Jugend, Tod & Schwester

SONIC YOUTH

(1982) Geffen 3 Die erste Mini-LP der Band verrät noch wen ig von dem späteren Potenzial der Gruppe. Hier treffen sieh vier Musiker, die ihre Nähe zum Gitarrensinfoniker Glenn Branca eint, um ein programmatisches Experiment mit Rock und Strukturen der Minimal Music vorzunehmen. Die Nähe zum Fluxus und der von Brian Eno initiierten No-Wave-Szene um Bands wie D.N.A. wie Teenage Jesus & The Jerks ist unüberhörbar.

CONFUSION IS SEX

(1983) Geffen 3 Das erste Full-Length-Album von Sonic Youth wirkt wie eine Explosion in einer Kathedrale. Die Band definiert einen völlig neuen Raum im Rock, der ohne jeglichen Bezug zum Blues auskommt. Sie setzt ihren Minimalismus viel gezielter ein als auf ihrem Debüt. Mit neun Variationen über das gleiche Thema, um nicht zu sagen über denselben Ton manifestiert sich die artifiziellste und zugleich ekstatischste Form der Monotonie. Doch trotz aller spröden Exprcssivität ist CONFUSION IS SEX immer noch mehr Art als Punk, mehr Plan als Spirit. Es gelingt den Musikern noch nicht, loszulassen.

SONIC DEATH

(1984 Australia 1 Ein konfuser Zusammenschnitt von Liveaufnahmen aus den Anfangstagen in unerträglichem Sound, zu einem langen Track verknüpft. Obskur, und dennoch ganz offiziell erschienen. Keine Band der Welt, nicht einmal die experimentiertfreudigen Sonic Youth, würden eine solche Platte heute noch veröffentlichen. Selbst mit viel Wohlwollen ist diese dadaisusche Collage spätestens nach zehn Minuten unhörbar.

BAD MOON RISING

(1985) Geffen 4 Sonic Youth öffnen sich. Mit dem neuen Drummer Bob Bert wirkt die Band dichterund kompakter. Zum Kopf kommt der Bauch hinzu, zum zwanghaften und manchmal auch etwas gezwungenen Experimentiergeist gesellt sich Lust am frenetischen Krach. Die Band beginnt sich im eigenen Vokabular wohlzufühlen. Die Guitar Drones haben eine Dramaturgie, die Musikalität des Quartetts geht über bloße Statements hinaus. Das lose Thema der Platte: die dunkle Seite Amerikas. Mit der Charles-Manson-Allegone „Death Valley ’69“ hat die Band ihren ersten größeren Indie-Hit – mit dabei ist Lydia Lunch, die das Stück mit Thurston Moore schrieb und sang.

EVOL

(1986) Geffen 5 Das erste echte Rockalbum von Sonic Youth, das den späteren Standard definiert. Gleich der Opener „Tom Violence“ lässt keinen Zweifel daran, dass New Yorks Underground-Helden ihr Verständnis von Songs überdacht haben. Mit „Shadow Of A Doubt“, „Star Power“ und „Expressway To Yr. Skull“ folgen weitere Songs, in denen sich das reine Klangexpenment mit eingängigen Melodien und stimmigen Arrangements verbindet. Der Wille zur Kommunikation ist ebenso ausgeprägt wie das Vergnügen an Provokation. Und mit dem Schlusspunkt „Bubblegum“ lancieren Sonic Youth ihren ersten echten Surf-Song.

SSTER

(1987) Geffen 5 Ein Paradigmenwechel. Was einst Hauptsache bei Sonic Youth war-Noise, Drones, Interferenzen auf unterschiedlich gestimmten Gitarren -, wird plötzlich zur Granitur solider Songs. Das Album klingt weniger opulent als sein Vorgänger, fast wie ein Bekenntnis zur Simplizität des College-Rock. Songs wie „Beauty Lies In The Eye“ und das verführerisch sanfte „Kotton Krown“ lassen ungewohnt romantische Seiten der einstigen Bilderstürmer erkennen, doch mit Brechern wie „White Cross“ oder „Master-Dik“ beanspruchen sie weiterhin die Führerschaft der New Yorker Noise-Guerilla.

DAYDREAM NATION

(1988) Geffen 6 Das Album, das nicht nur für Sonic Youth, sondern auch für den gesamten Independent-Rock alles ändern sollte. Die Subkultur der 80er ist am Ende des Jahrzehnts plötzlich massentauglich und definiert die neue Jugendkultur. Mit dem komplexesten Album ihrer Bandgeschichte stellt die Band die Weichen für die 90er. Der Opener „Teen Age Riot“ formuliert das Aufbegehren einer ganzen Generation. Mit seinem Drive, der Dynamik seiner Riffs, seiner unverhohlenen Emotionalität und seinen infektiösen Melodien rutscht das Opus trotz seiner Länge von 70 Minuten wie eine einzige Eruption durch.

G00

1990 Geffen 6 Nach zweijähriger Pause gelingt es der Band, das Niveau von DAYDREAM NATION zu halten. G00 hat zwar nicht dieselbe konzeptionelle Dichte, dafür ist jeder Song des Albums ein potenzieller Hit. Das Cover von Zeichner Raymond Pettibon verleiht dem Album auch optisch jene Coolness, die von der Musik eingelöst wird. „Dirty Boots“, „Song For Karen“, „My Friend Goo“, „Kool Thing“ und „Cinderella’s Big Score“ sind perfekt geformte Songperlen. Zu jedem Song von GOO drehten Sonic Youth einen eigenen Videoclip.

DIRTY

(1992) Geffen 3 Nirvana hatten Sonic Youth den Rang abgelaufen, und die gingen nun mit Nirvana-Produzent Butch Vig ins Studio. Das Ergebnis kann nicht mit seinen drei Vorgängern mithalten. Erstmals wirken Sonic Youth etwas orientierungslos. Trotz einzelner Treffer fällt das Album auseinander und klingt wie eine halbherzige Hommage an die eigene Laufbahn. Der Titel ist aufgesetzt, denn der Sound ist eher clean. Dem Album fehlt die Gravitation, die alle vorherigen Platten ausgezeichnet hat. Dafür sind die Texte ungewohnt politisch.

EXPERIMENTALJET SET, TRASH&NOSTAR

(1994) Geffen 3 Das bis dahin konventionellste Album. Alle Songs sind solide, aber das subversive Gespür für

die Lücke fehlt völlig. Die einstigen Heroen der Subkultur machen ihren Frieden mit dem Establishment. Ihre Geschichte scheint erzählt, Sonic Youth drohen in komfortabler Position im Mainstream zu versacken. Einiges an dieser verhältnismäßig leisen Platte ist schön, aber fast nichts ist autregend. Selbst die wenigen Noise-Momente erstarren zur Pose.

WASHING MACHINE (1995) Geffen 4 Es gilt, verlorenes Terrain wiedergutzumachen. Auch wenn das noch nicht voll gelingt, beruft sich die Band doch zumindest wieder auf alte Tugenden. Man experimentiert mit Sounds und Gitarrenstimmungen, operiert innerhalb einzelner Songs mit unterschiedlichen Energie-Levels und lässt im letzten Song „Diamond Sea“, einer an sich wunderschönen Ballade, die geballte Ladungderklassischen SY-Drones auf den Hörer los.

ATHOUSANDLEAVES (1998) Geffen 5 Zehn Jahre nach DAYDREAM NATI-ON finden Sonic Youth zu ihrer Experimentierfreude zurück. A THOUSAND I.EAVES ist die Übersetzung von Mille Plateaux ins Englische – dem Namen eines führenden deutschen Electronic-Labels. Doch die CD ist auch eine Reaktion auf die aufkeimende Postrock-Szene um Tortoise und Trans Am sowie ein ferner Widerhall auf die modalen Improvisationen John Coltranes. Von dem griffigen Radio-Song „Sunday“ abgesehen, ist A THOUSAND LEAVES ein präzise strukturiertes Klangexperiment gereifter Avantgardisten.

SYR 4: GOODBYE 20″‚ CENTURY (1999) SYR 4 Die wichtigste Edition ihrer selbst verlegten SYR-Series, die die experimentellen Stadien von Sonic Youth featuret. Mit Gästen wie Christian Marclay und William Winant interpretieren sie Schlüsselwerke von John Cage, Christian Wolff, Yoko Ono, Steve Reich und anderen E-Komponisten. Eine derart genuine Annäherung einer Rockband an die zeitgenössische Klassik hat es nie zuvor gegeben. Erstmals ist Jim O’Rourke mit an Bord.

NYCGHOSTS& FLOWERS (2000 Geffen 3 Wie schon A THOUSAND LEAVES funktioniert auch NYC CiHOSTS & FLOWERS wie ein kollektiver Bewusstseinsstrom. Doch die Songs schwelgen dermaßen in Dissonanzen, dass die Grenzen zwischen den offiziellen Releases und der SYR-Series verschwimmen. Der Stempel von GOODBYE 20TH CENTURY ist unüberhörbar. Allerdings drängt sich zuweilen der Eindruck auf, es geht nicht wirklich um Klangsuche, sondern wie auf den frühen Alben um ein Statement, eine Provokation, ein Experiment um des Experimentes Willen.

MURRAY STREET (2002) Geffen 3 In ihrem Studio in der Murray Street in direkter Nähe von Ground Zero ist die Band unmittelbar von den Anschlägen des I I.September betroffen und verarbeitet ihren Schock. Jim O’Rourkes fette Produktion scheint Sonic Youth den letzten Push zu geben, die Band klingt so kraftvoll wie lange nicht mehr. Zugleich wirkt die CD jedoch überladen, unnötig flauschig und emotional neutral. Trotz gelungener Gitarrenlicks kann die zum Quintett aufgestockte Band von O’Rourkes Anspruch eines Pop-Albums nicht profitieren.

SONIC NURSE 2004 Geffen 4 SONIC NURSE klingt wie der zweite Teil von MURRAY STREET.

O’Rourke lässt sich auch diesmal von seinem Hang zum Perfektionismus verführen. Es fehlt dem Album an Poesie, doch das Songwriting ist erheblich besser als auf MURRAY STREET. Die Band klingt routiniert, aber nicht zündend. Kim Gordon ist mit vier Songs ungewohnt stark präsent, woher wohl auch der Albumtitel rührt. Mit der Ballade „I Love You The Golden Blue“ ist einer der schönsten Songs der Band-Geschichte dabei.

RATHER RIPPED 2006) Geffen 5 Die Veteranen der Innovation besinnen sich auf ihre Kernwerte. RATHER RIPPED ist das fokussierteste Album der Band seit 000. Wieder scheint die CD ausschließlich aus potenziellen Singles zu bestehen. Jim O’Rourke hat die Gruppe verlassen, und nach den beiden Vorgängern klingt das Stammquartett erfreulich reduziert. Kein Song wird mehr ausgebaut als unbedingt nötig. Das alte Feuer ist wieder da, die Gitarren suchen nicht nach der perfekten Summe ihrer Sounds, sondern erzeugen Reibung.