PJ Harvey und John Parish: In jedem Song die ganze Welt


Man kann verzweifeln daran, dass die Kunstform Popalbum vor die Hunde geht. Oder man kann es machen wie PJ Harvey und John Parish: in jedes einzelne Musikstück noch viel mehr investieren.

Ein heterogeneres Duo ist kaum vorstellbar. Sie: ein schwarzer Paradiesvogel mit stechendem Blick und voller Energie, die unter der Oberfläche jeden Augenblick zur Explosion führen kann. Er: ein unauffälliges Genie, das seine Farbe intuitiv der Umgebung anpasst, sich duckt und hinter der Aura seiner Partnerin zu verstecken scheint. Sie gestikuliert und artikuliert sich impulsiv. Er ruht in sich selbst, überlegt lange, rührt sich kaum und formuliert seine Aussagen, als wollte er Fragen stellen. Seit 20 Jahren verbindet die beiden eine intensive Zusammenarbeit, die zum zweiten Mal in einem Duo-Album gipfelt. PJ Harveys Eskapaden sind Stoff für Legenden. Die Ausbrüche, Schrullen und Leidender so verschlossenen wie exzentrischen Musikerin aus Dorset waren immer wieder Futter für die Newsseiten. Spätestens mit der programmatischen Verklärung ihres letzten Albums WHITE CHALK (2007) versuchte sie diesem schrillen Imageein Ende zu setzen. Und jetzt galt es, eine weitere Zäsur zu setzen, um nicht aufs nächste Klischee festgelegt zu werden. So tat sie sich mit ihrem Produzenten und engsten Vertrauten John Parish zusammen. In dessen Band Automatic Diamini hatte sie 1988 frühe Banderfahrungen gesammelt, und mit ihm war sie bereits 1996 das Wagnis des Duo-Albums DANCE HALL AT LOUSE POINT eingegangen. Ein Jahrdutzend später ließen sich die beiden ihr zweites gemeinsames Album vom Leben selbst diktieren. Schon beim flüchtigen Hören fällt auf, dass das neue Ergebnis der Kollaboration namens A WOMAN A MAN WALKED BY überhaupt nicht wie eine zusammenhängende Platte wirkt. Jeder Song beschreibt sein eigenes kleines Universum, hat einen neuen Ausgangspunkt, spielt in anderen Zeiten und an anderen Orten. Keine zwei Tracks haben auch nur ein annähernd ähnliches Flair. Ein wildes Sammelsurium durchaus kurioser Rocksongs, von denen einige pedantisch ausgearbeitet und andere hingeworfen scheinen. Und doch ist da irgendeine geheime Kraft, die diese Mischung zusammenhält. Parish „kann zum Klang der neuen Platte nur sagen: Sie klingt sehr dynamisch und begibt sich an viele unterschiedliche Orte. Dennoch klingt sie immer noch wie ein komplettes Album. Es gab dafür aber keine bewusste Entscheidung. Wir begannen Songs zu schreiben, schickten Entwürfe und Ideen hin und her und wussten lange nicht, in welche Richtung es gehen soll. Wir gestalteten jeden einzelnen Song, ohne an die anderen Nummern des Albums zu denken. Dadurch breiten sich all diese Songs in so unterschiedliche Extreme aus.“

Nun ist diese Methode gerade für die Fundamentalistin Harvey und den passionierten Tüftler Parish ungewöhnlich, sind doch beide als Konzeptdenker bekannt, die jeder ihrer Platten den Rahmen eines genau umrissenen Sounddesigns verleihen. Doch 2009 ist eben nicht mehr 1996. Das Ende der Musikindustrie, wie wir sie kannten, wird anhaltend beklagt und der Wert einer Platte oder CD anders bemessen. Nie zuvor deckte sich das Selbst Verständnis der Künstler so wenig mit den Erwartungen ihrer Plattenfirmen. PJ Harvey reagierte angemessen: „Es ist extrem frustrierend, dass wir unsere bevorzugte Kunstform nicht mehr so präsentieren können, wie wir es gerne tun würden. Andererseits muss man Veränderungen akzeptieren. Ich bin mir bewusst, dass die Hörer keine ganze CD mehr von mir hören werden, sondern ein oder zwei Songs auswählen, die sie dann in ihrer persönlichen Playlist zwischen einer Reihe ganz anderer Stücke ablegen. Ich kann nichts dagegen tun, also muss ich irgendwie damit umgehen. Zum Beispiel indem ich in jedem einzelnen Song diese komplette Welt ausdrücke, die sich sonst über ein ganzes Album verteilt. Das birgt den Vorteil, dass wir jeden Track in sich absolut geschlossen und glaubwürdig gestalten können. In ihrer Gesamtheit wirken alle Songs dann wie ein Kommentar zum Leben an sich.“

In gewisser Weise rebelliert der Rock’n’Roll aktuell gegen sich selbst und wirft sich auf die Ästhetik einer Zeit zurück, in der nur Singles produziert wurden. Selbstverständlich gibt es nach wie vor viele Bands, die durchkomponierte Alben mit eigener Dramaturgie und sogar Konzeptalben produzieren, aber für PJ und John ist kein Konzept aktuell das revolutionärste Konzept. John Parish sagt: „Ich hasse es, wenn man bereits nach zwei Songs weiß, worum es auf einer Platte geht, und der Rest nur aus Füllern besteht. Mit solchen Musikern konkurrieren wir erst gar nicht. Wir haben uns einfach vorgenommen, jeden einzelnen Song mit so viel Magie auszustatten, dass er den Hörer in die Platte ziehen kann. Das ist keine Frage des Zeitgeistes, sondern der persönlichen Einstellung.“

seit ihrem ersten gemeinsamen Album hat sich viel für PJ und John verändert. Sie haben nicht nur viele verschiedene musikalische Erfahrungen gesammelt, sondern können sich, wie PJ sagt, inzwischen viel besser artikulieren und schnell auf den jeweiligen Punkt eines Songs kommen. Der größte Unterschied zu ihrer ersten Zusammenarbeit bestehe darin, dass sie selbst viel freier mit ihren kreativen Mitteln umgehen können. Wenn es auf dem Album überhaupt einen roten Faden gibt, was beide Protagonisten vehement bestreiten, dann besteht der eben genau in der exzessiven Auskostung jener schöpferischen Freiheit, die jeden Song bis an sein emotionales und expressives Limit führt. Eine Freiheit, die nur auf dem Weg der Improvisation und des spontanen Einsatzes aller zur Verfügung stehenden Mittel zum Erfolg führt, wie John Parish betont. „Ich hasse eigentlich Plattitüden wie Jch kanalisiere die Musik, die in der Luft liegt“, aber zuweilen greife ich tatsächlich einfach zur Gitarre und erfinde hintereinander fünf Songs, die für den Rest meines Lebens Bestand haben. Es ist ein Zustand, den ich nicht rekapitulieren kann. Im Gegensatz zu früher kann ich heute viel besser mit diesen Momenten umgehen, denn der Prozess nach der Improvisation ist niemals spontan, sondern immer genau überlegt.“

Ein Vorgang, der einfach dem Leben abgeschaut ist, wo es unablässig spontane Antworten auf die Herausforderungen des Alltags zu finden gilt. Indem sie einander weniger wegen ihres künstlerischen Erfahrungsschatzes als wegen ihrer menschlichen Stärke vertrauten, entdeckten Harvey und Parish in sich den Mut und die Fähigkeit, über ihre Grenzen hinauszugehen. A WOMAN A MAN WALKED BY ist ein Album voller Brutalität und Zärtlichkeit, das beim Hören ebenso viel Schmerz wie Glücksgefühl auslöst. Dieses Duo gibt Polly Jean Harvey nach eigenem Bekunden zugleich Freiheit und Sicherheit. Ein innerer Widerspruch, der zwar auf einer CD temporär kulminieren kann, auf lange Sicht jedoch nicht zu lösen ist. Ein drittes Album des Duos Harvey/Parish werden wir also wohl erst nach weiteren zwölf Jahren hören. Falls es dann so etwas wie ein Album überhaupt noch gibt.

www.pjharvey.net

www.johnparish.com

Konzertkritik ME 07/08

PJ Harvey und John Parish Harvey, 39. beginnt mit 17. Songs zu schreiben. 1992 erscheint ihr Debüt. Sie arbeitet mit Leuten wie Thom Yorke, Nick Cave und Josh Homme. Bislang hat sie acht Sludioalben veröffentlicht eines davon ein Duettprojekt mit John Parish: DANCE HALL AT LOUSE POINT (1996). Parish, Jahrgang 1959, spielt aber schon sehr viel früher mit PJ zusammen – 1988 in der Band Automatic Dlamini. Ihre Wege kreuzen sich danach immer wieder. Parish wirkt außerdem u.a. an Alben von Eels, Goldfrapp und Ciant Sand mit. Bis heute hat er zwei Soloplatten und einen Soundtrack veröffentlicht.