In with the old, out with the new


Ob in der Indie-Disse oder im Electroclub: 90er-Jahre-HipHop ist der heißeste Scheiß auf den Dancefloors der Welt. Warum ist das eigentlich so?

Berlin, eine Tanzfläche, Samstag, drei Uhr morgens. Man kippt Wodka in Club Mate, schwitzt in enge Jeans. Stilistische Ausrichtung des Ladens: egal. Die Besucher sind nicht älter als 19, der DJ spielt „Runnin“ von The Pharcyde, ein Stück von 1995. Alle rasten aus.

Miami, ein Keller, Montag, fünf Uhr morgens. Man dreht Joints mit Naturtabak, tippt gelangweilt auf dem iPad. Der Typ am Rechner bastelt einen Track, der klingt, als sei das Vierspurgerät gerade erfunden. Die Stimmen schraubt er auf Schneckentempo, so wie es vor 20 Jahren in Texas populär war. Als ihm endlich alles langsam genug ist, lädt er es schnell bei YouTube hoch. Schließlich ist er 21 Jahre jung, da macht man das so. Das Stück nennt er „1991“. Alle rasten aus.

Zwei Städte, zwei Szenen, die auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben – und doch beide einen ganz erstaunlichen Trend illustrieren. Im Rap, wo einst nur die neueste Mode zählte, nur der letzte Schrei gehört wurde, kann gerade alles nicht gestrig genug sein. Die Beats, die Reime, die Cover, die Klamotten, alles tönt und sieht aus wie in den Neunzigern. Der Underground-Rapper SpaceGhostPurrp aus Miami landete mit seiner trüben Zitatensuppe aus Horrorcore, G-Funk, Screw Music und Wu-Tang-haften Samplefetzen einen Deal beim Edel-Indie 4AD und wird quer durch die Blogosphäre als HipHop-Sensation des Jahres gefeiert. Beliebt im Netz ist auch Joey Bada$$ aus Flatbush. Seine Musik klingt nach Jahrgang 1995, dabei ist er das in Wahrheit selbst. Diese Vorliebe teilt er mit vielen Altersgenossen: Mac Miller, dessen Debütalbum Blue Slide Park vergangenes Jahr auf Platz eins in den USA stand, Newcomer Kendrick Lamar, die Flatbush Zombies, sie alle sind jung, wild und kultivieren ungezügelt einen 90er-Fetisch, wie man ihn allenfalls von gealterten Familienvätern und Werbern in teuren Sammler-Sneakern erwartet. Sie rappen auf Beats von 90er-Produzenten wie Lord Finesse und Three 6 Mafia, tragen dabei Mützen von den L. A. Raiders und den Charlotte Hornets (die den Spielbetrieb längst eingestellt haben). Die meisten DJs greifen dennoch lieber gleich zu den Originalen. Retro-Abende boomen auch beim Jungvolk, für Puristen gibt es sogar Partys, bei denen die Historie penibel jahresweise aufgerollt wird. Neue Musik dagegen hört man kaum.

Nun gehörte das Spiel mit dem Gestern immer schon zum HipHop wie das Spiel mit den Gesten. Rap ist ein komplexes Konstrukt aus Codes, Querverweisen und Abgrenzungen. Rap kann nicht existieren ohne seinen geschichtlichen Kontext: Ohne Chic keine Sugarhill Gang, ohne Sugarhill Gang kein Melle Mel, ohne Melle Mel kein Rakim und so weiter. Was allerdings gar nicht geht, ist Nachmachen. Eiserne Grundregel. Verboten, für immer. Dachte man. Denn viele der neuen Helden entpuppen sich bei genauerer Betrachtung als schamlose Epigonen. „Diese Kids bauen sich ihre Identität aus den Überresten einer Ära, die älter ist als sie selbst“, schreibt der HipHop-Analyst Andrew „Noz“ Nosnitsky. „Diese Art der Neuschreibung von Geschichte ist unnötig.“ Und schlimmer noch: Sie nervt. Nix gegen Royce Da 5’9″ und Pharoahe Monch. Nette Leute, gewiss. Aber müssen sie deshalb an jedem verdammten Samstag aus den Boxen bellen? Selbst in der Indie-Disco und im Electroclub? Can I Kick It? Ja, am liebsten in die Tonne.

Ironischerweise sind es gerade die technologischen Errungenschaften des digitalen Zeitalters, die diese Retromantik noch befördern. Wenn man die alten Gassenhauer nicht teuer nachkaufen, nach Raritäten nicht mühsam forschen muss, sondern mit einer einfachen Google-Suche ganze Lebenswerke auf die heimische Festplatte überführen kann, wird eben auch der gemütliche Kiffer von nebenan schnell zum Jäger und Sammler. Aber warum ist das so? Warum tanzen die Kids zu den Hits ihrer Eltern anstatt denen auf der Nase herum? Ein Grund ist, dass der Konsens im HipHop aufgekündigt scheint. Früher prägten einzelne Künstler ganze Ären. Beastie Boys, Rakim, Snoop Dogg, Nas, Eminem – als sie herauskamen, zählte zumindest für ein paar Monate nichts anderes. Diese Zeiten sind unwiederbringlich vorbei. Die neuen Helden polarisieren mehr als dass sie einten. Auf jeden Fan von Odd Future kommt einer, der bei Tylers Tiraden genervt die Augen verdreht. Wenn Lil B rappt, schreien die einen „Swag“ und die anderen „Schweig“. So kommt es, dass diese Musik nicht in großem Maße aufgelegt wird. Und sich stattdessen alle in ungehemmter Nostalgie suhlen. Die Golden Era als schmucker Instagram-Filter.

Ein weiterer Grund sind die Verbreitungsmechanismen im Netz. Wenn nicht mehr 20, sondern 20 000 Rapper durch das kleine Aufmerksamkeitsfenster der ADHS-Generation drängen, braucht man die Geschmacksdiktatoren des WWW genauso dringend wie früher Magazine und MTV. Da aber auch besessene Blogger nicht alles hören und posten können, nehmen sie eben das, was ihnen irgendwie bekannt vorkommt. So verflechten sich die Referenzen und Zitate zu einem dicken Netz des Stillstandes.

Natürlich ist das alles mindestens zur Hälfte gelogen. Es gibt Lex Luger und Marteria, The Weeknd und Hudson Mohawke, Gucci Mane und Kilo Kish, die klingen wie nichts und niemand vor ihnen. Wenn’s gut läuft, werden sie den längeren Atem haben als all die Retromanen. Wenn’s schlecht läuft, so lange, dass sie dann 2042 in den Clubs gespielt werden. Echte HipHop-Fans jedenfalls halten es so oder so mit dem großen J Dilla (noch so einer Nostalgiker-Ikone übrigens): „Out with the old and in with the new shit.“