Kurz & Klein

Die jungen Frösche werden es gar nicht mehr wissen, so lange ist das her. Früher, Mitte der 90er, als es noch Helmut Kohl und keine Klingeltöne gab, grassierte einmal eine Seuche, von der haben gaaanz viele Leute gaaanz schlimme Pusteln bekommen. Die hieß „Lemon Tree“ und schuld daran war eine Band aus Schwaben namens Fools Garden. „Lemon Tree“ war der Inbegriff von turbospießigem Schunkelpop – und als solcher natürlich ein komplett unvermeidlicher Sommerhitohrwurm. Man litt viel. Jetzt gibt es wieder eine neue Platte von Fools Garden, die heißt READY FOR THE REAL LIFE (Edel), müßte nach dem Gesetz des Vorurteils natürlich die totale Katastrophe sein – und ist es nicht. Sondern enthält neben ein paar glitschigeren „modernen“ Stücken füllig und uneklig produzierten, recht sympathischen Eben-nicht-08/15-Pop/Rock mit ein paar feinen Melodien. Oasis, Travis und Eels gehört, Beatles eh schon immer. Und wenn „Cold“ auf der neuen Coldplay wäre, würd’s wohl kaum wer merken (na gut, Chris Martin vielleicht). Gerechtigkeit für Fools Garden! Und was machen die draus? Gehen im Vorprogramm von Hartmut Engler auf Tour. Doh!

Was waren das auch für Luxusprobleme, wegen eines harmlosen Kinderlieds wie „Lemon Tree“ so auf die Palme zu gehen. Goldene Tage, da tätowierte Lederriemenhanswurste wie In Extremo ihre Dudelsäcke noch in dunklen Subkultur-Hinterhöfen aufbliesen. Heutzutage veröffentlichen die tätowierten Lederriemenhanswurste auf WEA, die neue Platte heißt natürlich MEIN RASEND HERZ, ein Lied heißt natürlich „Spielmann“ und das Ganze ist natürlich genau die reaktionäre Eso-Ossi-Kacke (Verzeihung), die Leute, die ihren Sinn für Ästhetik beim Fleischer gegen ein Pfund Kutteln eingetauscht haben, für einen adäquaten Ausdruck ihrer emotionalen Großwetterlage halten können. Wenn der Mist parodistisch gemeint oder eine Zirkusnummer in Disneyworld wäre, wär’s weiß Gott schon schlimm genug. Grrrr.

Und was ist das hier? „Schreib bloß nicht so was, als wenn wir die größte Band waren, seit es Rockmusik gibt. Das ist uns viel zu dick aufgetragen“, haben die Jungs von Union Youth aus Rock City Bad Bentheim dem Infoschreiber für ihr Album THE BORING YEARS (Roadrunner/Universal) gesagt. Und der hat das brühwarm ins Info reingeschrieben. Da steht auch drin, daß es der Band peinlich wäre, heute noch darüber zu reden, daß Fred Durst sie mal vor Jahren für sein Label signen wollte. Na, dann sind Union Youth eben keine großkotzige Band, die abgestandenen Grunge mit Nirvana-Komplex spielt, sondern eine total bescheidene Band, die abgestandenen Grunge mit Nirvana-Komplex spielt. Wenigstens tun sie das kompetent. Aber, hallo: 2005?

Und hier: Desperate Housewife Melanie C arbeitet auf BEAUTIFUL INTENTIONS (Warner) weiter öffentlich ihr Post-Spice-Girl-Fame-Trauma ab, als eine Art Sexfox/Rockschlampe/Soullady, mit Beats, Gitarren und geschmerzten Balladen. Ich kann’s nicht mehr einschätzen, von wegen Wald vor lauter Bäumen: Wollen die Jugendlichen so was? Läuft das demnächst „heavy“ auf „M“TV und wird wie wild downgeloadet? Oder lachen sich alle nur noch duhn drüber?

Und was zum Teufel… ? Weil ihre Schwester Inga mit Zweiraumwohnung so viel Geld verdient, hat sich Anete Humpe jetzt auch einen Musikanten angelacht und präsentiert Ich und Ich mit ihrem Album ICH UND ICH (Universal). Das ist dann so Ersatz-R’n’B mit esoterischen Texten, die sich anhören, als sei Xavier Naidoo mit Hilfe einer ganz schlimmen Pille in eine Mitt-9oer-Koksfantasie von Thomas D. reingeraten („Ich bin aus Lava und aus Stein gemacht …“) und bezieht seinen einzigen Charme aus der Tatsache, daß Humpe die Ältere eine Gießkannenstimme hat. Woah.

Ah, endlich Linderung. Zwei umtriebige deutsche Labels schicken CDs, gottlob ohne Deutschpop. Von Marina, den Spezialisten für (manchmal allzu) geschmackvollen Pop, kommt THE YOUNG PICNICKERS (Marina/Indigo) des englischen Pop-Ästheten David Scott, der als The Pearlfishers auf diesem hierzulande mit sechsjähriger Verspätung veröffentlichten Album lauter schöne Dinge tut, die viel mit der Musik von Leuten wie Prefab Sprout, High Llamas, Divine Comedy, Byrds, Wings, Brian Wilson zu tun haben. Und von Hazelwood Vinyl Plastics kommen zwei lustige Platten, die schon allein mit ihrer spaßigen 5Os-Coverästhetik gute Laune machen. Zwei freaköse Kanadier und Wahl-Berliner namens King Khan und BBO machen auf THE KING KHAN AND BBQ SHOW (Hazelwood/Cargo) eine Rock’n‘ Roll/Rockabilly/Rhythm&Blues-Sause auf, die so lo-fi und g’schert aus der Besenkammer daherscheppert, als sei es keine Minute später als 1960. Und John Q Irritated um den Gitarristen, Sänger und – so die Legende – zeitweiligen New-Orleans-Exilanten Dirk Hess hauen auf TO OUR LETTER OF JUNE 29TH (Hazelwood/Cargo) eine recht spaßige und originelle, wenn auch nicht gänzlich unanstrengende Mixtur aus Höllenjazz, Cajun, Beats, Blues, wilden Horden von schön schräglaufenden Tröten und viel Tom-Waits-Geröhr zusammen. Das ist gut für Ohren, in denen noch Restschlacke von In Extremo und Melanie C hängt, müßte aber auch so Spaß machen.

Und dann war da noch LET’S FIND A REASON TO LIVE (Burning Heart/lndigo) von der Lost Patrot Band, einem Nebenprojekt von Dennis Lyxzen, das mit flockigdrahtigem, charmantem Spät-7Oer-Powerpop a la Billy Bragg, Elvis Costello zumindest in diesem Haushalt hier für deutlich mehr gute Laune sorgt als Lyxzens Hauptband The (International) Noise Conspiracy.