Interview

Leoniden im Interview: „Unser neues Album hat wahnsinnig profitiert von der Corona-Krise“


100 Konzerte spielten die Leoniden im vergangenen Jahr – in diesem kein einziges. Warum ihr neuestes Werk dennoch kein Corona-Album ist und wie sie darauf ihren eigenen Sound neu definieren, darüber kamen wir mit Sänger Jakob Amr und Gitarrist Lennart Eicke ins Gespräch.

Die Everybody’s Darlings des deutschen Indierocks heißen seit geraumer Zeit Leoniden. Weit über 100 Konzerte im vergangenen Jahr, darunter einige Shows mit AnnenMayKantereit, sprechen dabei für sich. Wer die Leoniden einmal live gesehen hat, kann von dieser Droge kaum noch lassen. Den Kieler Jungs geht es selbst nicht anders. „Die Gefühle, die wir live kommunizieren und auch selbst empfinden, fehlen uns selbst am meisten“, so Sänger Jakob Amr. Doch der Konzert-Entzug lässt sie nicht taumeln – Gitarrist Lennart Eicke geht im Interview mit musikexpress.de sogar soweit zu sagen, ihre neue Platte habe wahnsinnig von der Corona-Krise profitiert.

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Musikexpress.de: Zeilen wie „We carry our own coffins, to bury our hope, we fell in love at the funeral of the world“ klingen ziemlich düster. Ist dies das Grundgefühl hinter Eurem neuen Song „Funeral“?

Jakob Amr: Der Song dreht sich um zwei Liebende in einer brennenden kaputten Welt, in der sich das Richtige kaum noch vom Falschen unterscheiden lässt. Dabei stellt sich die Frage: Ist es schön, dass sie sich lieben oder traurig, dass die Welt untergeht?

Lennart Eicke: Losgelöst von der Corona-Pandemie geht es auf der Welt, plump gesagt, oft scheiße zu. Das fängt bei den EU-Außengrenzen an und hört beim wachsenden Populismus in der gesamten westlichen Welt auf. Dass es so viele Idioten gibt, kann einen manchmal schon ziemlich enttäuschen. Vor allem, wenn man Tag für Tag mit schlechten Nachrichten zugeschüttet wird, stellt sich ein Gefühl von Taubheit ein. Gerade in solchen Momenten festzustellen, dass man nicht allein auf dieser Welt ist, davon handelt der Song. Denn es gibt noch andere Leute, Gleichgesinnte, mit denen man gemeinsam die Welt scheiße finden kann.

Jakob: „Funeral“ ist mit seinen wenigen Zeilen ein complex happening reduced to a simple design.

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„Funeral“ und „Love“, die ersten zwei Songs der neuen Platte, liegen thematisch als auch instrumental kaum beieinander. Gemein haben sie den Fokus auf dem Refrain. Warum fallen Eure Strophen immer so dünn aus?

Lennart: Auf jeden Fall ist es kein Kalkül, eher eine Geschmackssache. Ehrlich gesagt, ist es uns auch schon aufgefallen, dass wir oft mit kurzen Strophen hinkommen. Doch es ist für uns das Schwierigste, die Dinge auf den Punkt zu bringen. Wir streiten und diskutieren viel über knappe Zeilen. Es gibt kein Rezept, das besagt, dass die Strophen kurz sein und Refrains mindestens viermal gesungen werden müssen. Das sind Unfälle.

Jakob (lacht): Wir sehen uns selbst hauptsächlich als Live-Band. Daran schließt, dass wir schon beim Schreiben der Vorstellung nachhängen, in weniger als einem Jahr unsere Songs mit einem Haufen an Leuten zu singen.

Lennart: Beim Songschreiben dreht sich alles darum, Inhalte in eine kunstvolle Variante zu bringen, um sie auszudrücken. Wenn wir etwas erklären wollen würden, dann würde wir ein Buch schreiben.

„Allein, dass es ein Doppel-Album geworden ist, sagt vieles.“ – Jakob Amr, Sänger der Leoniden

„Funeral“ fällt mit seinem aufdringlichen Bass schon fast aus dem Rahmen an Leoniden-Songs. Welche musikalischen Einflüsse bringt Ihr auf Eurem neuen Album zusammen? 

Jakob: Jeder von uns ist in einer gewissen Hinsicht musikalisch sozialisiert worden. Was sich uns allen ins Hirn gebrannt hat, ist der Punk-Rock der 2000er. Aber auch Michael Jackson beispielsweise. Wenn man sich als Musik hörender Mensch verschiedene Genre zuführen kann, gilt das für eine Band ebenso. Es wäre sehr unmodern, als Band zu beschließen, den selben Song einfach 200-mal zu produzieren und dann zu sagen, damit haben wir uns künstlerisch ausgefüllt.

Lennart: Auf der neuen Platte haben wir uns überhaupt nicht mehr an Grenzen gehalten. Wir haben vieles ausprobiert und so finden sich darauf viele Extreme, die wir uns früher nicht getraut hätten, einzuspielen. Diese Bandbreite lässt einen Song wie „Funeral“ zu, dennoch ist er auf gar keinen Fall ein Extrem der Platte. Von „Funeral“ kann man in jede Richtung gehen und einen passenden Song dazu finden – der Track ist das Zentrum.

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Ist COMPLEX HAPPENINGS REDUCED TO A SIMPLE DESIGN ein Corona-Album?

Lennart: Es ist kein Corona-Album. Wir haben 2019 angefangen, daran zu arbeiten. Zu diesem Zeitpunkt wusste ja noch niemand, was 2020 auf uns zurollen würde. Die Corona-Krise hat natürlich im Laufe der Aufnahmen mit reingespielt, denn wir haben sie an allen Ecken und Kanten zu spüren bekommen. Aber wir behandeln Corona thematisch so gut wie gar nicht auf der Platte. Bedingt dadurch, dass alle Festivals und Touren ausfielen, hatten wir auf einmal Zeit. Diesen Puffer, von einem Jahr mehr, konnten wir voll und ganz in die Platte stecken. Wir konnten viel mehr Dinge ausprobieren und haben es auch immer weitergetrieben. So gesehen ist es vielleicht schon ein Corona-Album und so blöd es klingt, aber ich denke, die Platte hat wahnsinnig profitiert von der Krise.

Jakob: Wir wollten dem Jahr einen künstlerischen Wert geben. Denn wir konnten aus gutem Grund nicht mehr dem nachgehen, was uns ausmacht. Allein, dass es ein Doppel-Album geworden ist, sagt vieles. Wir spielten die Songs in mehreren Etappen ein, denn die Pandemie zwang uns teilweise dazu. Die Aufnahmen waren Wochen vor der letzten Songauskopplung fertig und wir alle 100-prozentig zufrieden. Der Release liegt noch sehr weit in der Ferne, aber für uns greifbar nahe, denn wir brauchten diesen Fixpunkt.

„Wir sind extrem auf Entzug.“ – Lennart Eicke, Gitarrist der Leoniden

In welchem Maße wirkte die Pandemie noch unmittelbar auf Eure Arbeit ein?

Lennart: Bisher haben wir unsere Alben zwischen Tour und Festival aufgenommen. Jakob musste teilweise, spät am Abend nach Hamburg fliegen, um Songs einzusingen.

Jakob: Genau einmal, aber ja, vom Gefühl her stimmt das. (lacht)

Lennart: Wir hatten viel um die Ohren. Denn immer stand eine Tour an, wegen der wir fix das Album aufnehmen mussten. Sonst wäre sie sinnlos gewesen. Die Platte muss zu einer Tour kommen. Einerseits schreiben wir Musik, um auf Tour zu gehen – das gehört für uns unmittelbar zusammen. Andererseits verkaufen wir als Indie-Band die meisten Platten auf Tour. Es wäre für uns wirtschaftlich ein Desaster, würde unsere Platte im Frühjahr rauskommen. Den Rausch, sich die Platte nach dem Konzert zu kaufen, brauchen wir. Damit wir irgendwie als Band stattfinden können, müssen wir jedoch bis September Singles rausfeuern.

Habt ihr Euch auch wegen jener Euphorie, die entsteht, wenn Indie-Pop auf Moshpits trifft, dazu entschieden, gleich noch eine Tour für 2021 anzukündigen? 

Jakob: Die „Lopping-Tour“ wäre im Oktober gewesen. Nachdem wir sie einmal verschieben mussten, war uns klar, wir verschieben sie komplett und benennen sie gleich noch um. Die Gefühle, die wir live kommunizieren und auch selbst empfinden, fehlen uns selbst am meisten. Deswegen ist es schön zu wissen, dass jeder Song, den wir in nächster Zeit herausbringen werden, auf diese Tour hinausläuft.

Lennart: Wir sind extrem auf Entzug. Aber vor allem fehlt uns das Feedback. Auf Konzerten sieht man schnell, wie die Songs bei den Leuten ankommen, mit dem Release der Singles sind wir auf irgendeine Art und Weise an Feedback angewiesen. Sowas sind wir gar nicht gewöhnt, denn wir waren von 2016 an jede freie Minute auf Tour. 100 Konzerte pro Jahr und dann plötzlich gar keins mehr.

„Das erste Mal in unserer fünfjährigen Bandgeschichte mussten wir vermehrt mit Rückschlägen umgehen.“ – Lennart Eicke

Wie steht es nach fünf Jahren Bandgeschichte um Eure Freundschaft? 

Lennart: Das beantworte ich dir unter vier Augen. (lacht)

Jakob: Die Krise hatten wir schon nach den ersten anderthalb Jahren überstanden. Damals hockten wir super viel aufeinander. Nach langer Zeit auf Tour schlug es in ein brüderliches Verhältnis zueinander um. Wir konnten uns über die Macken der anderen lustig machen und ich wüsste nicht, ob sich das je ändern wird.

Lennart: Dieses Jahr hat uns ganz entgegen jeglicher Annahmen noch enger zusammen gebracht. Das erste Mal in unserer fünfjährigen Bandgeschichte mussten wir vermehrt mit Rückschlägen umgehen. Es war eine Art Bewährungsprobe. Eine Zeit lang wurden die Konzerte immer größer und dann kam 2020. Ich denke, wenn es einen Zeitpunkt gegeben hätte, in dem man sich zerstreiten hätte können, dann läge dieser lange zurück.

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Wann wollt Ihr den nächsten Song vom neuen Album auskoppeln?

Lennart: Normalerweise haben wir einen perfekten Plan und dann geht’s los. Nun ist es so, dass wir nicht wissen, wann die nächste Single kommt, vermutlich aber Anfang nächsten Jahres. Genaueres hängt davon ab, welche Single wir auswählen, was noch in den Sternen steht. Dazu kommt, dass jene Auswahl auch vom Videodreh abhängt. Bei den letzten Malen grätschte uns der Lockdown dazwischen und so musste wir das Video zu „Funeral“ beispielsweise zeichnen.

Jakob: Wir lernten in diesem Jahr, eine gewisse Flexibilität mit unserem Plan an den Tag zu legen. (lacht) Es gab Zeiten, da stand unser Single-Timing schon bevor es ins Studio ging.

Lennart: Wenn wir jetzt sagen würden, der nächste Song kommt am 28. Januar raus, würde es sicherlich jeder andere Tag im Jahr werden, nur nicht der 28. Januar. (lacht)

„Funeral“ erschien am 04. Dezember, ihr drittes Studioalbum COMPLEX HAPPENINGS REDUCED TO A SIMPLE DESIGN kündigten die Leoniden für den 20. August 2021 an.