Nico The Frozen Borderline: 1968-1970 :: Dark Side Of The Ruhm
Singende Fotomodelle sind meistens eine Naturkatastrophe. Denn in der Natur prominenter Menschen – wie es Fotomodelle mitunter sind -ist häufig der starke Drang angelegt, sich in künstlerischen Bereichen zu verwirklichen, die sie aus Vernunftgründen besser meiden sollten. Man macht es ihnen ja auch oft zu leicht, diesen Prominenten. Die Entwicklung des Modells Christa Päffgen zur Musikerin Nico mag da zunächst exemplarisch erscheinen – die Dame kannte die richtigen, wichtigen Leute. Modefürsten etwa, Regisseure, Schauspieler, Popstars, Produzenten und bildende Künstler. Nur: Nico war kein ferngesteuerter Kleiderständer, den die Langeweile und wohlmeinende Hintermänner ins Plattenstudio trieben, sondern eine denkende, abenteuerlustige Frau, die zum Gesamtkunstwerk reifte.
Andy Warhol setzte sie ein legendäres Album lang The Velvet Underground vor die Nase, als Sängerin und spröde-erotisches Glamour-Girl mit kontinentaleuropäischem Snob-Faktor. Amerikas Kunstszene liebt so etwas bis heute. Eine langfristige Zusammenarbeit scheiterte an Lou Reeds Ego, und Nicos Solodebüt CHELSEA GIRLgeriet dann auch prompt zu jenem Leichtgewicht, das die kritische Pop-Welt erwartet hatte. John Cale, von Reed und The Velvet Underground zunehmend genervt, profilierte sich jedoch als großer Katalysator: Produziert vom eigensinnigen Waliser, fand Nico ihre musikalische Sprache, die mit ihrer Altstimme ebenso harmonierte wie mit ihrem harten deutschen Akzent: dekadente Folklore aus einem Land, in dem der November 47 Tage hat, in dem sich der Nebel kaum jemals lichtet. Eine romantische Gegend? Zum Teil. Aber auch eine gefährliche. Und ganz gewiss kein Fantasyreich der trivialen Sorte, mit edlen.
blassen Fräuleins, schwärzlich dräuenden Burgzinnen und kühnen Drachentötern. Dieses Land ist abgründiger, spiritueller und wesentlich unübersichtlicher. Gemalt von Hieronymus Bosch, vertont von Nico. Irgendwo zwischen mittelalterlicher Moritat, surrealistischem Noise-Folk und eisiger Junkie-Tristesse.
Das ist Musik, die ihrer Zeit rund zehn Jahre voraus war. THE marble index erschien 1968, desertshore zwei Jahre später. Zu einer Zeit also, als das Bedrohlichste, was die Popmusik zu bieten hatte, die vertonten Horror-Groschenheftchen von Black Sabbath waren. Kleine, harmlose Teufelchen im Vergleich zu Nico, der Hohepriesterin, denn Sabbath-Stoffwie „Iron Man“ oder „N.I.B“ ist unschwer als Fiktion erkennbar, während Nico den Anschein erweckt, all das, worüber sie singt, irgendwann einmal erlebt, gefühlt oder halluziniert zu haben. Was am heiligen Ernst ihres Vortrags liegt, an der emotionalen Zurückhaltung, die an Misstrauen grenzt. Und daran, dass sie keine Kirchenglocken bemühen muss, um einem gar grausige Friedhofsbilder ins Hirn zu projizieren: Bei Nico wird das Abgründige nicht inszeniert, es wird dokumentiert. Was dem durchschnittlichen Pophörer jener Jahre, der noch kurz zuvor die Welt mit Blumen retten wollte, wahrscheinlich mächtig Furcht einflößte. Nicht zuletzt auch wegen dieses scheinbaren Widerspruchs: Da singt eine Frau, die doch eigentlich das Zeug zum viel geliebten Popsternchen hätte, zur hochverehrten Schauspielerin oder auch nur zum viel fotografierten Luxusmodel, über „Frozen Warnings“, den „Janitor Of Lunacy“ und klagt „No One ls There“. Und zwar derart eindringlich, dass einem angst und bange werden kann.
Dass Nicos Musik damals kommerziell komplett unterging, ist also keine Überraschung – keines der beiden Alben kam auch nur ansatzweise in die Nähe der Top 100. Dass Nico Ende der 70er, als Gothic und Dark Wave Gestalt annahmen, als Pionierin gefeiert wurde, überrascht ebensowenig, the FROZEN BORDERLINE: 1968-1970 enthält auf zwei CDs die kompletten Alben THE marble index und desertshore sowie Demos und Alternativ-Takes, darunter auch bislang unveröffentlichtes Material. Oberflächlich betrachtet, ist es Musik für die Stunden zwischen Selbstmordplan und -ausführung. Doch unter der Oberfläche lauern sie, diese berückend schönen, poetischen Momente von beinahe meditativem Charakter-aufDESERTSHOREnoch häufiger alsauf THE marble index, das sich dank des verstörenden Violaspiels von John Cale zwar kontrastreicher, aber manchmal auch reichlich destruktiv präsentiert.
Radikal eigenständig ist diese Musik in jedem Fall, weshalb sie auch aus ihrem zeitlichen Kontext komplett losgelöst wirkt: Würden diese Songs erstmals heute erscheinen, wäre man geneigt, sie für eigenartiges, aber aktuelles Material aus der Antifolk-/Avantgarde-Ecke zu halten. Dass die ältesten Stücke dieses Albums aus einer Zeit stammen, in der Mondlandungen noch Science-Fiction waren, Computer so groß wie Schiffscontainer und die Rolling Stones junge Männer, hört man ihnen schlichtweg nicht an. Diese radikale Eigenständigkeit polarisiert natürlich auch, man kann diese Musik – eingehende Beschäftigung mit ihr vorausgesetzt – lieben oder hassen, ganz okay finden kann man sie nur schwerlich. Denn dafür versammelt sie zu viele Extreme, von zarter Anmut bis zu hässlicher Zerstörungswut, von friedvoller Zurückgezogenheit bis zu bedrohlicher Morbidität.
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www.rhino.com Discographie (Auswahl) 1967 The Velvet Underground & Nico ChelseaCirl lS68The Marble Index 1970 Desertshore 1973 The End
1974 June 1,1974
1981 Drama Of Exile 1984 Camera Obscura 1988 Fata Moreana – Nico’s Last Concert
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