Raymond Queneau – Ein Winter in Le Havre

Ende letzten Jahres erschien der dritte frühe Roman von Raymond Quenrau: EIN WINTER IN LE HAVRE – 1939 geschrieben und erst jetzt wieder so ausgezeichnet von Eugen Hemle ins Deutsche übersetzt, daß man staunen möchte. Der dritte frühe Queneau, doch die Vermutung, man würde jetzt mangels frischer, ausgereifter Produkte zweitrangige, unausgereifte ausgraben, ist falsch.

Ganz im Gegenteil. Diese ersten, recht kurzen Romane, die in keiner Weise so spektakulär wie etwa ZAZIE IN DER METRO oder AUTOBUS S sind, wirken sehr dicht und sehr zeitlos. Dieser Roman, entstanden zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, spielt wohl kaum zufällig zu Beginn des Ersten in Queneaus Geburtsstadt. Es ist ein in jeder Beziehung überaus kalter Winter, den Bernard Lehameau, die Hauptfigur des Romans, erlebt.

Bernard, 33 Jahre alt, Witwer, kuriert die Folgen einer ersten frühen Kriegsverletzung aus. Seine unbequemen Analysen der Kriegssituation, die in krassem Widerspruch zu dem stehen, was durch die Zeitungen verbreitet und von einem siegesbewußtnational denkenden Bürgertum begierig aufgenommen und mit noch mehr Pathos versetzt wird, machen ihn zu einem sanften Ketzer. Und obwohl diesen Lehameau so wenig zum Außenseiter zu prädestinieren scheint, nimmt er nach und nach diese Funktion, offensichtlich nicht einmal ungern ein. In der Straßenbahn freundet er sich mit Polo und Anette an und verbringt fortan seine Nachmittage mit dem siebenjährigen Jungen und dem frühreifen fünfzehnjährigen Mädchen. Er, dessen erste Frau bei einem Kinobrand ums Leben gekommen ist, entwickelt eine wahre Leidenschaft fürs Kino. Er liebt das Unpassende: Ausgerechnet einer nach Frankreich abkommandierten Engländerin muß der spröde Witwer seine Zuneigung stürmisch erweisen, ausgerechnet er auch muß zwischen halbphilosophischen Gesprächen mit einer skurrilen Buchhändlerin und zum puren Ritual erstarrten Familientreffen einen feindlichen Agenten enttarnen. Dies alles geschieht mehr beiläufig, immer in der Atmosphäre eisiger Kälte, die ganz gewiß nicht besser wird durch den aufgetürmten Wust kleinbürgerlicher Konventionen, Vorurteilen und Vorstellungen von Ehre, Volk, Vaterland und – natürlich Moral. In dieser Ballung hehrer Gefühle hat es der teilaufgeklärte Lehameau mit ein wenig Gefühl nicht leicht. Mehr als diesem gelingt es allerdings dem Autor Queneau, allerlei zu Recht der Lächerlichkeit preiszugeben. Und dabei schildert er nur das was ist.

Dieses Buch jedenfalls ist nicht nur munter zu lesen, sondern auch ein Musterbeispiel von guter Übersetzung – es macht Appetit auf mehr Queneau, und dem sollte man nachgeben.