Neville Brothers: Willkommen im Voodooclub


New Orleans ist die einzige Stadt der USA, in der rund um die Uhr Alkohol ausgeschenkt werden darf. Hier geht's zur Sache, und dennoch sieht man kaum Betrunkene. Dafür sah ME/Sounds-Mitarbeiterin Gitti Gülden um so mehr von den Neville Brothers, den unumstrittenen Lokalmatadoren.

„Du wirst kaum schlafen,“ hatte mich Daniel Lanois gewarnt. „Eine Woche wird dir vorkommen wie ein kleines Leben. “ Lanois hatte den Nevilles 1989 zum Druchbruch verholfen. Die LP YELLOW MOON. die er dirigierte, brachte den vier Brüdern der „First Family Of Funk“ einen Grammy-Segen für ihren „Healing Chant“; Aaron Neville wurde darüberhinaus zusammen mit Linda Ronstadt für das Duett „Don’t Know Much“ ausgezeichnet.

Deshalb waren sie monatelang abwesend. Umso mehr feiert New Orleans die Gebrüder Neville jetzt wie heimkehrende Söhne: Kein Abend ohne Auftritt der Nevilles samt ihrer Kinder und Kindeskinder, die inzwischen auch schon die Bühnen der Clubs bevölkern.

Nur die Brüder selbst bleiben trotz des Rummels gelassen. Sie müssen Dutzende von Auftritten absolvieren und nebenbei noch letzte Hand an die neue LP BROTHER’S KEEPER legen. Also sausen sie zwischen dem örtlichen UltraSonic-Studio, den Soundchecks und Proben täglich hin und her und bleiben trotzdem cool. Es hat schließlich mehr als 30 Jahre gedauert, bis sie erreichten, was sie wollten.

„Unsere Eltern waren Musiker, aber nie professionell“, erinnert sich Charles Neville. „Es gab bei uns zuhaust kein Radio und kein Fernsehen. Dafür wurde immer abends Musik gemacht. Das ist in vielen Familien in New Orleans so – Musik ist einfach Teil des Lebens. Onkel George beispielsweise gründete eine Mardi Gras Indian Band. Er wurde ‚Big Chief Jolly Landry‘ genannt. Seine Band hieß Wild Tchoupitoulas. Und damit fing eigentlich alles an.“

Die urtümliche Musik von Gruppen wie den Wild Tchoupitoulas übt noch immer eine starke Anziehungskraft aus. „Ich bin im Grunde nur nach New Orleans gekommen, weil ich neugierig auf den Rhythmus der Stadt war“, erklärt Daniel Lanois seine Motivation, im „Big Easy“ arbeiten zu wollen. „Dieser Rhythmus“, sagt der Benjamin Cyril Neville. „ist der Rhythmus des Lebens. Das hängt mit den afrikanischen Ursprüngen zusammen, denn die Magie der Musik entwickelte sich aus den afrikanischen Religionen. Hier in New Orleans wurde Voodoo genau so praktiziert wie auf Cuba und Haiti. Jeder wußte es, doch keiner gab es zu. Die Rhythmen sind ganz eindeutig Voodoo-Rhvthmen.“

Aus den afnkanisch-kanbischen Rhythmen, dem R&B und der Straßenmusik der Mardi-Gras-Kapellen entwickelte sich die für New Orleans typische Musik-Mischung – vergleichbar mit Gumbo. einem dicken scharfen Suppeneintopf mit allen Ingredienzien der schwarzen Küche.

Art, Aaron, Charles und Cyril Neville fingen schon im zarten Kindesalter an, Musik zu machen. Aaron hatte Anfang 1967 mit „Teil It Like It Is“ einen Nummer-Eins-Hit. Im gleichen Jahr suchte der legendäre Produzent und Pianist Allan Toussaint für seine Studio-Sessions eine geeignete Band und trommelte dafür – samt Art und Cyril – die Meters zusammen. Sie sind auf Produktionen von Robert Palmer bis Labelle zu hören und spielten zweimal als Vorgruppe für die Rolling Stones. „Keith Richards sagte mir damals, er hatte in den 60er Jahren dauernd Platten von uns gehört. Wir wußten gar nicht, daß es außerhalb von New Orleans Platten von uns gab“, sagt Aaron Neville heute.

Da entschloß sich Art 1977, gemeinsam mit seinen Brüdern auch ein Stück vom großen Kuchen zu ergattern. Es sollte mit den Neville Brothers endlich mal bergauf gehen. Schließlich hatten sie schon genug Nackenschläge hinter sich. Charles hatte Anfang der 7Uer Jahre wegen zweier Joints drei Jahre im Knast gesessen und dort mehr gemalt als Saxophon gespielt. Heute sind seine Bilder ausgesprochene Sammelstücke. Aaron hatte immer Probleme mit Alkohol und Drogen, und Ende der 50er Jahre mußte er wegen Autodiebstahls zwei Monate absitzen.

Doch nach sieben Platten haben sich die Brüder mühselig die verdiente Anerkennung erschuftet und sind clean. Sie leben nicht mehr uptown in der Valence-Street, wo sie dereinst aufwuchsen – dort, wo heute noch bei Benny“s jeden Abend Stimmung ist wie auf einer Spitzen-Party, und das bis vier Uhr früh. Heutzutage spielen die Brüder, wenn sie denn schon mal in der Stadt sind, im legendären „Tipitina’s“, Napoleon, Ecke Tchoupitoulas Street, die der Band von Onkel George den Namen gab.

Beim „Tips“, wie die Einheimischen den „Tipitina’s“ liebevoll nennen, stehen die Leute für Neville-Konzerte um den gesamten Block Schlange. Wohl dem, der Cool Joe, den riesenhaften, schwarzen Türsteher mit dem Goldzahn, kennt. Der hat wenigstens eine kleine Chance, noch eingelassen zu werden, um „N’Aiwlns Finest“ im Schweiße ihres Angesichts zu erleben. Cyril hat übrigens mit den Kids Damian, Lyrica und Keurice eine „Next“ (beziehungsweise „Def“) Generation ins Leben gerufen. Und Charles frönt seiner Jazzleidenschaft mit der Formation Diversity. Seine Tochter Charmaine wiederum tritt fast jeden Abend im Snug Harbour auf der Frenchmen Street auf. Wenn Aarons Sohn Ivan zuhause ist, steigt er da mit ein.

Es läßt sich nicht leugnen: 1990 ist in New Orleans ein Neville-Jahr. Da erstaunt es. daß sie zwischen all diesen Aktivitäten eine neue LP aufnahmen. Die Vorab-Single „Bird On A Wireist der Titelsong eines gerade angelaufenen Films mit Goldie Hawn und Mel Gibson. Aaron zwitschert schöner denn je; Leonard Cohen wird begeistert sein, daß sein Stück endlich einen würdigen Interpreten gefunden hat. Und die Nevilles strahlen vor Zuversicht. „Ich glaube, wir werden mit dem neuen Album den Vorgänger YELLOW MOON noch weil übertreffen.“ Was Charles in seiner bescheidenen Art nur andeutet, ist für den heute 40jährigen Cyril eine klare Sache: „Wir kriegen wieder einen Grammy.“