Rock-Spezialitäten
Amerikanische Ex-Punk-Bands suchen in der Rockgeschichte nach neuen Möglichkeiten, würzen ihre Energie mit Psychedelia, Folk, Heavy Metal und Rock und sorgen damit für eine Belebung der Musikwelt. Hüsker Du, das Trio aus Minneapolis, gilt seit dem Doppelalbum Zen Arcade als Geheimtip für Eingeweihte. Unter einem zischenden, gewaltigen Wall Of Sound des Gitarristen Bob Mould zeigten sich klassische, symmetrisch aufgebaute Rock-Melodien, getrieben von Grant Harts jagenden Drums und Greg Nortons präzisem Baß. Die schneidenden Töne sind auf der neuen LP Flip Your Wig leiser geworden, wodurch Melodien und der Harmoniegesang von Mould/Hart leichter hängenbleiben, doch die Schärfe des Trios bleibt unberührt. Vielleicht wie The Byrds auf Amphetamin (SST, 5).
Etwas gemächlicher geht es bei Turbo Hy Dramatics aus New York zu, doch auch ihr abwechslungsreicher City-Rock wirkt erfrischend genug, um öfter auf dem Plattenteller zu landen. Auf Set Fire To Yourself sind Einflüsse von Trash-Punk bis 60er Jahre zu hören, unbedingt empfehlenswert die gepfiffene Passage auf „Three Women“ (SPV, 4).
Altmeister Roky Erikson (13th Floor Elevators) hat in den USA eine neue Maxi produziert, die hierzulande nur bei ausgefuchsten Importeuren zu haben ist: „The Beast’7″Heroin“ hält die Versprechen seiner glänzenden Mini-LP Clear Night For Love (5).
Das neue Werk der Residents läuft als Teil 4 der Mole-Trilogie und zeigt Kaliforniens Ober-Kultisten in der Maske der imaginären Band Big Bubble, die in der Mole-Welt diverse Hits zu haben scheint. Über diese Band läßt sich sagen, daß ihr Sound stark an frühe Residents-Werke erinnert (Ralph/ US-Import, 4).
Das Trio Shockabilly, stets zwischen Genialität und totaler Albernheit schwankend, covert auf seiner LP Heaven Songs von John Lennon, Marc Bolan, Willie Nelson in nervenzerrenden Versionen. Ihre Eigenkompositionen sind ebenfalls für einen ganz bestimmten, unamerikanisch-subversiven Humor gemacht. Für Acidheads: (4).
Winston Tong, Amerikaner indonesischer Herkunft und Ex-Sänger von Tuxedomoon, bringt auf seinem Solo-Debüt Theoretically Chinese künstlerische Ambitionen mit tanzbaren, poppigen Tönen zusammen. Die Starbesetzung mit Alan Rankine (g/synth, Ex-Associates), Dave Formula (Synth, Ex-Magazine), Jah Wobble (Baß) sorgt für hohe Qualität, doch hätte Tong von Marianne Faithfuls „Broken English“ lieber die Finger lassen sollen. Für Romantiker: (4) (EfA-Vertr.) If You Can’t Please Yourself, You Can’t Please Your Soul lautet das etwas rätselhafte Motto des neuen Some Bizzare Samplers. Labelchef Stevo (der Mann, der Soft Cell, The The und Jim Foetus entdeckte) hat bisher unveröffentlichtes Material von Cabaret Voltaire, Marc Almond, Einstürzende Neubauten, Coil, Test Department und anderen, von ihm geförderten Künstlern zu einem Album kompiliert, an dem kein Interessent vorbeigehen kann. Die Musik ist extrem in jeder Richtung und fordert vom Hörer die Bereitschaft, den Klangmöglichkeiten von Buntmetall bis hin zu Streichquartetten unvoreingenommen gegenüberzutreten (EMI-Import, 5).
Ebenso merkwürdig klingt die Liebeserklärung der unbekannten Sängerin Angel Corpus-Christi: I Love New York nennt sie ihre Mini-LP und singt sich durch ein Repertoire jüngerer New York-Hits, die schon so manchen Teenager zum Big Apple gelockt haben dürften. „Redondo Beach“ (Patti Smith), „Blank Generation“ (R. Hell), „Cheree“, „Dream Baby Dream“ (Suicide), „Here Today Gone Tomorrow“ (Ramones), „Femme Fatale“ und das Taxi-Driver-Thema sprechen eine deutliche Sprache, wobei die brüchige Instrumentierung an Cabaret-Clubs denken läßt. Alan Vegas Gastauftritt liegt nur knapp über der Wahrnehmungsgrenze. Für die Idee: 3 (Rough Trade Import).
Nach der Auflösung von Tones On Tail arbeiten drei Ex-Bauhaus-Mitglieder nunmehr als Love & Rockets weiter. Mit dem Temptations-Song „Ball Of Confusion“ gelang ihnen ein Hit in In-Discos, doch mit ihrer neuen LP Seventh Dream Of Teenage Heaven wenden sich Daniel Ash, Kevin Haskins und David J einer innerlich ruhenden, gemäßigt psychedelischen Musik im Stile von Pink Floyd ca. 1970 – 73 zu. Zum Reinhören sei der Titelsong sowie „If There’s A Heaven Above“ empfohlen. Wie alle Neuveröffentlichungen des Beggars Banquet Labels im luxuriösen Klappcover mit Prägedruck, aber nur als Import erhältlich (3).
Rechtzeitig zur zweiten BRD-Tour kommen Alien Sex Fiend mit der dritten LP. Maximum Security überzeugt, weil die zum Trio
geschrumpfte Band hier darauf verzichtet, ihre manischen, acid-zerfressenen Horror-Comics einmal mehr mit dem Holzhammer zu verbreiten. Lärmende Dauertöne sucht man hier vergeblich, dafür ist Mr. Fiend & Co. ein untergründig spannender, wühlender Zombie-Soundtrack gelungen. Vorsicht vor schwarzen Löchern! (SPV, 5).
Ebenso vom Dunkelsten, doch gefärbt von bluesiger Traurigkeit und der romantischen Süße stechender Rosen klingen Crime & the City Solution auf Just South Of Heaven. Simon Bonney singt wie Jim Morrison, seine Texte porträtieren in samtener Sprache Einsamkeit und Verfall. Schneidend, aber immer geschmackvoll die Gitarre von Ex-Birthday Party Rowland S. Howard, dem Meister der Klangfarben in dieser düsteren Roman-Atmosphäre (Mute, 4).
Feit arbeiten seit einigen Monaten intensiv mit den Cocteau Twins zusammen. Als Ergebnis liegt nun die LP Ignite The Seven Cannons vor, produziert von Robin Guthrie und mit Liz Frazer als Gastsängerin. Felt-Sänger Lawrence gibt Lou Reed trotzdem nicht auf – und seine Texte sind nach wie vor lesenswert. Ein gut produziertes, ansprechendes Album nicht zu konventioneller Gitarrenmusik (Cherry Red, 4).
Meist ruhig und lyrisch klingt The Evening Visits von Ex-Laughing Clowns-Bassisten Peter Walsh und seiner Band The Apartments. Walsh stellt sich hier als Sänger, Gitarrist und Songwriter vor, begleitet von Bruce Carrick (drums), Cläre Kenny (bass, vocals), Ben Watt (g), Audrey Riley (cello) u.a. Die wenig eingängigen Songs erfordern ruhiges Zuhören und eignen sich gut für schöne Herbsttage (Rough Trade, 4).
Neue Gruppen des rührigen Londoner Creation-Labels (Entdecker von The Jesus & Mary Chain!) bringt der Midprice-Sampler Different For Domeheads: Primal Scream, Bodines, Slaughter Joe, Loft, Pasteis etc. sind allesamt das Reinhören wert, wenn man für britischen Gitarren-Pop zwischen Television Personalities und Jesus & Mary mehr als ein Ohr übrig hat. (Pastell 4).
Nach längerer Plattenpause kommt Neues von den berüchtigten Bollock Brothers: maskiert als The Four Horsemen Of The Apocalypse zelebrieren Jock McDonald & Co. neue Teufelsaustreibungen zu stampfendem Prolo-Disco-Beat. Nach „King Rat“ und „Mistress Of The Macabre“ rückt Jock sogar Alex Harveys altem „Faith Healer“ auf die Pelle. Leider sind die Gitarren zu leise und der Sequenzer zu laut (Charly/UK-Import, 4).
Etwas Neuestes Deutschland: Aus Dortmund kommen die Raymen, und sie nennen sich zu Recht nach Link Wrays wilder Rock n‘ Roll-Band der 50er. Going Down To Death Valley ist 100% manischer Rock, Rockabilly, Psychotrash mit akzentfreiem, englischen Gesang und verkürzt die Wartezeit auf die neue Cramps ganz erheblich (SPV, 4).
Nicht ganz so farbenprächtig wie das Cover klingt Phantom Strip, die neue LP von Pseiko Lüde & The Astros. Die brillante Live-Band klingt auf der ersten Studio-LP leicht gebremst und irgendwie zu sauber. See them on stage! (SPV, 3).
Cold Steel To The Heart nennen die legendären 39 Clocks ein posthum zusammengestelltes Album mit Archiv-Stücken. Stark unterschiedliche Aufnahmequalität mindert nicht den psychotischen Inhalt der Musik. Ihrer Zeit ca. fünf Jahre voraus (EFA, 4).
Musical Chairs sind Jill McElmurry (Vocals, USA) und Christoph Willumeit (Instrumente, BRD). Ihre Debüt-LP All We Want bringt die Impressionen des Weltenbummler-Duos im leicht zugänglichen Pop-Gewand (EfA, 3).
Gute alte New Wave-Musik spielen Bad Baby aus Hamburg. Melodien, englische Texte, englische Vorbilder sind in Ordnung, aber warum singen sie immer noch Edgar-Allen-Poe-Texte? (EfA, 3).
Nach langer Pause meldet sich das Ex-KFC-Enfant Terrible Tommi Stumpft mit einer neuen Maxi zurück: „Seltsames Glück“ ist harte Kost, doch von Conny Plank hervorragend produziert. Kaum zu glauben, daß hier alle Sounds aus der Gitarre kommen sollen. So klingt Tommi wie der deutsche Jim Foetus. (EfA, 5).
Wer sich die LP Introducing von Chin-Chat anhört, wird sich des Eindrucks nicht erwehren können, daß die Ex-Wirtschaftswunder-Musiker Pop-Qualität mittels Brechstange erreichen wollten. So zieht sich der Tanzbeat durch ein unentschiedenes Stilgemisch, das keine Höhen und Tiefen zu bieten hat. (Ariola, 2).
Zu guter Letzt noch etwas für den Bücherschrank des Vinyl-Junkies: Britische UK-Independent-Bands werden bibliophil. Die Dubliner Kult-Band Virgin Prunes wird in der Biographie „The Facuties Of A Broken Heart“ von allen Seiten beleuchtet; man erfährt viel Neues über diese rätselhafte Performance-Band. Auch von U2-Sänger Bono ist ein Beitrag enthalten schließlich ist sein Bruder Mitglied bei den Virgin Prunes.
Lohnenswert auch das Buch „The Fall – Lyrics“, womit allen Fall-Fans das mühsame Grübeln über Mark E. Smiths slang truths abgenommen wird. Die Textauswahl ist repräsentativ, die deutsche Übersetzung stellenweise ziemlich daneben. Trotzdem ein Muß für alle Fans moderner Straßen-Poesie.
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