Absolute no beginners :: Kinostart: 30. Oktober

Es passiert fast nichts, wie in allen genialen französischen Filmen. Das Drehbuch basiert auf den Erlebnissen des französischen Zeichners Francis Paudras mit dem Pianisten Bud Powell im Paris der frühen Sechziger, wo schwarze, amerikanische Jazzmusiker schon immer Zuflucht vor Rassismus, Finanzterror und Oberflächlichkeit ihrer Heimat suchten und fanden.

Der Film spielt im Jahre 1959: Francis, ein junger Illustrator, verehrt den großen, alten Tenorsaxophonisten Dale Turner abgöttisch. Als er eines Nachts wieder am Fenster des Jazzclubs Blue Note kauert, um ein paar Takte der Musik aufzuschnappen, begegnet er ihm in einer Spielpause (r.). Dale ist schwerer Alkoholiker, der schon nach wenigen Glas Wein ins Delirium fällt. Doch manchmal kann er sich von seiner strengen Begleiterin davonstehlen und einen Passanten um ein Glas anhauen. Wie Francis.

Nach und nach entwickelt sich zwischen den beiden eine klassische Männerfreundschaft. Francis hilft Dale, vom Alkohol wegzukommen, Selbstbewußtsein zu entwickeln und neue Kompositionen zu schreiben. Dale gibt Francis‘ Leben einen neuen Sinn und inspiriert ihn zu kreativen Höchstleistungen. Als Dale nach New York zurückgeht, begleitet ihn Francis, um jedoch schon nach wenigen Tagen vor der Härte und Geschwindigkeit der neuen Welt zu kapitulieren und nach Paris zurückzukehren.

Trotz der fast minimalistischen Handlung hält „UM MITTERNACHT“ den Zuschauer über zwei Stunden in Atem. Die intensive Atmosphäre und die faszinierend scharf gezeichneten Persönlichkeiten schaffen eine Spannung, die tiefer sitzt als jeder andere filmische Thrill. Tavernier ist das Risiko eingegangen, nur die Rolle des Francis mit einem Schauspieler zu besetzen. Die Musiker läßt er von denen spielen, die diese Rolle schon gelebt haben: Von Herbie Hancock, Bobby Hutcherson, Wayne Shorter, Ron Carter, Tony Williams. Alles Musiker aus dem Miles Davis-Dunstkreis, die in den Sechzigern mit faszinierend atmosphärischen Platten den Sound des Blue Note-Labels prägten.

Und dann ist da natürlich noch Dexter Gordon als Dale Turner. Dexter Gordon, der auf dem Tenorsaxophon mit zwei Tönen mehr sagen kann als andere in ihrem ganzen Musikerleben. Auch er gehörte in den Sechzigern zu den Pariser Exilanten.

Gordon muß das vom Alkohol zerbrochene Genie nicht spielen — er ist es. Wenn er auf der Bühne des Filmclubs agiert, dann benimmt er sich exakt so wie bei seinen wirklichen Konzerten. Sein fast unbeholfener Gang und die schräge Mimik sind nicht gespielt; er lebt vor der Kamera, als gäbe es kein Drehbuch und kein Filmteam.

Man sollte den Film übrigens möglichst im Original sehen. Dexter Gordons Stimme ist nach jahrzehntelangen Alkohol- und Zigaretten-Exzessen nur noch ein rauhes, sonores Vibrieren, fast bis zur Unverständlichkeit phrasiert wie eine Jazzballade, die einem kalte Schauer über den Rücken jagt. Aber auch wenn er sich manchmal wirklich kaum auf den Beinen halten kann — Gordon strahlt einen unwiderstehlichen Charme und eine unerschütterliche Ruhe aus.

Um ihn herum hat Tavernier eine schon fast dokumentarisch authentische Atmosphäre inszeniert: Die billigen Hotelzimmer, die Parties in schäbigen Dachwohnungen, der Katakomben-artige Jazzclub, die hervorragend besetzten Nebenrollen und natürlich der formidable Soundtrack von Herbie Hancock — nichts scheint ge-: stellt. Die zwangs-1 läufig auftauchenden Klischees überzieht er nicht ins Plakative, sondern reduziert sie aufs Gewöhnliche.

Auch wenn Tavernier darauf besteht, daß ihm das Psychogramm der Beziehung zwischen Dale und Francis das Wichtigste gewesen sei – „ROUND MIDNIGHT“ wird zum Kultfilm, weil es eine der gelungensten Umsetzungen von Modern Jazz in Film ist. Mit etwas Pathos, aber weit entfernt von jeder Form von Kitsch.