Im Studio mit Vince Clarke


Romantische Vorstellungen über die Entstehung von Musik sollte man schleunigst über Bord werfen. Die Muse küßt den Künstler nicht mehr im stillen Kämmerlein, sondern versteckt sich in den Floppy Discs des Fairlight Computers. Diesen Eindruck jedenfalls gewinnt man, wenn man Vince Clarke, Mastermind der Gruppen Depeche Mode, Yazoo und Assembly, bei der Arbeit über die Schulter schaut. Clarke und sein Partner Eric Ratcliff luden ME/Sounds zu einem Lokaltermin in ihr Londoner Studio ein.

Southwark, gleich gegenüber des Business-Bienenkorbes der City am Südufer der Themse gelegen, hat seinen ursprünglichen Charakter fast unbeschadet in die 80er Jahre geschmuggelt. Weder hat der Zahn der Zeit diesen – in seinem Kern – ältesten Londoner Stadtteil zu deprimierenden Slums zernagt – noch wucherten Banken und Versicherungen hier mit ihren Pfunden und errichteten Burgen aus Beton.

Im Umkreis der Kathedrale verzwirnt sich ein geschäftiger Block zu einem nur schwer entwirrbarem Knäuel, durchschnitten von engen, reichlich düsteren Gassen: Markthallen, Speicher, Warenhäuser, Kleinstbetriebe, Handwerkstätten, Häuserreste aus dem 12. und 13. Jahrhundert, Bahngeleise und nicht zu vergessen – die Pubs, die hier an Markttagen die ansonsten streng überwachten Bestimmungen der Öffnungszeiten über Bord werfen und praktisch rund um die Uhr ein buntgemischtes Volk bewirten, das dem ortsfremden Beobachter direkt aus den 20er und 30er Jahren herübertransportiert zu sein scheint.

Auch All Hallows Church, einst eine Kirche und einen Steinwurf vom Marktareal entfernt, scheint jener im Entschwinden begriffenen Epoche anzugehören. Kein Namensschild verrät, was sich hinter der Tür des ehemaligen Gotteshauses abspielt.

Auch als die Tür sich öffnet, wird der Zeitsprung nicht sofort offenbar: Ein von allerlei Krimskrams schier berstender Verhau, der als Pförtnerloge dient; Kaltes Kunstlicht in den fensterlosen Räumen, abgewetzte Instrumentenkoffer, enge Gänge, kurz: ein kleines Studio, wie es sie zu Dutzenden in der Themsestadt gibt.

Aus einem Übungsraum jammern elektrische Gitarren, dröhnt dumpfer Baß, hackt knalliges Schlagzeug. Industrielle Musik, das mechanische Zeitalter läßt grüßen. Doch halt! Etliche Stufen tiefer, am Ende eines langen Ganges, zirpen andere Töne, baut sich Computer-Pling-Plong zur klar strukturierten, simplen Pop-Melodie auf. Man hört: Hier wird kein mechanisches Instrument zu Hilfe gezogen, hier wird Musik per Knopfdruck gemacht; hier werden Songs nicht länger geschrieben sondern programmiert.

Der Urheber dieser Klänge, noch bevor man ihn am Mischpult hantieren sieht, ist leicht zu identifizieren. Das Raster seiner Pop-Strukturen ist unverwechselbar. Dieser Mann, dem Pop-Melodien anscheinend so leicht zufließen, daß er sie wie vom Fließband produziert, war verantwortlich für die Anfangserfolge von Depeche Mode, dem auch für andere Musiker Maßstäbe setzenden Modell Yazoo, das eine erfrischende Kombination von Elektronik und Rock/ Soul-Stimme bot, und schließlich von The Assembly, deren bislang einzige Single – „Never Never“ – den Erfolgsstrom fortsetzt.

Das Studio ist nicht allzu geräumig. Da sind das Mischpult, die Aufnahmegeräte, Mikrophone, Lautsprecher, ein Fairlight Computer, sowie an der Rückwand, in mehreren Lagen übereinander, mehr als ein halbes Dutzend verschiedener Keyboards und eine Linn Drum Machine. Durch eine gläserne Verbindungstür kommt man in den zweiten Raum, dorthin, wo normalerweise Musiker ihre Instrumente spielen.

Da jedoch im Assembly-Kelier traditionelle Instrumente so gut wie nie verwendet werden, wurde der Raum kurzerhand in ein Büro verwandelt. Von hier aus werden die Geschäfte des Etablissements geregelt, natürlich per Computer.

All Hallows Church beherbergt eigentlich sogar zwei Studios. Erstens – und zwar „upstairs at Eric’s“ (daher auch der Titel des ersten Yazoo-Albums, das hier zum größten Teil aufgenommen wurde) das Blackwing Recording Studio. Es wurde vor etlichen Jahren von Eric Radcliff, stolzem Besitzer des akademischen Grades „Master of Science“, eingerichtet und machte sich schnell einen Namen durch die Produktions-Fähigkeiten seines Inhabers.

Yazoo waren vermutlich der erfolgreichste Act, aber auch andere prominente Namen finden sich im Gästebuch von Blackwing, unter anderem: Depeche Mode, Cocteau Twins, Xmal Deutschland, Fad Gadget, Shriek Back, Pig Bag und Blancmange.

Das Kellerstudio dagegen zuversichtlich „Splendide“ genannt, also: herrlich, prächtig, großartig – gehört Eric Radcliff und Vince Clarke gemeinsam, wird nie an andere Musiker vermietet, sondern dient ausschließlich dem neuen Pop-Projekt der beiden: The Assembly. Es ist, nach Pop-Maßstäben bemessen, ein seltsames Duo, zwei eher introvertierte, das grelle Rampenlicht scheuende Personen, die sich am wohlsten fühlen in der abgeschlossenen Welt ihrer Computer. Für Radcliff, ein stiller Mann in mittleren Jahren (der sich der Kamera am liebsten gar nicht stellen wollte – „I was always a backroom boy“) tritt mit The Assembly zum ersten Mal aus dem Schatten seines Studios heraus und betrachtet seine Metamorphose zum Popstar mit gemischten Gefühlen: „Es ist wundervoll, daß ich jetzt an der Kreation dieser Musik teilhabe, aber als ich das erste Mal im Fernsehen auftreten mußte, empfand ich das schon als sehr seltsam. Ich stehe jetzt, um es mal so auszudrücken, in der vordersten Gefechtslinie. „

Auch Vince Clarke hat es in seiner mehrjährigen Karriere stets vorgezogen, im Hintergrund zu bleiben. Publicity-Scheu und sein Widerwillen gegen Live-Konzerte ließen ihn Depeche Mode verlassen, als die Band ihren kommerziellen Durchbruch erlebte. Millionen-Angebote großer Plattenfirmen konnten ihn nicht davon abhalten, Mitte vergangenen Jahres Yazoo unzeremoniell zu beerdigen. Auch duldet Clarke nicht eben gerne andere Götter neben sich. Er macht am liebsten alles allein. Leute, die mit- oder ihm gar dreinreden wollen, gehen Clarke schnell auf die Nerven.

„In einer Band von vier, fünf Leuten hat ein jeder mitzureden und das Recht mitzuentscheiden. Pausenlos gibt es Diskussionen, wie ein Stück arrangiert oder instrumentiert werden soll. Ich kann so etwas einfach nicht mitmachen. Meine Lieder sind sehr, sehr persönlich und ich kann es nicht mitansehen, wie sie durch den Fleischwolf verschiedener Ansichten gedreht werden. Mehr als Live-Auftritte war das der Grund, warum ich Depeche Mode verließ und auch Yazoo beendete.

Festgefügte Gruppenstrukturen sind mir, auf lange Sicht, ein Greuel. Ich ziehe zum Arbeiten ein lockeres Arrangement vor, so wie ich es jetzt mit Eric und The Assembly habe. „

Das Assembly-Prinzip ist einfach: Vince Clarke schreibt (zum Großteil) die Songs, nimmt sich zuhause mit einfachsten Mitteln (Gitarre, Gesang) ein Demo auf. Dieses Demo bildet im Studio die Basis. Der Song wird in den Fairlight Computer eingespeichert, arrangiert, instrumentiert und schließlich aufgenommen. Dann, mit dem fertigen Song im Kasten, wird nach einem Sänger Ausschau gehalten, der The Assembly seine Stimme leiht, denn – so Vince: „Ich könnte nicht singen, selbst wenn es um mein Leben ginge. „

Das ist, in dürren Worten, die Arbeitsmethode. Doch gehen wir in’s Detail, schauen wir uns die – vermutlich exemplarische – Entwicklungsgeschichte von „Never Never“ an.

Dem Computer-Kid Clarke wurde die Liebe zur Elektronik nicht in die Wiege gelegt. Wie andere auch, so zupfte er, in frühesten Depeche Mode-Tagen, auf der elektrischen Gitarre. Bis eines Tages ein Freund von ihm einen Simpel-Synthesizer brachte: „Es war sehr viel einfacher, Töne aus dem Ding heraus zu kriegen als aus einer elektrischen Gitarre. Außerdem sind die Möglichkeiten auf herkömmlichen Instrumenten ziemlich begrenzt. Auf Computer und Synthesizer dagegen sind die Möglichkeiten praktisch grenzenlos.“

Während Eric Radcliff seine Songs direkt auf dem Fairlight komponiert, oder, korrekter gesagt, programmiert, hält es Vince nach wie vor mit der konventionellen Methode. Er kreiert seine Lieder „wo auch immer er sich gerade befinden mag“ (Radcliff) – grundsätzlich auf einer alten Fender Rhodes. Also

auch im Falle von „Never Never“. „Die Songidee, seine Struktur“, sagt Radcliff, „war zuerst da. Die haben wir in den Computer gespeichert und dann richtig angefangen zu arbeiten.“

Der Fairlight Computer, von dem jetzt öfter am Rande die Rede war, ist das „Herz des gesamten Studios“, schwärmen Clarke und Radcliff unisono, „er bildet die Hauptkomponente, er synchronisiert (sprich: steuert) all die anderen Teile des Studios. „

„Und zwar“, fährt Radcliff fort, „passiert folgendes: Der Fairlight besitzt eine Realzeituhr, die Vorgänge registriert, aber auch auslösen kann. Diese Uhr wird in einen Ton umgewandelt. Der Ton wird von einem 24-Spur-Aufnahmegerät aufgenommen. Sobald das Aufnahmegerät läuft, das Band abgespielt wird, dirigiert der Ton den Fairlight – und dieser wiederum dirigiert, mittels eines Conductors, all die anderen Synthesizers. Keyboards und die Linn Drum Machine gleichzeitig.“

Das bedeutet, um nur ein Beispiel zu nennen, daß das eindrucksvolle Aufgebot an Keyboards praktisch nie per Hand gespielt werden muß; auch das erledigt – per Knopfdruck – der Computer. Der „Master of Science“: „Richtig. Wir spielen auf den Instrumenten nie selbst. Im Prinzip wird bei uns alles programmiert.“

Mischt sich Vince Clarke ein: „Nun ja. fast alles. Hin und wieder greife ich in die Tasten. Zum Beispiel bei Never Never die String-Parts.“

Zurück zum Fairlight, auf dessen Bildschirm ein Schema erscheint, das in etwa die Form eines Notenblattes hat. Acht Instrumente sind untereinander aufgeführt – Gitarre, Baß, Koto. Arr (was wie eine menschliche Stimme klingen soll), Flöte. Marimbas. Streicher und Schlagzeug. Die einzelnen Instrumente, mittels Lichtstift selektiert, werden auf einer Klaviatur, die dem Computer angeschlossen ist, gespielt Die Noten des jeweils gespielten Rhythmus. Melodie etc. erscheinen sofort auf dem Bildschirm. Radcliff: „Ein Aufnahmegerät zeichnet alles automatisch auf.“

Auf dem Fairlight arbeitet es sich, wenn man weiß wie, sehr schnell. Binnen zwei Minuten haben Clarke und Radcliff die ersten vier Takte eines Popsongs in die Tastatur getippt. Das ist freilich erst der Anfang. Die ersten vier Takte pro Instrument ergeben ein Pattern, zu deutsch Muster. Für „Never Never“ zum Beispiel wurden 48 solcher Patterns benötigt.

Radcliff: „Wir fügen diese Blocks, oder Akkorde, zu einem Muster zusammen. Diese Muster nennen wir Buchstaben, die wir in einer bestimmten Reihenfolge arrangieren können, zum Beispiel Strophe-Refrain, Strophe-Refrain Mittelteil, Strophe-Refrain-Refrain-Refrain. Clarke „Wir haben eine immense Auswahl an verschiedenen Sounds, verschiedenen Instrumenten, die auf tausenden von Floppy Discs angeboten werden. Meistens jedoch wandeln wir die Sounds dieser Floppy Discs um, unseren Wünschen und Vorstellungen entsprechend. Den Möglichkeiten sind praktisch keine Grenzen gesetzt. Es stehen hunderttausende verschiedener Sounds zur Verfügung.“

Radcliff: „Wenn man einmal angefangen hat, mit dem Fairlight zu arbeiten, wird es einem schwer fallen, sich für irgendeine andere Methode zu entscheiden. Alle anderen Methoden sind so fürchterlich langsam.“

Wenn auch Geschwindigkeit für The Assembly keine Hexerei ist, so brauchten sie doch irdische zwei Wochen, um „Never Never – von seiner ersten Konzeption bis zum letzten Mix – auf Band zu bringen. Freilich fehlte dem Lied nach Ablauf der 14 Tage noch eine wichtige Zutat, die menschliche Stimme.

Clarke erzählt, wie Assembly auf Sänger Feargal Sharkey kam. „Feargal, von Leuten in einem Dubliner Plattenladen gehänselt, daß er seit dem Ende der Undertones nicht gerade viel von sich hat Reden machen, erwiderte, er würde demnächst mit Vince Clarke zusammenarbeiten. Das wurde von einem Reporter aufgegriffen und in der englischen Musik-Presse als Gerücht verbreitet. Daniel Miller (der Boß von Mute Records) las die Notiz, gab uns den Rat Feargal zu engagieren. Wir schickten ihm das Band. Er fand’s gut, kam zu uns in’s Studio, sang – und das war’s. Radcliff, der seine Überraschung nicht ganz verbergen kann, daß ein Mensch – zuweilen – ebenso perfekt ist wie ein Computer: „Feargal hat nur zwei Versuche gebraucht, dann haben wir aufgenommen. Er ist ein Genie.“