Album der Woche

Gauche

A People’s History Of Gauche

Merge/Cargo (VÖ: 12.7.)

Eine Geschichte der Gegenwart von unten, geschrieben in glorios wirbelndem Post-Punk von einer „Supergroup“ aus Washington, D.C.

„People’s History“ wird im Deutschen meist mit „Geschichte von unten“ übersetzt. Dass Geschichte mehr ist als die Handlungen großer Männer mit Puderperücken oder kleiner Männer mit Schnauzer, ist zwar mittlerweile eine Binsenweisheit. Für die aber linke HistorikerInnen in den 1970ern und 1980ern viele Kämpfe zu führen hatten. Geschichte von unten, das heißt: Geschichte aus dem Blickwinkel der Vergessenen zu schreiben, dem Blickwinkel derer, die in der Geschichte verloren gehen. Nicht Kolumbus „entdeckt“ Amerika – die Arawak sehen ein merkwürdiges Schiff vor ihrer Küste. Nicht die erfolgreichen Expansionen der Industriellen Revolution werden erzählt, sondern die sich brutal verändernden Lebensweisen der Näherinnen in den Textilfabriken. Und Gauche erzählen die Geschichte unserer Tage aus den Perspektiven derer, die in Systemen festhängen, die keine guten Absichten für sie in ihren Herzen tragen, aus der Perspektive von Frauen und Menschen of colour, denen diese Gesellschaft keine Unversehrtheit garantieren kann und will, aus der Perspektive aller, die überwacht werden, sobald sie das Haus verlassen, und aus den vielfältigen Überschneidungen heraus.

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Eine Geschichte von Gauche: Die Band ist keineswegs so neu, wie das „Debütalbum“ suggeriert. Im Grunde ist Gauche nämlich eine Supergroup. Oder, um es, vielleicht angemessen, ein bisschen weniger schwanz-rockig zu formulieren: Die Mitglieder von Gauche aus Washington, D.C., sind in der Szene keine Unbekannten. Sie spielen zum Beispiel auch in der euphorisch feuernden Band Priests – deren Album THE SEDUCTION OF KANSAS erst im April genau an dieser Stelle vorgestellt wurde, als „Platte des Monats“, was Schlagzeugerin Daniele Yandel hoffentlich den Ruhm einbringt, die Künstlerin mit den beiden am schnellsten aufeinander folgenden Sternenkriegsgewinner-Alben zu sein, wie sicher die Hausstatistik in der bald drohenden ME-Jubiläums-Ausgabe feststellen wird – oder bei den nicht weniger lichterloh fackelnden Downtown Boys. Sie sind Solo-KünstlerInnen, sie wechseln zwischen Projekten. Gauche ist in seiner DNA keine Gang, sondern ein Kollektiv, in dem FreundInnen miteinander Musik machen, die ihnen Kraft gibt.

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Ist es das Klima in Washington, D.C., das in unmittelbarer Nähe zum Trump’schen White House musikalisch wieder Brände legen lässt? Washington lässt sich ja bereits selbst seit den Siebzigern von unten erzählen – als Machtzentrum der Post-Macht, für die der hier entstandene Emo-Core steht. Bands wie Fugazi oder Rites Of Spring lehnten das Mackertum des Hardcore ab und ließen ihren Sound weicher werden. Priests und Gauche müssen heute wieder mit voller Härte zuschlagen, um sich freizumachen vom Backlash, der in den letzten Jahren zurückdrängt, was seit den Neunzigern gewonnen wurde. Und dann gibt es natürlich die lange Geschichte der Riot Grrrls, die vor dreißig Jahren in jenem anderen Washington, dem Staat im Nordwesten der USA, erstmals laut wurden und Themen in den Rock einbrachten, für die er
in seiner Männerhegemonie bisher blind war: Patriarchat und häusliche Gewalt.

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Natürlich ist wenig an dem Sound der Band neu. Gauche spielen Postpunk, wie er in den späten Siebzigern entstanden ist, und wo sie politisch advanced sind, sind sie musikalisch beinahe dogmatisch: So fühlte sich 1979 einmal die Avantgarde an, stoische bis steinzeitlich wirbelnde Rhythmen, schreiende, schneidende, drängelnde Gitarren. Ein Saxofon. Funk. Refrains als Peitschenhiebe, Zeilen als Schläge. Elf Songs sind auf A PEOPLE’S HISTORY OF GAUCHE zu finden, und elfmal spielen die fünf sich und HörerInnen in die Katharsis. „Lots of yelling, but also lots of groove”, beschreibt das Yandel, und das trifft es ganz gut.

Bei aller Wut, die durch die Musik strömt, ist sie nämlich doch in ihrem Wesen euphorisch. Das erinnert an eine andere große feministische Platte dieses Jahres, Stella Donellys BEWARE OF THE DOGS: Statt sich in machtlose Zerstörungswut zu zerrennen, bleibt ein Lachen über die Dummheit der Dummen und sich selbst auf den Lippen. Auch wenn die Gruppe in „History“ die koloniale Geschichte als Diskurs beschreibt, der sie unter sich begräbt oder sie in „Pay Day“ „I know I can’t survive like this“ mehr parallel schreit als harmonisch singt, will man intuitiv tanzen. Jedes Instrument drückt erbarmungslos auf einen Dancefloor, der sich aber gar nicht anders denken lässt denn als grober Beton oder brüchiger Asphalt. Die Musik macht schütteln und springen. Und Lust auf Aktion.

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Selbst wenn in „Copper Woman“ die Gruppe Bezug auf einen Schöpfungsmythos der Nation Nuu-chah-nulth in Kanada nimmt und damit auf den eigentlich recht konservativen feministischen Topos des Ur-Weiblichen abzielt, lässt sie ihren Witz nicht außen vor, entsteht hier doch neues Leben aus Schleim und Rotz – inspiriert ist der Song vom Schnupfen Daniele Yandels. Und trotzdem endet diese rohe Pop-Platte mit ihrem zackig-gloriosen Postpunk mit einer Ansage, die sich im energetischsten Track verbirgt, den die Band als Finale setzt: A PEOPLE’S HISTORY OF GAUCHE endet mit dem Wort „Kill“.

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