Santana – Inner Secrets
Dreimal hat Carlos Santana im Verlauf seiner nunmehr schon elf Jahre währenden Karriere das Ruder herumgeworfen. Zuerst 1972, als er auf dem Album „Caravanserai“ pluggernden Latino-Rock feinfühlig in lateinamerikanisch angehauchten schwebenden Jazzrock transformierte. Dann wieder 1976, als er zu seinen Wurzeln zurückkehrte und Klänge und Rhythmen aus Südamerika kräftiger und farbiger als je zuvor in die Rillen der LP „Amigos“ streute. Schließlich noch einmal im Juli und August dieses Jahres, als er „Inner Secrets“ in Los Angeles einspielte und mit einer entscheidend umbesetzten Band und dem in der Soulmusik renommierten Produzentengespann Lambert & Potter fast alle Klischees über den Haufen warf, die bislang für seine Musik Gültigkeit hatten.
Wer „Inner Secrets‘ zum erstenmal mit verbundenen Augen hört, tippt kaum auf Santana. Lateinamerika dominiert plötzlich nicht mehr, sondern steuert nur noch einen Impuls von vielen bei. Mindestens ebenso wichtig sind Jazz und Soul und amerikanischer Mainstream-Rock. „Open Invitation“ tönt heavy, „Move On“ funky, und etliche Titel hören sich gar an, als würde Steve Winwood mit einer seiner Bands loslegen. Was übrigens so verwunderlich gar nicht ist: einmal singt Santana-Sänger Greg Walker ähnlich wie Steve, zum anderen hat Carlos je einen Titel vom ehemaligen Traffic-Mann Jim Capaldi („Dealer“) und von der früheren Winwood – Truppe „Blind Faith“ („Well All Right“) für sein jüngstes Album ausgewählt.
Was also stellt Santana heute dar? Eine ausgelaugte Supergruppe, die sich – um nachlassende Kreativität zu überbrükken – ihren Sound in der halben Rockwelt zusammenklaut? Von wegen! Wer erst einmal all die neuen Elemente verdaut hat, mit denen die Gruppe ohne Vorwarnung auf einmal hantiert, wer nach dem ersten Schreck den Blick fürs Ganze schärft, der entdeckt, wie nahtlos und harmonisch all die verschiedenen Stilarten miteinander verbunden werden, wie stimmig der neue Santana-Sound in sich ist, wie souverän eine Band hier ihre Musik für neue, aktuelle Strömungen geöffnet hat.
Carlos Santana hat das große Experiment mit einigen neuen Musikern in Angriff genommen. Er trennte sich von seinem langjährigen Weggefährten Tom Coster und setzte einen Musiker mit Namen Chris Rhyne an die Keyboards. Auch Perkussionist Jose „Chepito“ Areas mischt nicht mehr mit.
Neu dabei: der Gitarrist Chns Solberg und der Perkussionist Armando Peraza. Hinzu kommt der schon erwähnte Wechsel auf dem Produzentenstuhl: das Soul-Gespann Lambert & Potter hat nicht nur Regie geführt, sondern zudem noch vier Kompositionen für „Inner Secrets“ beigesteuert.
Carlos Santana hat auf diesem Album natürlich auch die gewohnten Perkussionsteppiche und fließenden Gitarrensoli untergebracht – mit seiner Tradition hat er nicht gebrochen. Aber er ist zugleich eindrucksvoller als alle anderen altgewordenen Superstars der sechziger und siebziger Jahre (ausgenommen Peter Gabriel und Bobby Dylan) abgewichen von jenem trostlosen Weg, der für alle Rock-Giganten vorgezeichnet scheint: sich selbst bis ans Lebensende zu reproduzieren.