese Wahlen engagiert. Und R.E.M. werden sich bis zum 2. November weiterhin in hohem Maß privat wie geschäftlich für diese Wahlen engagieren.

Warum privat?

Weil es für Prominente manchmal besser ist, nicht ständig öffentlich wirken zu wollen. Wir können bisweilen einen viel größeren Einfluss haben, wenn wir still und leise vorgehen. Kaum ein US-Künstler verlässt mehr eine europaische Bühne, ohne sich für die Politik von George W. Bush zu entschuldigen. Das kann nerven …

Du musst verstehen, wie frustrierend es im Moment ist, in den Vereinigten Staaten zu leben. Dort gibt es kein Publikum, das diese Sachen unbedingt hören will. Und als jemand, der mit seiner Musik die ganze Wekbereist, ist es mir beispielsweise ein großes Bedürfnis, daraufhinzuweisen: Nicht alles, was man über dieses gewaltige, unregierbar gewaltige Land so hört, entspricht der Meinung der Menschen, die dort leben. Ich hoffe nur, dass ein nicht-amerikanisches Publikum einsieht, wie wichtig es für Leute wie uns in Zeiten wie diesen ist, darauf sehr deutlich hinzuweisen „Du musst den Künstlern, die Europa bereisen, vergeben, dass sie in dieser Frage keineswegs schwammig oder vage sein wollen.“

Deutsche wissen, dass Krieg keine besonders gute Idee ist…

Es geht um den Künstler, weniger um das Publikum. Der Amerikaner, der in Europa spielt, fühlt einen starken Drang, diese Dinge klar zu äußern. Weil vom offiziellen Kurs abweichende Meinungen in den USA und in der Welt medial nicht repräsentiert werden.

Liegt das an den Journalisten ?

Vielleicht. Die eigentliche, fundamentale Aufgabe des Journalismus ist es doch, alles in Frage zu stellen, ob mir das passt oder nicht. Seit dreieinhalb [ahren passiert das in den USA nicht mehr.

Dafür wird das Internet immer wichtiger.

Gott schütze das Internet! Es ist ein herrliches Werkzeug, mit dem aber auch eine Menge Unsinn ventiliert werden kann. Ich merke es ja selbst, wenn ich mich mit Journalisten unterhalte. Viele kennen uns überhaupt nicht und haben sich nur mal schnell im Internet über R.E.M. informiert, alle auf den gleichen Seiten, und so stellen sie alle dieselben dummen, falschen Fragen.

Wie wäre es mit einer Frage nach Bill Rief Im, der Bill Berry nun endgültig als neuer ff. E.M. -Schlagzeuger ersetzt ?

Gut, Peter Bück hat Bill an Land gezogen, und er hat live und im Studio eine wichtige, integrale Rolle gespielt, weil er mit einigem Druck zur Sache geht. Er kommt ja von … (Stipe hält inne, grinst, beugt sich vor, hebt die Augenbrauen) …

Ist das eine Frage? Ein Test?

Nur ein kleiner!

Herrieh, er kommt von Mimstry.

(zufrieden) Genau. Und deshalb spielt er auch so muskulös, was uns gefällt. Ich meine R.E.M. bleibt nach Bill Berrys Abgang ein Trio. Aber Bill Rieflin hat ein tolles Ohr für den Sänger, was nicht viele

Schlagzeugerhaben – die kümmern sich sonst nur um den Bassisten. Und seine Kraft hilft uns, unsere manchmal etwas verhaltenen Songs um ein paar PS aufzurüsten. Hm. Kann ich mal das Fenster öffnen?

Ja, klar, es ist tolles Wetter draußen!

Aber stört es nicht deine Aufnahme?

Ich arbeite nicht fürs Radio, das geht schon.

Wirk ich?

Aber ja. Soll ich’s machen?

Nein, nein, bin schon dabei! (qeht ans Fenster, öffnet es weit, Sonne und Hitze fallen in den Raum) Herrlich! Man bekommt das ja hier drinnen gar nicht mit!

Ein Stück auf der neuen Platte hat den schonen deutschen Titel“.Wanderlust“. Bist du wanderlustig?

Ich liebe es, unterwegs zu sein. Oder an Orten zu sein, die nur fürs Unterwegssein da sind. Flughäfen, Bahnhöfe und Autobahnen.

Aber wo fühlst du dich zuhause?

Im Flugzeug. Wirklich, ich bin vom Reisen absolut fasziniert. Seit Jahrzehnten sammle ich meine Bordkarten und klebe sie in ein Buch, das immer dicker und dicker wird. Es ist eine Collage, und einige meiner Freunde machen das auch.

Die Briefmarkensammlung der Rockstars.

Manchmal wundere ich mich selbst, wieviel Zeit ich in Flugzeugen verbringe, einfach nur auf dem Weg von einem Ort zum anderen also eigentlich im Nirgendwo. Es geht nur um Bewegung, die ortlos bleibt. Und wenn du die meiste Zeit deines Lebens auf Reisen bist, dann erzeugt das schon einen anderen Bewusstseinszustand. Es ist wie ein Traum.

Klingt wie „Leaving New York“ auf der neuen Platte.

Genau! Den Text habe ich geschrieben, als ich nach dem Start aus dem Flugzeugfenster geschaut habe, und er kam (schnippt mit den Fingern) einfach so.

Geht dir diese Lebensweise nicht irgendwann auf die Nerven?

Nein, im Gegenteil. Ich bin mein ganzes Leben lang gereist. Schwierig wird es, wenn ich irgendwo länger bleiben muss, als ich will. Dann befällt mich eine ziemlich ungesunde Unruhe.

Aber irgendwo muss es doch einen ruhenden Pol geben.

Mein Zuhause ist ein Haus in der Nähe von Athens, Georgia, mein zweites Zuhause ist in New York, Manhattan. Beide Orte sind sehr verschieden voneinander, aber auch sehr, sehr ruhig. Ich habe das schönste Dorf und die schönste Stadt der U SA gefunden, und dort lebe ich. Der Rest ist Reisen.

Hat jemand mit deinem Lebensstil eigentlich so etwas wie einen Freundeskreis?

Es ist definitiv anders als bei anderen Leuten. Aber es sind nicht nur Popstars und Musiker. Es sind auch Sportler, Nachrichtensprecher, Vorstandsvorsitzende, Geschäftsmänner und Geschäftsfrauen, nomadische Menschen eben.

Und Liebesbeziehungen?

Ich bin mit meinem Freund seit bald vier Jahren zusammen und sehr glücklich, danke. Und nein, er ist nicht prominent.

Du bist der Sänger in einer der erfolgreichsten Rockbands aller Zeiten. Was treibt dich noch an?

Ich möchte beschäftigt bleiben, aber das alleine treibt mich nicht an. Was mich antreibt, ist die Herausforderung, die die Musik darstellt.

Ich fotografiere beispielsweise auch viel, ganz egoistisch, um quasi kleine Eselsohren in der Zeit zu hinterlassen. Manchmal teile ich die Fotos mit meinem Publikum, manchmal nicht. Aber Fotografieren ist in diesem Sinne keine Herausforderung, ich bin gut darin, es ist so natürlich für mich wie das Atmen. Ich bin aber nicht gut in der Musik. Es ist für mich als Künstler eine enorme Herausforderung, einen Song zu schreiben, der so gut ist wie die Sachen, die ich in der Vergangenheit gemacht habe. Wenn ich einen Song schreibe, dann soll er so großartig sein wie „Man On The Moon“ oder „Sad Professor“ oder „New Test Leper“ oder „Disappear“. Und wenn ich das nicht schaffe, dann muss ich etwas dafür tun. So bringt mich die Musik dazu, mich ständig weiter zu entwickeln.

R.fc.M. – eine Selbsthilfegruppe?

Irgendwie schon. Schau, wir sind in unseren Fähigkeiten als Musiker sehr eingeschränkt. Unser Job ist es also, uns immer höher und weiter zu strecken, um diese Einschränkungen aufzuheben …

Und das bedeutet?

Nicht immer und immer und immer wieder den selben Song zu schreiben. Das ist langweilig.

Ist es denn nicht so, dass R.E.M. längst ihre Formel gefunden haben ?

Irgendwie wiederholst du dich immer, weil die Fähigkeiten begrenzt sind. Wir sind halt nur so Typen, weißt du. Aber trotzdem möchte ich mich weiter anspornen, allein für das Gefühl, einen guten Job gemacht zu haben.

Genf es also nur um geschickte Variationen ?

Hm. Ja, ich variiere im Prinzip nur die Themen, mit denen ich mich beschäftige, suche andere Blickwinkel.

Was wäre das Thema auf eurem neuen Album around THE sun?

Übergänge von einem Zustand in einen anderen, hoffentlich besseren. Sei es nun im Kopf, emotional, spirituell oder politisch. Da will ich nicht einen Song wiederholen, den ich zwei Platten zuvor schon aufgenommen habe, sondern ihn einen Schritt weiterführen, indem ich mich ihm aus einem anderen Winkel nähere.

Furchtest du nicht, dein Reservoir an Themen konnte sich irgendwann erschöpfen?

Ich halte mich für einen ziemlich beschränkten … hm, ich wollte jetzt „Denker“ sagen, aber das stimmt nicht. Ich denke, ich denke ziemlich viel. Aber das in einen Popsong zu packen, das ist schon eine ganz andere Aufgabe.

Es gibt, ich glaube von Walter Benjamin, den Satz: „Wenn wir Musik hören, hören wir immer nur uns selbst“. Stimmst du dem zu? Soll das in anderen Worten heißen: Was du als Hörer wahrnimmst, ist der eigentliche Kern der Musik?

Es bedeutet, dass ich nichts lieben kann, was nicht schon irgendwie in mir angelegt wäre.

Ah: Ich bin dein Spiegel. Darum geht es in der Popmusik: Wenn es ihr gelingt, Seelisches zu spiegeln, dann hat sie ihren Job erledigt. Deshalb sträube ich mich auch immer so, meine Songs zu interpretieren. Weil nichts unwichtiger ist als die Interpretation desjenigen , der den Song geschrieben hat. Die Interpretation des Hörers ist absolut entscheidend für die Qualität eines Songs, weil sie ihm etwas über ihn selbst erzählt – nichts über mich.

Deshalb gibt Van Morrison keine Interviews, weil erden Standpunkt vertritt, dass ohnehin olles Wichtige in seiner Musik enthatten ist.

Aber wenn er überhaupt keine Interviews geben würde, wüsste niemand, dass das sein Standpunkt ist.

Sprichst du deswegen so gerne mit der Presse ?

Ja, aber ich bin verschwiegen, was die Interpretation unserer Musikangeht. Ich will nicht, dass die Leute von mir oder meinen Ideen fasziniert sind, sondern von sich selbst und ihren Ideen.

Du visualisierst deine Ideen in Videos, produzierst Kinofilme wie „BeingJohn Matkovich“ …

Im Oktober kommt „Saved in die Kinos, eine Teenager-Komödie, die an einer christlichen High School spielt. Ich glaube, die Leute werdenden Film mögen.

Michael, du bist jetzt 44 Jahre alt. Ist das Altern ein Thema für dich?

Nicht wirklich. Meine Teenagerzeit war ohnehin eher düster.

Also keine Komödie. Derzeit sind es ja auffällig junge Leute, die wirklich relevante, berührende Musik machen, wie Adam Green oder…

…oder Bright Eyes?

Genau! Woher…

Conor Oberst ist ein sehr guter Freund von mir. Er ist ein furchterregend guter Songwri ter und ein furchtbar guter Performer.

Er erinnert mich an Kurt Cobain.

Und mich erinnert er an Patti Smith. Ich meine die Intensität seiner Auftritte auf der Bühne. Hast du ihn mit Bright Eyes schon mal live gesehen?

Ja.

Unglaublich, oder? Wie er vor Leuten seines Alters spielt. Mir kam es vor wie früher, als ich Patti Smith gehört habe.

Ich habe ihn drei Mal gesehen, und er war jedesmal betrunken.

Ich spreche jetzt als sein Freund, wenn ich sage: Don’t worry.

Er trinkt Rotwein in rauhen Mengen. Da muss man sich schon Sorgen machen.

Ach was. Wenn du viel und ständig auftrittst, dann ist dein Adrenalin so hoch, dass besonders Rotwein dir hilft, weil es beruhigt. Wenn du also Conor oder andere Künstler mit der Rotwein Flasche auf die Bühne torkeln siehst, dann ist das schon in Ordnung. Es ist eine leichte, nützliche Droge. Also, ich bin Conors Freund und mache mir auch keine Sorgen um ihn.

Wenn wir von Conor Oberst und Bright Eyes reden, müssen wir auch über das Labet Saddle Creek aus Omaha reden, über…

Ja, klar! Endlich jemand, der mich danach fragt! Wusstest du, dass es eine Verbindung gibt zwischen Omaha und Athens, Georgia?

Nein.

Nicht? Kennst du die Band Azure Ray?

Klar.

Sie sind aus Athens, und jetzt leben sie in Omaha. Kennst du Now It’s Overhead?

Das wollte ich doch dich gerade fragen!

Ja, sie leben in Athens, produzieren aber in Omaha. Es gibt also sehr enge Verbindungen zwischen diesen beiden Städten. Ich weiß, dass Conor wahnsinnig viele Freunde in Athens hat. Wenn er da ist, hängen wir immer zusammen ab. Aber meistens hängen wir zusammen in New York ab. Das ist der dritte Punkt des magischen Triangels. Hier ist Omaha, da ist Athens, und dort oben ist New York. Da ist eine Menge Raum dazwischen, Raum auch für Kreatitivät. Ich meine, wirbei R.E.M. sind nur drei Leute, und wir halten uns schon meistens in unterschiedlichen Zeitzonen auf. Aber diese neue Szene zwischen Omaha, Athens und New York ist das Beste, was der amerikanischen Musik seit 30 Jahren passiert ist. Allein diese Band … warte mal, wie heißen die… Tilly And The Wall! Die haben einen Steptänzer als Perkussionisten!

Athens, das ist auch die Heimat von vic Chesnutt…

Oh, Vic! Der trinkt auch sehr gerne, und es geht ihm großartig. Als ich ihn zuletzt getroffen habe, da haben wir eigentlich die ganze Nacht zusammen gelacht. Kann auch an seinem Gras gelegen haben. Nein, im Ernst: Er hat unglaublich viele politische Bücher gelesen in letzter Zeit, verdammt, der Kerl ist seiner Zeit sowas von voraus.

Was da musikalisch passiert, hat meistens den Charakter von Projekten. Azure Ray, Good Life, Cursive oder Bright Eyes sind Bands, die ihre Mitglieder untereinander fortwährend tauschen und auswechseln. Gibt dir das nicht zu denken?

Wieso?

Weil R.E.M. zu den letzten Dinosauriern gehört, zu diesen übergroßen Bands, die morgen jedes Stadion ausverkaufen würden und das auch schon vor zehn, 15 Jahren getan hätten.

(Stipe runzelt die Stirn. Viele Runzeln. Das Licht in seinen Augen erlischt) Dinosaurier?

Welche wirklich großen Bands gibt es denn noch, die Menschen zwischen 16 und 66 Jahren gleichermaßen ansprechen ? Doch nur R.E.M. und U2, vielleicht noch die Red Hot Chili Peppers…

Worauf willst du hinaus? Die Tatsache, dass wir ein Stadion ausverkaufen können, bedeutet für mich nichts Schlechtes. Und Dinosaurier klingt richtig schlecht. (Stipe ist nun endgültig misstrauisch geworden. Denkt, man würde ihm ans Bein pinkeln wollen, jetzt verschränkt er sogar die Arme vor der Brust. Gar nicht nett) Man könnte auch von kommerziellem Potenzial sprechen. 80 Millionen Dollar hat Warner R. E. M. bezahlt, und es gibt keine Band aus den 90ern, die einen solchen Marktwert erreicht hätte. Und wenige aus den 8oern, die ein gewisses Niveau gehalten hätten…

Dinosaurier, das klingt nach kleinem Hirn und großer Dummheit.

Sagen wir, R.E.M. ist eine gewaltige Radiostation, ein Sender, der überall gehört wird. Solche Sender hoben die 90er nicht hervorgebracht…

Ah, jetzt verstehe ich. Hm, vielleicht werden die Pixies die große Band der 90er. Okay, End-8oer, aber sie stehen für die 90er. Oder Radiohead. Odervielleicht werden Jane’s Addiction die „große Radiostation“sein …

War ja nur eine Metapher.

Ja, ich weiß schon, das ist einfach lustig, weil es mich verwirrt hat, ob du das nun gut oder böse meinst. Es ist nur so, dass wenn du in den USA eine Band als Dinosaurier bezeichnest, dann bedeutet das: Sie ist alt, und kein Mensch interessiert sich mehr für sie.

Die Frage zielte darauf, ob das klassische Modell einer Band auch zukünftig noch so funktionieren muss. Oder ob nun die Zeit offenerer Modelte anbricht, die Zeit der Projekte…

Das mag sein. Das mag sogar sehr, sehr gut sein. Was mich anbelangt, so mag und brauche ich diesen fixen Zirkel, den R.E.M. darstellt. HipHop-Sachen in New York habe ich gemacht, zuletzt Hintergrundgesang bei Now It’s Overhead. Aber ich habe keine Solopläne, weil – es mag ein Klischee sein – R.E.M. großer ist als die Summe seiner Teile. Wir sind eine Art Kollektiv, das in diesem kollektiven Rahmen seine Ideen verwirklichen kann. Nur manchmal springe ich quasi ab und mache, so nebenbei, andere Projekte.

Zum Beispiel?

Stephane Pompougnac fragte mich, ob ich mit ihm einen Song schreibe. Er ist wundervoll geworden und passt gut zu einigen R.E.M.-Songs, die sich mit einem bestimmten Thema befassen.

Welchem denn?

Dem Gefühl, linkisch zu sein. Das hat mich immer schon interessiert, weil ich mich mein halbes Leben lang linkisch gefühlt habe. Der Song heißt „Clumsy“, sehr anders als R.E.M. Stephane Pompougnac ist übrigens der DJ in diesem Hotel, du kannst die Platte untenan der Rezeption kaufen.

Die Platte – und dazu dann das teuerste T-Shirt aller Zeiten …

300 Euro? Unglaublich, oder? Mir sind fast die Augen ausgefallen, als ich das gesehen habe. Und weißt du, was das beste ist?

Nein.

Vorhin traf ich Björk in der Lounge. Sie meinte, der Stoff fühle sich einfach wundervoll an auf der Haut. Also hat sie es sich gekauft.

Das ist wahrer Reichtum.

Nein, das ist wahrer Luxus.