
Mäzenatentum machte es möglich: Ein Jahr ohne Miete durften Can 1970/1971 auf Schloss Nörvenich nahe Köln leben, wohnen, aufnehmen und experimentieren. Kunstsammler Christoph Vohwinkel sei Dank. In jener Phase entstanden auch Teile der von Jono Podomore im Gespann mit Can-Mitglied Irmin Schmidt kuratierten Raritätensammlung The Lost Tapes – ein 3-CD-Set mit Unveröffentlichtem der Jahre 1968 bis 1977. Zusammengetragen aus rund 30 Stunden Material, das beim Abbau des alten Studios Inner Space von Can in Weilerswist entdeckt wurde. Nicht das erste Mal, dass die Krautrock-Wegbereiter ans Eingemachte gehen: Delay, das Ur-Debüt noch vor Monster Movie von 1968, erblickte erst 1981 das Licht der Welt. Schon 1974 hingegen kam die Raritätensammlung Limited Edition in den Handel, später erweitert auf Unlimited Edition. Diese Fülle an Ungehörtem ist schlicht den Aufnahmeriten von Can zu verdanken. Permanent liefen die Bandmaschinen mit, wenn improvisierte Sessions sich über Stunden hinzogen. Aus diesem Material filterten Keyboarder Irmin Schmidt, Gitarrist Michael Karoli, Schlagzeuger Jaki Liebezeit sowie Bassist und Elektronikbastler Holger Czukay ihre Songs. Manchmal sind das nur Schnipsel, aber eben auch ganze Passagen. In der famosen Wundertüte The Lost Tapes gibt es Erstaunliches zu entdecken: Viel Improvisiertes, aber auch Soundtrack-Impressionen sowie Live-Mitschnitte. Bis Ende 1969 war Malcolm Mooney der Sänger. Dann übernahm das Gesangsspontantalent Kenji „Damo“ Suzuki – ein japanischer Straßenmusiker, den Czukay nach Mooneys Nervenzusammenbruch vor einem Münchner Café aufgabelte. „Millionenspiel“, 1970 für Wolfgang Menges gleichnamiges kontroverses TV-Ereignis aufgenommen, eröffnet die Box mit den 30 hochwertigen Archivschätzen. Ebenfalls Auftragsarbeiten waren „Dead Pigeon Suite“ für die von US-Kult-Regisseur Samuel Fuller inszenierte „Tatort“-Folge „Tote Taube in der Beethovenstraße“, „Midnight Men“ für die TV-Serie „Eurogang“ sowie das für den Kinofilm „Ein großer graublauer Vogel“ entworfene 16-minütige „Graublau“. Stets präsent, im Studio und auf der Bühne bei Konzertmitschnitten wie „Spoon“ und „Mushroom“: Liebezeits und Czukays dicht gewebter Rhythmusteppich, Schmidts Keyboardwände und Karolis Gitarrenglissandi. Als 1977 Bassist Rosko Gee und Percussionist Rebop Kwaku Baah, beide Ex-Mitglieder von Traffic, zu Can stießen, sorgten sie für einen Schuss Afro-Funk in der Musik.
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