Rock-Spezialitäten

Zwei Veteranen der „bewußten Rockmusik“, die eine gemeinsame Vergangenheit mit Velvet Underground haben, melden sich wieder einmal mit Eigensinn zurück: der eine heißt Lou Reed und mischt sich mit jeweils einem Song unter diverse Interpreten, die sich mit unterschiedlichen Absichten auf zwei Alben versammelt haben: Lost In Stars ist ein von Hai Willner (er stellte im letzten Jahr That’s The Way I Feel Now zusammen, das Tribut an Thelonious Monk) inszeniertes Tribut an den 1950 verstorbenen Komponisten Kurt Weill. Das Spektrum der Weill-Interpreten auf diesem Album reicht von Tom Waits über Marianne Faithfull bis Sting. Lou Reed schließlich präsentiert eine faszinierende Version des Weill-Stücks „September Song“, das der Echo & Bunnymen-Sänger lan McCulloch bereits als Single veröffentlichte; doch Reed spielt diesen Song einfach überzeugender! (A&M/Polydor, 6) In ganz anderer Gesellschaft befindet sich Reed auf dem Soundtrack zum Travolta-Film „Perfect“: Seite an Seite mit den Pointer Sisters, Nona Hendryx und Wham! spielt er seinen Song „Hot Hips“ mit einem Gitarren-Solo, von dem Jeff Beck heute nur noch träumt. Reed rockt und swingt hier so locker, daß man sich dieses Album trotz der müden restlichen Song-Ware einfach zulegen muß! (Ariola, 5).

John Cale, der andere Veteran, schwingt nicht die Hüften, sondern kunstvoll seinen Kopf. Artificial Intelligence ist ein Meisterwerk der modernen Kammer-(Pop)-Musik: Musikalisch liegt das neue Album in der Tradition seines klassischen Paris 1919 – also vielschichtig strukturierte Songs, die traumatisch instrumentiert sind.

Cale arbeitet hier hauptsächlich mit den Musikern, die bereits auf der letzten, von Cale produzieren Nico-LP zu hören waren. Wenn einer es verdient, den Namen Psychedelia für seine Musik in Anspruch zu nehmen, dann ist es Cale! ARTIFICIAL beinhaltet genau den visionären Sound, den Jesus & The Mary Chain (bisher vergeblich) zu erreichen suchen. (Beggars Banquet/EfA Vertrieb, 6) The Fall und The Mekons, zwei Gruppen, die seit Jahren konsequent ihren unorthodoxen Weg gehen, überraschen mit ihren neuesten Songs: This Nation’s Saving Grace (Beggars Banquet) ist das bisher poppigste Fall-Album; es gibt eingängige Melodien und gefällige Gitarren-Schlagzeug-Passagen, die wild und schnell dahinjagen.“Paint Work“ fällt durch seine akustische Gitarren-Instrumentation aus dem Rahmen: eine bildschöne Ballade im Stil des Velvet Underground-Songs „Pale Blue Eyes“. (5) Fear And Whiskey, das neue Album der britischen Mekons, läßt die Gruppe auf ihrem bisherigen Höhepunkt glänzen: frenetische Gitarren, volkstümliche Violinen- und Fiedelklänge und whiskey-geschwängerter Gesang. Ein erstaunliches Werk, das Rhythm & Blues mit Folk-Elementen verbindet und immer hart an der Grenze zum rüden Minimal-Rock steht. Für mich das beste Album des Jahres. (Sin Records/Red Rhino, 6).

Eine faszinierende Synthese aus Soul, Blues und Rock’n’Roll präsentiert Sänger Bill Hurley auf Double Agent (Demon/TIS). Ob es nun seine einfühlsame Interpretation des Detroiter Soul-Klassikers „My Whole World Ended“ ist oder der von Johnny Guitar (der auch mitspielt) geschriebene Mitternachts-Blues „Double Agent“ – Bill Hurley liefert den Beweis, daß sich schwarze und weiße Musik auch jenseits des Hip-Hop-Funks elektrifizierend verschmelzen können. (5) Rüden Rhythm & Blues im Stil des frühen Gun Club spielen die Spikes aus Australien: Auf ihrem Mini-Album SIX SHARP CUTS (Hybrid/Wishbone) gibt es einen siebenminütigen Psycho-Blues („Hollywood“), bei dem die Feedback-Gitarre in keiner Sekunde zur Ruhe kommt. (4) Das australische Label Hot, Heimat der Triffids, Lighthouse Keepers und Celibate Rifles, veröffentlicht durch sein Londoner Büro einen eleganten Sampler, der dem europäischen Publikum einen repräsentativen Querschnitt des Label-Programms vermittelt: 13 Gruppen sind auf This Is Hot vertreten (Hot/Rough Tade, 4) Atmosphärische Popmusik mit Anleihen beim amerikanischen Garagen-Beat und beim englischen Psychedelia-Pop der Sechziger kommt von der Gruppe The Playn Jayn. Ihr Five Good Evils (ABC Records) wirkt aber trotz der melodiösen Eingängigkeit ein wenig gekünstelt – sowohl im Arrangement der Songs als auch im Gesang. Bisher bleiben sie nur live überzeugend. (3)

Everything Takes Forever heißt ein Zusammenschnitt von älteren Aufnahmen der Band Of Outsiders aus New York. Der melodiöse, verhaltene Gitarren-Rock erinnert in seinen stärksten Augenblicken an die unvergessenen Only Ones (erste LP-Seite) und an die ganz frühen Television (Seite 2). Unter den Gästen befindet sich der Ex-Patti-Smith-Iggy-Pop-Musiker Ivan Kral, der auch mitproduzierte. (L’lnvitation Au Suicide/Wishbone, 5) Mlnutemen, ein kalifornisches Polit-Punk-Trio, wendet sich mit Pjorject Mersh der ruhigeren Seite des Rocks zu. Auf Mersh (ein abwertender Slangausdruck für kommerziell) gibt es eine mit Bläsern geschmückte Minimal-Rockmusik, die in ihren politischen Texten ironisierend ist. Minutemen klingen dabei teilweise so rhythmisch wie Wire und so gemütlich wie Teardrop Explodes. Unter den Songs befindet sich eine dem Original nachempfundene Version von „Hey Lawdy Mama“ (Steppenwolf sangen es vor Jahren). (SST Records/ Wishbone, 4) Joe Pop-O-Pie nennt sich ein Rock’n’Roll-besessener Amerikaner, der vernarrt ist in die Feedback-Gitarren-Orgien vom Jimi Hendrix und den Blue Cheer, wobei er seine Songs so distanziert & individuell wie ein Kim Fowley singt. Auf Joeys Second Record (Subterranean Rekords) interpretiert er Grateful Deads „Truckin“‚ so schön manisch, daß man sich an Velvet Underground und Jonathan Richman zugleich erinnert fühlt. (5) Auch das amerikanische Rock-Trio Shockabilly greift sich wieder einmal Lieder von anderen Künstlern; auf Heaven (What’s So Funny About/EfA) sind es vor allem ihre Versionen von „Instant Karma“ (John Lennon) und „Life’s A Gas“ (vom T.Rex-Album Electric Warrior), die auffallen. Shockabilly schicken die Originale mit sägender Hendrix-Gitarre und jede Menge Kakophonie zur Hölle, wobei sich trotz des neu-psychedelischen Krachs im Sound immer wieder eine zarte Melodie aus dem brodelnden Inferno herausschlängelt. Jesus & Mary Chain haben hier geklaut. (5) Von den verblichenen 39 Clocks, Veteranen des Psycho-Beats in Deutschland, gibt es nun Cold Seel To The Heart (What’s So Funny About/EfA), eine schillernde Ansammlung von bisher unveröffentlichten Songs. Dieses Werk bereitet dem Hörer heute fast ebensoviel Freude, wie das V.U.-Album der Velvets, mit denen die 39 Clocks in Sound & Einstellung so manches gemeinsam hatten. (4) Duran Duran hatten einmal einen Klarinettenspieler namens Andy Burchell. Zusammen mit Musikern aus Birmingham hat er unter dem Bandnamen Bumbltes ein ausgezeichnetes Album auf dem Fundament elektronischer Klangbilder zusammengestellt. Bottoms Up! (Vindaloo/ Rough Trade) arbeitet auf verschiedenen Sound-Ebenen, die dennoch miteinander in Bewegung stehen. Da werden Erinnerungen wach an Soft Machine, an This Heat und an die frühen Scritti Politti. (5) Dem Bonner Normal-Label ist es zu verdanken, daß es nun endlich eine europäische Pressung des vielbeachteten Mini-Albums Fetalmania vom australischen Duo Fetus Productlons gibt. Jed Town und Sarah Fort spielen ihre mit Synthesizern,Gitarre und Baß orchestrierten Songs mal hartrhythmisch über einem schleifenden Electro-Beat, sie können aber auch sehr verträumt und melodiös, ja sogar folkig klingen. (5) Aus Schweden, wo die Bands den Garagen-Beat der amerikanischen 60er pflegen, kommen zwei Singles, die Trash-Rock vom besten dokumentieren: Cornflake Zoo mit Hey Conductor und The Backdoor Men mit Out Of My Mind (beide Tracks On Wax, 5).

Weitere Singles/Maxis: Balaam And The Angel veranstalten auf der B-Seite ihrer „Day And Nighf‘-Single eine Hetzjagd durch den Pophimmel; die vielgefeierten Woodentops rasen poppig und psychedelisch zugleich durch ihr Well Well Well – und „Spinning Round“ von Red Lorry Yellow Lorry setzt die einst düsteren Gotik-Rock-Anklänge auf Überschallgeschwindigkeit. (Alle Rough Trade, 4) Zu empfehlen ist die R.E.M.-Maxi „Can’t Get There From Here“, weil sich die Band hier beim bisher unveröffentlichten Song „Burning Hell“ ungewohnt manisch präsentiert – zwischen Alice Cooper und Twlsted Slster. (I.R.S./CBS, 5) Fad Gadget alias Frank Tovey gibt sich auf seiner Maxi „Luxury“ äußerst entspannt. Der schöne Popsong glänzt durch seine malerische Melodie, die über der treibenden Elektronik liegt. (Mute/Intercord, 5) Tom Morley, einstiges Ur-Mitglied von Scritti Politti, schlägt sich mit Who Broke That Love zum Calypso-Funk durch und kann mit seinem leichten, Heaven-17-Sound gefallen. (Zarjazz/Virgin, 4).