Marvin Gaye: Trouble Man


„Als Baptisten-Prediger hat Marvin Gaye sen. wahrscheinlich nicht mitgezählt, wie oft ihm das biblische Gebot ‚Du Sollst Nicht Töten‘ über die Lippen ging…“ So leitete das schwarze Magazin „Jet“ seinen Nachruf auf Marvin Gaye jr. ein, einen von vielen, die mir im Laufe der letzten Wochen in die Hände gefallen sind, einem der besseren, das sei fairerweise gesagt.

Von den meisten habe ich die Bilder genauer studiert als die Worte. Bilder sprechen oft die deutlichere Sprache – und hier tun sie es in besonders krasser Form… Menschen-Trauben, die sich um die Villa von Gayes Eltern im luxuriösen Wilshire Distrikt von Los Angeles gebildet haben – jene Villa, die Marvin im Frühjahr 82 wieder bezog, um näher bei seiner schwer erkrankten Mutter, der 73jährigen Alberta Gaye, zu sein; Bilder von seinem Vater, 69 Jahre alt, Pentacostel-, nicht Baptisten-Prediger, wie „Jet“ irrigerweise angab – der in Hand schellen und gesenkten Hauptes abgeführt wird und jetzt auf seine Anklage wartet.

Der Grund des Streits zwischen Vater und Sohn – eine Versicherungs-Police – ist so idiotisch, als hätte ihn die Regenbogenpresse erfunden. Die beiden legen sich in Marvins Schlafzimmer miteinander an, Marvin drängt seinen Vater gewaltsam auf den Flur hinaus, der kehrt wenige Minuten darauf mit einer Pistole, 38er Kaliber, zurück und schießt seinem Sohn zweimal in die Brust. Seine Mutter, die einzige Augenzeugin, verständigt die Ambulanz. Um 1 Uhr mittags wird sein Tod festgestellt.

Danach folgt eine Beerdigung, die keine war. 23000 Menschen überfluten den Friedhof. Stevie Wonder steht an Marvins Grab und singt. Vorhang zu, die Welt schüttelt ihr Haupt in kollektiver Ergriffenheit. Gott im Himmel. Marvin Gaye ist tot!

Marvin Gaye war nie mein Lieblingssänger. Aber er war nahe dran. Als er in den 60er Jahren zu Motowns School of Cool gehörte, hatte er nicht ganz soviel Flash wie die Jackson 5, nicht ganz soviel Feuer wie Gladys Knight und ihre Pips; später kam mir Gregory Isaacs, der dieselbe sandpapierrauhe Stimme hat, konstant so vor wie Marvin Gaye zu seinen besten Tagen.

Aber es war eigentlich egal, ob man ihm im Laufe der Zeit Bill Withers oder Bobby Womack, Tyrone Davis oder Lamont Dozier vorzog – Gaye hatte immer Qualitäten, die ihm Respekt abverlangten. Seiner Unberechenbarkeit und rückhaltlosen Ehrlichkeit hat er alle Höhen und Tiefen, alle Triumphe und Tragödien seiner Laufbahn zu verdanken.

Es gab Zeiten, zu denen es so aussah, als sollten seine Platten die Top 30 nie verlassen; andere, in denen ihn seine Plattenfirma und der Rest der Welt aufzugeben schien. Er hat mit Koks und Glücksspiel ein Vermögen verpulvert, zwei Ehen sind ihm zerbrochen, er hat teure Scheidungsprozesse geführt, war einmal bankrott, stand mehrmals kurz davor.

Aber er hat sein Leben immer vor uns ausgebreitet wie ein offenes Buch, sein Innerstes nach außen gekehrt. Ich glaube nicht, daß es irgend jemand noch einmal fertigbringt, so persönliche Musik zu machen.

Geboren wurde Marvin Pentz Gaye vor 45 Jahren in Washington, gefestigt wurde seine Stimme wie die so vieler farbiger Sänger – im Kirchenchor. Im Kirchenchor seines Vaters, um genau zu sein. Er war drei, als er dort begann, acht, als er mit seinem Bruder Frankie Spirituals im Duett sang und Instrumente lernte. Zunächst Kirchenorgel, dann Piano, Gitarre und Schlagzeug. Es folgte eine längere Zeit bei verschiedenen Doo Wop-Bands, bevor er sich, dem Willen seines Vaters beugend, der US-Air Force zuwandte. 16 war er damals. Allzu lange hielt es ihn nicht in der Armee Bereits 1957 kam er – unehrenhaft entlassen – nach Washington zurück und stellte seine eigene Band zusammen, die Marquees, mit denen er seine erste Single „Wyatt Earp“ aufnahm.

Zur selben Zeit steckten die Moonglows, ein Vocal-Quartett aus Louisville, Kentucky, und eine der fuhrenden Doo Wop-Gruppen der 50er Jahre, in personellen Schwierigkeiten. Harvey Fuqua, ihr Anführer, entschied sich vom Fleck weg, die kompletten Marquees als Ersatz zu rekrutieren. Nachdem jedoch mit den umbesetzten Moonglows kein Staat zu machen war, setzten sich Gaye und Fuqua, mittlerweile zu engen Freunden geworden, nach Detroit ab. Beide heirateten sich dann sozusagen in das hinein, was wenige Jahre später zum Motown-Imperium zusammenwachsen sollte. In die Gordy-Familie nämlich. Fuqua vermählte sich zunächst mit Gwen Gordy, der Schwester von Berry Gordy (Motowns Gründer und Präsident), und Gaye folgte ihm wenig später mit der Heirat von Gordys anderer Schwester Anna. Beide standen bei „Anna“ unter Vertrag, einem Label, das von Gwen Gordy geleitet wurde – und das 1961 – nach einer Fusion mit zwei anderen Labels zu Tamla Motown wurde.

Marvin diente sich zunächst als Backup-Sänger (für Mary Wells und die Marvelettes) und als Session-Drummer hoch, zwei Jahre lang trommelte er für Smokey Robinson & The Miracles. Daneben versuchte er es, ohne viel Fortune, allein: „Let Your Conscience Be Your Guide“ hieß seine erste Single, THE SOULFUL MOODS OF MARVIN GAYE sein erstes Album – die zweite LP. die überhaupt bei Tamla Motown erschien.

Bergauf ging es in dem Augenblick, als sich Berry Gordy entschloß. Marvin mit Mickey Stevenson zusammenzubringen. Stevenson war der Ehemann von Motowns Mädchenstar Kim Weston und einer der erfolgverwöhntesten Produzenten des Labels. „Stubborn Kind Of Fellow“ kam dabei heraus, eine Platte, bei der Martha Reeves & The Vandellas mitwirkten, deren gellende Harmonien zu Marvins noch sehr rauhem Tenor ein angenehmes Gegengewicht schufen.

Es wurde sein erster Hit – und für Motown wohl auch ein Signal, ihn in Zukunft immer öfter zu Duetten zu überreden. Die nachfolgenden Singles – „Hitch Hike“ und „Pride And Joy“ (letztere schrieb er, wie er einmal sagte, „zu einer Zeit, in der ich schrecklich in meine Frau verliebt war“) entstanden ebenfalls unter Stevensons Kontrolle und trugen viel dazu bei, den späteren Motown-Sound zu formen.

Motown-Platten klangen immer großartig. Kein Sound hörte sich aus den gerade in Mode gekommenen Transistorradios besser an. Motowns Produzenten betonten vor allem die Höhen und die Tiefen ihrer Platten, schoben die Treble-Regler nach oben, verdickten den Baß, achteten kaum auf die mittleren Register – und trafen so ganz einfach die Frequenzen, die im Radio am besten wiedergegeben wurden. Wie gesagt. Marvins frühe Hits sind Musterbeispiele dafür.

Nach „Pride And Joy“ kam „Can I Get A Witness“ und eine ganze Latte mehr. „You’re A Wonderful One“, „Ho Sweet It Is To Be Loved By You“, „I’II Be Doggone“, „Ain’t That Peculiar“. Wenn Smokey Robinson, in dessen Karriere Gordy seine meiste Zeit investierte, Motowns Romantiker war – der Mann, der immer die richtigen Worte fand und eine Ballade bis zum letzten Tropfen auswringen konnte, dann war Marvin Gaye Motowns Romeo. Man werfe einen Blick auf die alten Coverfotos: Marvin sah in seinen schneidigen, knapp sitzenden Anzügen und mit dem ruhigen, gelassenen Erfolgslächeln immer überwältigend gut aus.

Und er hatte zu Recht gut lachen, denn seine und Motowns produktivste Zeit fielen praktisch zusammen. 1965 z.B. waren unter den 60 Singles, die Motown insgesamt veröffentlichte, 42 Hits. Berry Gordys Idee, Marvin von nun an regelmäßig zu Duetten heranzuziehen, war nur eine von vielen Entscheidungen, denen er es verdankt, heute der reichste Schwarze Amerikas zu sein.

Marvin wurde zuerst mit Mary Wells zusammengeführt, damals noch vor Diana Ross Motowns First Lady, mit der das Album TOGETHER und die Single-Hits „Once Upon A Time“ und „What’s The Matter With You Baby“ entstanden. Seine nächste Partnerschaft mit Kim Weston – ging trotz des begeisternden IT TAKES TWO nach zwei Jahren wieder in die Brüche. Aber die einsamen Höhen, die er anschließend mit Tammi Terrell erreichte, ließen alles verblassen, was er mit Kim Weston und Mary Wells zustande gebracht hatte. Wer sich an „Ain’t No Mountain High Enough“ nicht so lange berauscht hat, bis er es als eines, der herrlichsten Soul-Duette aller Zeiten in Erinnerung behält, für den gibt es wohl wirklich keine Hilfe mehr.

Marvin hatte Tammi, eine ehemalige Medizin- und Psychologie-Studentin aus Philadelphia, vor „Ain’t No Mountain…“ nie singen gehört, dennoch stand ihre Zusammenarbeit von Beginn an unter einem günstigen Stern. Sie wurden enge Freunde, Motown kommandierte die besten Songwriter und Produzenten zu ihnen ab (vor allem Ashford& Simpson)und das Duo fabrizierte zwischen 1967 und 70 einen Hit nach dem anderen: „If This World Were Mine“, „Ain’t Nothing But The Real Thing“, „You’re All I Need To Get By“, um nur die größten zu nennen.

Daneben gelang Marvin auch allein fast alles. „Too Busy Thinkin About You“ resultiert aus dieser Phase und auch „I Heard It Through The Grapevine“.

Der Verlust von Tammi Terrell, die an einem Gehirntumor litt, nach mehreren Operationen dann den Fehler machte, zu früh wieder aufzutreten und auf der Bühne in seinen Armen zusammenbrach – Marvin hat ihn nie überwunden. Auch in Interviews, die er Jahre später führte, kämpfte er mit den Tränen, wenn er auf dieses Thema zu sprechen kam. Tammi Terrell starb schließlich am 16. März 1970. 24jährig. Für Marvin stürzte eine Welt zusammen.

Er tauchte ein Jahr lang völlig unter, überdachte sein Leben, meditierte und schüttelte alles ab, was ihn vormals ausgezeichnet hatte. Verschwunden war der bartlose, rasiermesserscharf gekleidete Sunnyboy; Marvin Gaye verfiel in eine nachdenkliche und philosophische Gemütslage. Seine Wiederauferstehung – mit dem viel beschriebenen, beschworenen und bewunderten Album WHAT’S GOING ON – brach mit allem, was er vorher aufgenommen hatte.

„Ich befand mich in einer sehr kritischen Phase meines Lebens“, hat er einmal zu WHAT’S GOING ON gesagt.“ Tammi, die ich über alles geliebt hatte, war tot; mein Bruder wurde nach Vietnam eingezogen, hat den ganzen Holocaust dort miterlebt. Für mich war es eine sehr spirituelle Zeit.

Als ich die Platte fertig hatte, wußte ich, daß mir etwas ganz Besonderes gelungen war. Aber es bereitete dann doch Probleme, Berry Gordy zu der Veröffentlichung zu bewegen. Ich glaube, WHAT’S GOING ON stand am Anfang einer sozialen und musikalischen Revolution …“

Marvins nächste LP war der Soundtrack zu „Trouble Man“, einem jener schwarzen Thriller, die nach „Shaft“ und „Superfly“ in Serie produziert wurden. Und dann, in dem Augenblick, in dem sich alle mit dem Prediger und Propheten Gaye abgefunden hatten, schlägt er abermals eine Volte und singt bei LET’S GET IT ON… na, von Sex eben, nur von Sex. LET’S GET IT ON war eine Offenbarung; die beste Platte, die man bei gedämpftem Licht und heruntergelassenen Jalousien überhaupt auflegen konnte.

Noch im selben Jahr -1973 brachte ihn Motown für ein Duett-Album mit Diana Ross zusammen. Danach folgte eine dreijährige Pause, unterbrochen nur von der Veröffentlichung einer Live-LP, die bei seinen- ersten Konzerten nach sechsjähriger Bühnenabstinenz mitgeschnitten wurde. Er sperrte sich während seiner dreijährigen Pause dagegen, ein Studio zu betreten; seine Ehe mit Gordys Schwester Anna lag in Scherben; seine Abhängigkeit von harten Drogen war längst kein Geheimnis mehr.

Widerwillig rückte er schließlich mit I WANT YOU heraus, ein Album, das die schwüle, schmelzende Sensualität von LET’S GET IT ON nur unzureichend einfing – und das, wie er oft gesagt hat, von Berry Gordy regelrecht erzwungen wurde. Kurz danach ließ er sich von Anna scheiden und heiratete seine zweite Frau, Jan.

Die folgenden Jahre wurden von privaten Turbulenzen überschattet: Seine Beziehung zu Motown hatte sich abgekühlt, seine Schulden standen ihm bis zum Hals (allein bei seinem ehemaligen Manager stand er mit zwei Millionen Dollar in der Kreide); dazu kam, daß seine geschiedene Frau einen Prozeß gegen ihn anstrengte.

Marvin fühlte sich einmal mehr nicht imstande, neues Material zu schreiben, und ließ weitere drei Jahre verstreichen. Sein nächster Studio-Set, HERE MY DEAR, enthielt die wohl privateste Musik, die Gaye je verfaßt hat. Alles, was ihm seine erste Ehe gab, breitet er vor sich aus, die Ekstase, den Schmerz, die Agonie – ein fast schon absurder Akt von pathologischem Voyeurismus. Fast konnte man meinen, daß er sich so an Anna revanchieren wollte, die gerichtlich knapp 600000 Dollar von den Tantiemen dieses Album zugesprochen bekam.

Gaye schien HERE MY DEAR immer tiefer in den Abgrund zu reißen. Die Platte lief schleppend an, Marvin mußte sein eigenes Studio verkaufen, um eine Steuerschuld zu begleichen – und schließlich zerschellte auch seine zweite Ehe, als Jan nämlich zu Teddy Pendergrass, einem seiner besten Freunde, desertierte.

Marvin wird von Depressionen geschüttelt, wird immer unberechenbarer und fliegt für eine Zeitlang nach Hawaii, wo er in einem zum Wohnmobil umgebauten Lieferwagen einer Bäckerei sein Quartier aufschlägt! Im Spätherbst ’80 erscheint IN OUR LIFETIME, ein Album, das in seinem eigenen Studio in Los Angeles begonnen, in Honolulu weiterentwickelt und in London beendet wurde. Das Song-Material gehörte zum erlesensten, was Gaye seit LET’S GET IT ON gesammelt hatte, schwankte allerdings unter den etwas überholten Arrangements.

Gaye griff Motown in der Folgezeit immer heftiger an, sprach davon, daß die Company das Album bei der Abmischung völlig ruiniert habe – und es war klar, daß seine 20jährige Zusammenarbeit mit Motown kurz vor dem Ende stand.

Als er 1981 – ein Jahr, das er überwiegend in England verbrachte – soweit ging, bei einem Auftritt unter den Augen von Prinzessin Margaret Stunden zu spät zu erscheinen, war Berry Gordys Geduld erschöpft. Marvin ritt sich tiefer und tiefer in sein Unglück hinein, ließ Auftritte und TV-Shows platzen und schien sein Drogen-Problem immer weniger in den Griff zu bekommen. Bis ihn im Frühjahr ’82 Harvey Fuqua und Larkin Arnold in seinem belgischen Exil in Ostende aufsuchten.

Arnold ist der eigentliche Vater von Marvin Gayes dritter Karriere. Als Chef der „Black Music Division“ von CBS sorgte er dafür, daß Marvin einen Vertrag bekam und auch Geld hatte für die Tilgung seiner immensen Steuerschuld (angeblich eine runde Million Dollar). Das wiederum ebnete ihm die Rückkehr nach Amerika.

Im November ’82 liefert er dann seine MIDNIGHT LOVE-LP aus, eine Platte von der Macht eines Evangeliums; Soul, der alle Emotionen ausschöpft und durch die Sounds moderner Computer-Technologie gefiltert wird. Und „Sexual Healing“… die durchscheinende Klarheit der Produktion, die ganze Autorität des Arrangements und eine Vocal-Performance wie seit „Let’s Get It On“ nicht mehr – Marvin Gaye hatte endlich den Sprung in die 80er Jahre geschafft.

1982 spekulierte er noch offen über Selbstmord; „Als eine ehrliche Seele muß ich zugeben, daß ich mehrmals kurz davor stand. Ich war manisch depressiv, mitten in der tiefsten Ebbe meines Lebens …“ 1983 schien all das weit hinter ihm zu liegen. Er fand Ruhe mit sich selbst, ging auf US-Tournee, bereitete ein neues Album vor.

Im Februar ’84 flammten dann Gerüchte auf, die von einem sich zunehmend verschlechternden Klima im Haus seiner Eltern wissen wollten. Eine anonym gebliebene Frau stellte Anzeige wegen Körperverletzung gegen Marvin; Menschen, die ihm nahestanden, sagten aus, daß seine letzten Tage mit Phobien und Paranoia gefüllt waren. „Marvin hat wahrscheinlich gewußt, daß sein Leben zu Ende ging“, meinte sein ehemaliger Manager Andre White.

Möglich. Marvin Gaye hatte schon immer einen Hang zum Fatalismus, er glaubte an Gott, an die Macht der Fügung. Vielleicht hat er seinen Tod vorausgesehen. Daß sein Vater letztendlich dafür verantwortlich war – nun, ich glaube, das spielt dabei auch keine Rolle mehr…