Je Mehr Widerstand, Je Mehr Fortgang


Die Revolution wird kommen. So oder so. Und sie wird gewaltig. Dagegen können auch die mächtigen MUSE nichts unternehmen. Aber sie können sie künstlerisch begleiten. Mit bandtypischem und dem Anlass entsprechendem Bombast tun sie das auf ihrem neuen Album THE RESISTANCE. Der MUSIK-EXPRESS hat die Gruppe in ihrem Studio im norditalienischen Como besucht.

Als hätte man einen Urlaubskatalog betreten. Die sonnendurchflutete Terrasse ist satt bepflanzt und bietet einen wunderschönen Ausblick auf den Corner See. Rundherum wachsen Palmen und Berge in den Himmel, und der Charme des Südens, die Italianitä, ist allgegenwärtig. Hier in der Nähe von Como, einen Katzensprung von der Grenze zur Schweiz entfernt, hat sich Muse-Kopf Matt Bellamy mit seiner Freundin, die aus der Gegend stammt, niedergelassen. Die Band hat erst vor wenigen Tagen ihr fünftes Studioalbum THK RESISTANCE fertiggestellt und noch nicht genügend Pressetermine hinter sich, um eingeübte Standard-Antworten zu servieren. Bellamy redet schnell und viel, seziert dabei die Fragen mit scharfen Antworten, während Bassist Christopher Wolstenholme und Schlagzeuger Dominic Howard die Ferienstimmung im Haus ihres Bandkollegen, wo sie schon den Großteil der vergangenen Monate verbracht haben, genießen. Unter dem Haus befindet sich die neue Zentrale der Band. Ein langer Gang mit kahlen, weißen Wänden und kaltem Neonlicht führt zu verschiedenen Türen. Auf der einen Seite ist das neue, bandeigene Aufnahmestudio, auf der anderen sind weitere Räume mit Instrumenten, Verstärkern und allerhand technischer Ausrüstung. Das Studio ist gerade groß genug für eine dreiköpfige Band. Der enge Regieraum, vollgestopft mit modernstem Equipment, bietet gerade noch Platz für ein Sofa an der Rückwand, keine zwei Meter hinter dem Mischpult. Im Regal dahinter stehen neben „Batman Begins“ und einigen „Jackass“-DVDs der Soundtrack zu Orson Welles“ „War Of The Worlds“ sowie Platten von Bloc Party, Editors, Timbaland und Depeche Mode, die beiden letzteren nebeneinander. Später mehr dazu. Schon ihr letztes Album BLACK HOl.r.S & REVELA-TIONS wollten Muse hier aufnehmen. Da das Studio jedoch nicht rechtzeitig fertig wurde, wich die Band nach Südfrankreich, New York, Mailand und London aus. Nun, da sie weder zeitliche noch finanzielle Grenzen hatte, entschloss sie sich, die Platte auch selbst zu produzieren. THE RESISTANCE verrät schon im Titel, worum es diesmal (wieder) geht: um Kampf, um Widerstand, um politische und gesellschaftliche Visionen. Aber auch um die Liebe. Damit setzt das neue Werk nicht nur musikalisch, sondern auch inhaltlich da an, wo BLACK H0l.[-:S & REVKI.AT1ONS aufgehört hat. Lautete die letzte Textzeile aus „Knights Of Cydonia“, dem Finale des Albums, „No one’s gonna take me alive I The time bas come to make things right / You and 1 must fight for our rights / You and I must fight to survive“, setzt sich der Widerstand in „Uprising“, dem ersten Song der neuen Platte, mit dem Refrain “ They will stop toforce us I They -will stop degrading us I They will not control ms / We will he victorious“ , unterlegt mit Marschrhythmen und stampfenden Beats, fort. Es ist Matt Bellamys Kampfansage an das politische System und die Obrigkeiten, die am Volk vorbeiregieren. „England ist politisch rückständig. Wir haben Abgeordnete, die nicht vom Volk gewählt, sondern von der Königin eingesetzt werden. Der Premierminister ist ebenfalls nicht gewählt. Die Demokratie existiert praktisch nicht“, ereifert sich der Sänger. Die gewählten Parlamentarier würden ihre Tage damit verbringen, von wirtschaftlichen Interessengruppen beeinflusst zu werden. Statt den Interessen ihrer Wähler nachzugehen, würden sie sich um die ihrer Partei, der Konzerne und eines kranken ökonomischen Systems kümmern. Kann es für jemanden wie Bellamy die im neuen Muse-Song „Unnatural Selection“ geforderte Wahrheit überhaupt geben? Für jemanden, der das gesamte Geflecht aus Politik, Wirtschaft und Medien, ja selbst der schulischen Bildung, als Instrument zur Manipulation der Bevölkerung sieht? Bellamy: „Die Menschen in England fühlen, dass sie keinen Zugang zur Wahrheit und zur Demokratie haben. Wir leben in einer Lüge. Dieses altmodische System muss sich ändern, es muss eine Revolution geben, um eine pure Demokratie zu erreichen.“

Gesetzesänderungen und politische Entscheidungen von großer Tragweite müssten dem Referendum unterliegen und nicht von einer kleinen Gruppe von Menschen beschlossen werden, die keine Bindung und keine Verantwortung gegenüber jenen fühlt, die sie gewählt haben. “ Ich sehe und spüre die Wut des Volkes und das Verlangen nach einem Wechsel. Es wird passieren … irgendwann muss es passieren. Es wird einen Aufstand geben. Gegen die Umweltprobleme, gegen die Konzerne, die diese Katastrophe zu verantworten haben und die die Drittweltländer aushungern lassen und ihnen die natürlichen Rohstoffe stehlen, um unseren Wohlstand zu sichern. Dieser Wechsel wird kommen, ob wir wollen oder nicht. Die Frage ist nur, ob wir einen Einfluss auf diesen Wechsel haben wollen oder nicht. „

B ei Muse ging es schon immer darum, Grenzen zu überschreiten und neues musikalisches Gebiet zu erobern. So erschließen sie auch auf THE RESISTANCE neues Territorium, vor allem i m Stück „Undisclosed Desires“. Die schweren Beats, die von Timbaland stammen könnten, machen es zum atypischsten, androgynsten und (neben „Exogenesis“) ambitioniertesten Song ihrer Karriere, zumal Bellamy erstmals überhaupt in einem Song weder Gitarre noch Piano spielt und der Bass das einzige „richtige“ Instrument darauf ist. Es ist das Stück, das Depeche Mode auf ihrer neuen Platte vergessen haben. Sie hätten „shitloads of stuff“ ausprobiert, bis sich die Richtung des Songs zeigte, sagt Christopher Wolstenholme.

„Dieses Lied hat mir eine ganz neue Klangwelt eröffnet“, erinnert sich Howard, der für die Programmierung der Drumcomputer zuständig war. Er könne sich gut vorstellen, dass Muse in Zukunft vermehrt in diese Richtung gehen, ja sogar einen ähnlich radikalen Bruch wagen würden wie Radiohead mit KID A. Trotz allen Fortschritts haben sich Muse ihre Tradition des Spiels mit Referenzen bewahrt: Das donnernde „Unnatural Selection“ vereint ABBA und System Of A Down, „United States Of Eurasia“ bedient sich schamlos beim Crescendo von Queens „We Are The Champions“. „Guiding Light“ klingt wie der dritte Teil zu „Soldier’s Poem“ und „Invincible“ vom letzten Muse-Album. Das Herzstück der Platte ist jedoch die dreiteilige, rund 13 Minuten lange Sinfonie „Exogenesis“, auf der die Band von einem 40-köpfigen Orchester begleitet wird. Jahrelang hatte Bellamy daran gearbeitet, das Monsterwerk aber bislang immer als unpassend für Muse angesehen. Dank des eigenen Studios hätten sie nun nichts zu verlieren und genügend Zeit gehabt, sich damit zu beschäftigen, sagt er. Bellamy greift auch hier ein Thema auf, das er bereits früher behandelt hatte. Während es sich in „Exo-Politics“ noch um die Invasion von Außerirdischen auf der Erde handelte, folgt „Exogenesis“ der wissenschaftlichen Theorie, wonach das Leben irgendwo im Universum entstand, auf die Erde gebracht wurde, und unsere Gene überall im Universum verstreut seien. Bellamy sagt, für die Sinfonie habe er eine Art Film in seinem Kopf gehabt: „,Part /‘ handelt von einem Planeten oder einer Zivilisation, die in einer fernen Zukunft an ihr Ende kommt. Es ist ein Ausdruck der Angst um die eigene Existenz. In,Part II‘ beschließt eine Gruppe von Leuten, eine Art Adam und Eva in einem Raumschiff zu entsenden, um einen neuen Planeten zu finden. Es beschreibt die Flucht und die Reise durch das Weltall. ,Part III‘ erzählt von der Ankunft auf einem jungfräulichen, unberührten Planeten, wo die Evolution von Neuem beginnt, ohne dass die Fehler der Vergangenheit wiederholt werden.“ Auf THE RESISTANCE beginnt auch die Geschichte von Muse von Neuem. Denn wer sich in diese Sphären wagt und besteht, kann nicht einfach wieder zurück.