Musik zum Lesen


Schon die Geburt gestaltete sich problematisch: Sauerstoffmangel, eine Gelbsucht und anschliessende Bluttransfusionen erschweren der kleinen Nancy den Start in ein Leben, das für sie auch in den folgenden 21 Jahren nur wenige Glücksmomente bereithält. Ein neurologischer Schaden wird zwar zunächst ausgeschlossen, doch wird immer offensichtlicher, daß Umwelt und Erziehung allein nicht verantwortlich gemacht werden können. Das unschöne Ende - sie stirbt mit einem Messer im Bauch in einem New Yorker Hotel kommt dennoch für alle Beteiligten fast wie eine Erlösung.

Sicher kein Einzelfall, nur fand der letzte Akt dieser Tragödie vor einer sensationslüsternen Öffentlichkeit statt: Nancy Spungen war die Freundin von Sie Vicious. der vermutlich auf ihren Wunsch die tödliche Klinge dirigierte, bevor er selbst – unfähig ohne sein weibliches Pendant das Leben zu meistern – mit einer Überdosis Heroin den Tod suchte und fand.

Den Leidensweg ihrer Tochter beschrieb die Mutter Deborah Spungen vor zwei Jahren in dem Buch „And I Don’t Want To Live This Life“, betitelt nach einer Zeile aus dem Gedicht, das Sid Nancy nach ihrem Tod widmete.

Jetzt liegt das Dokument unter dem Titel „Einstichpunkte – Eine wahnsinnige Sucht nach Liebe“ auch in deutscher Übersetzung vor. Titel und Aufmachung kokettieren zwar unnötigerweise mit einem Junkie-Image – Heroin spielt hier nur eine untergeordnete Rolle -, doch tut das der Textqualität keinen Abbruch.

Dies ist auch keine Geschichte über die Sex Pistols oder Punk: Nur in groben Zügen, teilweise faktisch falsch, streift Deborah Spungen die Punk-Histone aus einer Sicht, wie sie wohl typisch war für eine amerikanische Vorort-Familie.

Im Mittelpunkt steht der verzweifelte Versuch einer Mutter, ihrer Tochter ein lebenswertes Dasein zu ermöglichen. Präzise und eindringlich, in einer klaren und einfachen Sprache notiert Deborah Spungen die entscheidenen Stationen eines kurzen Lebens: Von Anfang an dominiert Nancy mit ihren Tobsuchtsanfällen das Familienleben. Sie ist ungewöhnlich intelligent, doch gibt es eklatante emotionale und andere Defizite: Freundschaften aufzubauen fällt ihr schwer, sie zu pflegen ist fast unmöglich; ein Studium scheitert, Jobs sind meist nur von kurzer Dauer; Extreme herrschen – mal strotzt sie vor Selbstbewußtsein, das urplötzlich in bittere Selbstzweifel umschlägt.

Als Nancy im Oktober 1978 endlich ihren Frieden findet, geht der Alptraum für ihre Familie weiter: Eine skrupellose Boulevardpresse und rücksichtslose Staatsanwälte verhindern, daß die offenen Wunden heilen.

Erst als auch Sid stirbt – und damit der von ihr gefürchtete Prozeß hinfällig wird – schöpft Deborah Spungen neuen Mut.

Auch die Arbeit an diesem Buch war für sie eine Form der Therapie: „Ich habe eine Mission gefunden. Ich versuche, anderen meine Alpträume zu ersparen.“

Dieses Buch hat mich über weite Strecken tief bewegt. (Droemer & Knaur, DM 19.80) Überhaupt scheint man bei Droemer & Knaur – Philip Normans Stones-Buch vom letzten Jahr war ein weiteres Beispiel verstärkt auf anglo-amerikanische Übernahmen zu setzen. Dagegen ist nichts einzuwenden, solang die Auslese Qualität und Aktualität zur Maxime erhebt. Momentan tut sie dies, wie auch die deutsche Übersetzung der Lennon-Bio „John W. Lennon“ von Ray Coleman beweist.

Bedenken gegen das Attribut „definitiv“ sind immer angebracht, doch Coleman (der lange „Melody Maker“ – Chefredakteur war und Lennon seit Liverpooler Tagen kannte), kommt dem zumindest sehr nahe. Nicht zuletzt, weil hier in großer Fülle Dokumentationsmaterial (Lennon-Briefe, Postkarten, -Zeichnungen etc.) erstmals zugänglich gemacht wurde, das mehr über Lennon aussagt, als viele gelehrte Abhandlungen zusammen.

Darüberhinaus konnte Coleman für den Textteil, der Lennons Weg mit kritischer Sympathie verfolgt, Unterstützung aus erster Hand gewinnen: So standen Lennons Tante Mimi und seine erste Frau Cynthia, (die auch einen großen Teil des oben erwähnten Materials zur Verfügung stellte) mit Rat und Informationen zur Seite. Hervorragend ausgestattet ist auch der Anhang, der Songtexte, eine ausführliche Chronologie bzw. Discografie etc. enthält. Ein Standard-Werk, an dem nicht nur Lennon-/Beatles-Fans künftig kaum vorbeikommen werden. (Droemer & Knaur, DM 36,-) Wir bleiben im Fab Four-Dunstkreis, schwenken aber kurz auf den britischen Buchmarkt hinüber: „The Beatles Conquer America“ heißt die fotografische Bestandsaufnahme ihrer ersten USA-Tournee, die Lennon & Co. Anfang ’64 nach New York, Washington und Miami führte. Dezo Hoffmann erinnert sich anekdotenhaft an die Entstehung einzelner Bilder und beschreibt das Ambiente der jeweiligen Orte vor dem Hintergrund der Beatlemania.

Etwas unglücklich ist allerdings die Bild-/Textaufteilung: Hoffmanns Memoiren werden, getrennt von den Fotos, komprimiert auf wenigen Seiten untergebracht. Das zwangsläufige Hin- und Herblättern stört den Spaß an diesem gelungenen Bild(-er)band letztendlich aber nur unwesentlich. (Virgin Books, ca. DM 25,-) Für den Rockpalast ms Werbehorn zu blasen, hab‘ ich mir eigentlich seit längerer Zeit abgewöhnt – besonders nachdem die letzte Ausgabe endgültig klarstellte, daß ein gutgebautes Äußeres offensichtlich als einzige Qualifikation für das weibliche Personal vorausgesetzt wird. Sei’s drum: Unter dem Motto „10 Jahre Rockpalast“ ist jetzt als Magazin eine leicht erweiterte Neuauflage des vor drei Jahren erschienenen Rockpalast-Buchs zu haben. Wer letzteres hat, kann sich den Re-Run denn auch getrost sparen. Wer nicht, hat hier die Chance zu einem kostengünstigen Einstieg in Manfred Beckers Fotografierkunst. Über die begleitenden oft selbstgefälligen Bemerkungen der „Macher“ kann man gegebenenfalls auch hinweglesen. (Editor-Verlag, DM 9,80) Der Rockpalast war jahrelang mit dem Namen Alan Bangs untrennbar verbunden, bevor er nach den Querelen mit Boss Rüchel die Zusammenarbeit aufkündigte. Besser: aufkündigen mußte – wollte er sich das entscheidende Quentchen Integrität bewahren, wie Bangs jetzt

in seinem Buch „Nightflights -Das Tagebuch eines Dee Jay“

deutlich macht: Die Auseinandersetzungen um das Little Steven-Interview waren schließlich nur der berühmte Tropfen, der das Faß endgültig zum Überlaufen brachte.

Dokumentiert ist hier auch jene denkwürdige BFBS-„Nightflighf‘-Ausgabe vom 25.8.84, in der Bangs seinen Gefühlen über die vorangegangenen Tage freien Lauf ließ: Bangs spielte lan Hunters „Bastard“ und widmete es einer bestimmten Person…

Im Grunde ist das nur ein extremes Beispiel für Bangs‘ Konzept, Persönliches durch eine bestimmte Musik auszudrükken, zu reflektieren, auch zu hinterfragen. Das ist es, was ich an Bangs immer geschätzt habe: Er lebt mit der Musik, die er vorstellt, sucht in und mit ihr Fragen und Antworten für seine eigene Existenz.

Von dieser Arbeitsweise lebt auch dieses Buch, das somit nicht nur im Titel bewußt an jene Radiosendung anknüpft, die zu seinem Markenzeichen wurde. Im Vorwort heißt es programmatisch: „Für mich hat es noch nie gereicht, zu wissen, daß eine Platte neu ist; sie muß mir zuallererst etwas bedeuten. „

Mit „Nightflights“ bilanziert Bangs ein Jahr (1984) seiner Arbeit: Kuriose Begegnungen mit Musikern (John Cale, Keith Richards u.a.) wechseln ab mit Erinnerungen, Musik Convoy-Episoden oder außergewöhnlichen Fanbriefen – eine Lektüre, die niemand bereuen wird.

ECON, DM24,-) Gleich zwei neue Ausgaben seiner „Idole“-Reihe lieferte Siegfried Schmidt-Joos ab: „Nachrichten aus seltsamen Träumen“ können in Band 4 (mit Beiträgen über Pete Townshend, Frank Zappa, David Bowie und den Travestie-Star Craig Rüssel) nachgelesen werden, während es in Band Nr. 5 „Nur der Himmel ist Grenze“ heißt und Jimi Hendrix, Sammy Davis und Keith Jarrett im Mittelpunkt stehen.

Obwohl meine grundsätzliche Kritik am Konzept bestehen bleibt, und auch die Auswahl der Idole gerade für jüngere Leser unbefriedigend bleiben muß, sind auch hier lesenswerte Beiträge enthalten, etwa Peter Urbans Townshend-Betrachtung oder das Hendrix-Porträt von Joachim Sonderhoff. (Ullstein-verlag, je DM 7,80) Das Medium Video hat die Musiklandschaft entscheidend verändert: PR-Clips haben nicht nur die Promotions-Mechanismen revolutioniert, auch die Produktion populärer Musik wurde nachhaltig beeinflußt: Nicht wenige Musiker, die heute ihre Songs schon mit der visuellen Umsetzung im Hinterköpfchen schreiben.

Logisch, daß auch die schreibende Zunft am Thema Video nicht vorbeikommt. Deshalb abschließend einige Neuerscheinungen zu diesem Thema:

„Rock Around The Cinema“

von Jürgen Struck erschien erstmals schon 1979 und liegt nun in einer überarbeiteten Taschenbuch-Ausgabe vor: Ausdrücklich kein Werk für Cineasten oder Theoretiker, sondern eher dem „normalen“ Clip-/ Rockfilm-Konsumenten gewidmet Diesem Anspruch wird das Buch denn auch gerecht, obwohl Strucks Definition für „Rockfilm“ wohl doch etwas zu weit geht: Der gesammelte „Eis Am Stiel“-Schwachsinn gehört für ihn genauso in dieses Genre wie auch Terence Malicks Teenager-Drama „Badlands“. Ansonsten brauchbar, wenn die Ansprüche nicht allzu hoch sind. Im Anhang gibt’s eine ausführliche Filmographie. (Rowohlt-Verlag, DM 14,80) Das Standardwerk zum Thema kommt allerdings aus Amerika: Michael Shores „Rolling Stone-Book Of Rock Video“

wurde nun auch in England verlegt und ist damit, über diverse Importeure, auch hier besser greifbar. Shore beschreibt die Ursprünge des Video-Booms, porträtiert die wichtigsten Regisseure, gibt einen detaillierten Einblick in die Produktion von Rock-Clips (u.a. am Beispiel der Dreharbeiten von Cindy Laupers „Girls Just Wanna Have Fun“) und stellt schließlich eine „Hot 100“ mit den innovativsten Rock-Videos vor.

Musikästhetische Fragen (Wie hat Video Rezeption/Produktion von Musik beeinflußt?) oder die kontroverse Diskussion unter Musikern über das neue Medium kommen auch nicht zu kurz und behalten auch künftige Entwicklungen im Auge. Wer beim Thema Video ernsthaft mitreden will, kommt an dieser Lektüre nicht vorbei.

(Sidgwick & Jackson, ca. DM 32,-) J.F.ELF P.S.: Wer an der Verlosung von 30 „Rockpalast-Büchern teilnehmen will, möge doch ein Schreibgerät greifen, seine ganz privaten Charts (für die Leserhitparade) und das Stichwort „Rockpalast“ auf eine Postkarte schreiben. Glück auf!