Rock-Spezial

Eine turbulente Mixtur aus Electro-Funk und Techno-Pop spielt die Gruppe Chakk aus Sheffield, die mit TEN DAYS IN AN ELEVATOR (MCA-Import/TIS) ganz in der Sound-Nähe von Caharet Voltaire und A Certain Ratio liegt. Während die Songs der LP teilweise auf dem Fundament einer atmosphärischen Funk-Percussion arbeiten, strahlen die vier Kompositionen der beiliegenden EP mehr Spannung und Roheit aus und bewegen sich damit ganz in der Nähe früher Cab Voltaire-Dynamik. (4)

Nachdem sie gerade mit einer wiederaufbereiteten Disco-Version ihres Klassikers „Rock Lobster“ Erfolge auf dem Tanzboden der 80er Jahre feierten, melden sich die B-52’s nun zurück mit BOUNC1NG OFF THE SA-TELLITES (Warner Brothers/TIS): das Album wurde Ende ’85 aufgenommen, d.h. vorwiegend noch unter Mitwirkung des verstorbenen B-52’s Multi-Instrumentalisten Ricky Wilson, dem BOUNCING auch gewidmet ist. Sie machen wieder fröhlich-freche Pop-Musik, wobei leichte Funk-Passagen hier und da in das Sound-Bild einfließen. Zu den Höhepunkten gehören der schnelle Shuffle „Wig“ (ein Lied über die fliegenden Turm-Perücken, die auf den Häuptern der weiblichen Gruppenmitglieder schweben) und die Ballade-á-la-Madonna „Ain’t It A Shame“. Ein erfrischendes Pop Bonbon! (5)

Die Stranglers haben Geschichte: Bevor sie sich 1982 mit der LP FE-L1NE ins seichte Pop-Gewässer warfen, haben sie harten/kompromißlosen Rhythmus-Rock betrieben. OFF THE BEATEN TRACK (Liberty/ ASD) dokumentiert nun diese frühe Phase der Stranglers: Es gibt diverse Songs, die entweder als B-Seite ihrer Gründerjahre-Singles erschienen, oder aber Bestandteil der Schallplatten waren, die den ersten Alben der Stranglers als „free disc“ beigefügt waren; darunter so schillernde Momente wie „Old Codger“ (purer Captain Beefheart-Blues) und „Shut Up“, der kürzeste Rocker, den die Stranglers je aufgenommen haben (Dauer: 1 Minute).“(5)

THE MAN (Creation ‚Rough Trade) nennt der ehemalige Big In Japan-Musiker und spätere Bunnymen-Produzent Bill Drummond sein Debüt-Album; in Begleitung einiger Mitglieder der australischen Pop-Combo The Triffids ist dem Individualisten Drummond ein vielseitiges Werk gelungen, das sich mit Pedal-Steel-Gitarre, Violine und viel akustischer Gitarre zwischen spiritueller Musik und Country & Western-Pop bewegt. Eindeutig die persönlichste Platte des Monats! (4)

Ruhige, atmosphärische Gitarrenmusik spielt das Trio Digital Sex aus Omaha. Nebraska. Die räumlichen Soundlandschaften auf ESSENCE (Post-Ambient/Normal) erinnern sowohl an die Ambient-Experimente eines Brian Eno. als auch an den sanften Folk-Rock der Gruppe Feit. Warme Töne für kalte Räume. (4)

Aus dem westfälischen Dortmund kommt eine Formation, die eingehend alle Platten der Cramps studiert hat: The Raymen beherrschen die zerrende E-Gitarre. das monotone Kraft-Schlagzeug-Spiel und den verrückten/ überdrehten Aufschrei im Gesang. DESERT DRIVE (Rebel Recs./SPV) besitzt internationalen Voodoo-Standard! (4)

Robert Fripp ist bekannt/berüchtigt für seine manisch-intellektuellen Exzesse auf der Gitarre; so war es auch nur eine Frage der Zeit, wann der denkende Gitarrenkünstler endlich vor einem studentischen Publikum als Lehrmeister auftritt: Jetzt hat Herr Fripp tatsächlich in einem Studienseminar doziert — Studenten der akustischen Gitarre sollten all ihre professionellen Finger-Techniken über Bord werfen, um neue Wege des Gitarrenspiels zu erlernen. Nachdem das Instrument neu & unkonventionell eingestimmt war, trat der Meister in Begleitung seiner Studenten in der Öffentlichkeit auf: ROBERT FRIPP & THE LEAGUE OF CRAFTY GU1-TARISTS LIVE, so der Titel des Albums (E.G./Virgin), wurde bei diversen Aufführungen an der George Washington University live mitgeschnitten und präsentiert stimmungsvolle/getragene Gitarrenpassagen, die mit hypnotisierenden Wiederholungssequenzen arbeiten. Spirituelle Marsch-Musik für Kopf & Fuß. (5)

Phil Alvin ist ein anderer Gitarrist, der sich mehr an die Traditionen hält: Faszinierend & eigenwillig interpretiert Alvin auf UNSUNG STORIES (London Recs./IMS) Song-Material aus den amerikanischen 30ern — Blues. Bluegrass, Gospel und New Orleans Jazz sind die Quellen, auf die sich der Sänger/Gitarrist mit Leidenschaft & Kenntnis stützt. Und unter den Musikern, die Alvin. der Mitglied der Rockabilly-Band The Blasters ist. begleiten, befindet sich das legendäre SunRa Arkestra. (4)

Maureen Tucker (Ex-Velvet-Underground-Schlagzeugerin) und Jim Duckworth (Ex-Gun-Club-Ex-Panther-Burns-Gitarrist) gehören u.a. zu der Mannschaft, die der Blues-Einzelsänger Charlie Pickelt auf seinem Werk ROUTE 33 (Making Waves/ TIS) versammelt hat. Hier kann man merkwürdigen Country-Blues und eigensinnigen Rhythm-Boogie hören, wobei der Pickett-Gesang an Ray Davis (Kinks) erinnert. (5)

Die kalifornische Gitarrenband Pop Art legt mit LONG WALK TO NOWHERE (Line Recs./Intercord) ihr zweites Album vor: schöne, melancholische Westcoast-Pop-Songs, die sich mit einem kristallklaren Sound ins Ohr des Hörers schleichen. Eine perfekte Platte, der es aber leider an Momenten der Spannung fehlt. (3)

Zu den interessantesten Überraschungen des Monats gehört die zweite LP der Blue Aeroplanes, die nun endlich auch in Deutschland veröffentlicht wurde. TOLERANCE (Emergo/SPV) ist eine pulsierende Mischung aus rüdem Fall-Beat und zeitlosem Velvet-Underground-Charme. Der Höhepunkt tritt ein, wenn die Band das „Breakin‘ In My Heart“ von Tom Verlaine so intoniert, als wär’s „Waiting For The Man“ (von den Velvets). (5)

Der Pop-Veteran Bill Nelson produziert seit Jahren konsequent seine elektronischen Klang-Sinfonien mit fernöstlichem Sound-Einschlag. So schwebt der ehemalige Be-Bop Deluxe-Sänger und Multi-Instrumentalist auch auf ON A BLUE WING (Portrait/IMS) wieder durch die warme Atmosphäre japanischer Pop-Dramatik; vielseitige Peicussion-Parts sorgen für Antrieb und Abwechslung! (4)

Nach drei interessanten Singles präsentiert nun der Ex-und-nun-wieder-Wire-Baßmann Graham Lewis unter dem Gruppennamen He Said die Debüt-LP: HAIL (Mute/Intercord) läßt visionären Gesang mit elektronisch erzeugten Rhythmen kollidieren und ist unter Mitwirkung von B.C. Gilbert (Wire) und Brian Eno entstanden. (4)

Gleich zwei Alben liegen von den Scientists aus Australien vor: HEA-DING FOR A TRAUMA (Au-Go-Go/Rough Trade) ist eine hervorragende Retrospektive, die Einblick in die frühen Singles der Gruppe gibt, aber auch seltenes Songmaterial dokumentiert (darunter die beiden Cover-Versionen „Clear Spot“, dem Captain-Beefheart-Boogie, und „Raver“, das im Original von Alan Vega stammt). Das andere Werk. WEIRD LOVE (Karbon/Wishbone), präsentiert Aufnahmen der Jahre 1982—’85. die Anfang ’86 von den Scientists in einem Londoner Studio neu aufgenommen wurden. Beide Platten beweisen den Reiz des traumatischen Hard-Rock. den die Band mit Feuer & Gefühl spielt! (Beide: (5)

Tim Lee (von den Windbreakers) und Matt Piucci (von der Rain Parade) haben sich unter dem Namen Gone Fishin‘ zusammengeschlossen und ein sehr schönes Album eingespielt, das voller Eigensinn und kontrollierter Manie steckt: Das Duo singt sich durch einen aufreibenden Folk-Blues. der sich seine Nahrung aus dem ungewöhnlichen Einsatz der Gitarren zieht. CANT GET LOST WHEN YOU’RE GOIN‘ NOWHERE (Enigma/Intercord) ist eine psychedelische Perle! (5)

Kommen wir zum wahren Wahnsinn des Monats: Wem all die gotischen Rocker der Neuzeit (von Love & Rockets bis The Mission) zu zahm und langweilig erscheinen (was sie auch tatsächlich sind!), dem seien die folgenden Gruppen ans Herz gelegt. Die 5-Song-EP der Palookas hämmert mit elektrifizierter Psycho-Mentalität in den Haupt-Nerv eines jeden Anhängers moderner Voodoo-Klänge. Zwischen Clock DVA und Deviants!

Einen ähnlichen Nerv treffen die Creepers auf MISERABLE SIN-NERS; die Band des ehemaligen Fall-Bassisten Mark Riley praktiziert auf dieser LP einen rhythmischen Boogie-Ausritt zu den Quellen minimalistischer Rock-Musik, wobei hier der Vergleich mit Status Quo (was den Gesang betrifft) erlaubt sei und der Faszination keinen Abbruch tut! (Beide: Constrictor/EfA (5)

Und auch Nick Cave spuckt wieder exzentrische Töne: Der unruhige Sänger/Songschreiber öffnet zum x-ten Mal seine Pforten zum Reich der Finsternis & Melancholie! YOUR FUNE-RAL MY TR1AL (Mute/Intercord) ist eine kratzende Blues-Oper, die den bewährten Nick-Cave-Stil der morastigen Morbidität fortsetzt. Jetzt möcht ich den Mann endlich einmal lachen sehen!(4)