The Beatles

ANTHOLOGY 4 / ANTHOLOGY COLLECTION

Apple/Capitol/Universal (VÖ: 21.11.)

Die Fortsetzung der erfolgreichen Pop-und-Rock-Superhelden-Serie. Und eine Komplett-Box mit allen vier Teilen.

Skippen wir uns zum Einstieg in den Herbst des Jahres 1994. Nach der Veröffentlichung von LIVE AT THE BBC stellen The Beatles ein mutmaßlich abgeschlossenes Kapitel Musikgeschichte dar, umfangreich dokumentiert, kommentiert, analysiert und sogar parodiert. Es scheint wirklich alles gezeigt, gehört, geschrieben und gesagt. Doch dann zieht der 20. November 1995 ins Land, die ANTHOLOGY 1 erscheint und Beatles-Exegeten dürfen sich nicht nur über Frischfleisch namens „Free As A Bird“ freuen, sondern auch über zwei weitere, nahrhafte Raritätensammlungen, die im Frühjahr und Herbst 1996 erscheinen werden.

Womit die Trilogie aus Demos, tatsächlich neue Erkenntnisse generierenden Studio-Takes sowie Live-Mitschnitten und allerlei Kuriositäten erst einmal komplett ist. Noch besser: Ende 1995 wird die grandiose, sechsteilige TV-Reihe „The Beatles Anthology“ ausgestrahlt, die im folgenden September in deutlich erweiterter Form auf VHS und 2003 als DVD-Set erscheint. Zuvor, im Jahr 2000, war bereits das großformatige, 368 Seiten starke „Anthology“-Buch veröffentlicht worden, womit die Geschichte der Beatles nun wirklich als beispielhaft aufgearbeitet gelten durfte.

Ein Irrtum

Nur ausgewiesene Spötter vermissten „Anthology – das Musical“, eine passende Knetfiguren-Sause von Nick Park oder die Beförderung des Beatles-Katalogs zum UNESCO-Weltkulturerbe. Die Messe schien tatsächlich gelesen. Ein Irrtum. Am 21. November 2025 ist die Zeit nämlich reif für ANTHOLOGY 4 (5,5 Sterne). Die enthält 36 Tracks, etwa den finalen Beatles-Song „Now And Then“ sowie remasterte Versionen von „Free As A Bird“ und „Real Love“. Der Rest stammt aus den Jahren 1963 bis 1969, darunter sind 13 bislang unveröffentlichte Demos und Outtakes. Nur, muss man leider sagen, denn bei den Ausgaben 1 bis 3 lag die Quote gänzlich unbekannten Materials deutlich höher. Was erneut fehlt: „Carnival Of Light“, eine vierzehnminütige Avantgarde-Nummer, die 1967 für den „Million Volt Light And Sound Rave“ im Londoner Roundhouse entstanden war.

Youtube Placeholder

An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Andererseits: Frühe Takes von „I’ve Just Seen A Face“, „In My Life“, „Nowhere Man“ oder „Here Comes The Sun“ sind dann eben doch gehaltvoller als eine längliche Experimental-Orgie, die vor allem Komplettisten ansprechen dürfte. Insofern: alles gut. Ärger gab es im Vorfeld dennoch. Ursprünglich war die ANTHOLOGY 4 nur als Bestandteil der allumfassenden ANTHOLOGY COLLECTION geplant, was allerdings die Fans auf den Plan rief. Gut so! Die dürften nämlich mehrheitlich bereits im Besitz der Teile 1 bis 3 sein und dementsprechend – neues Mastering von Giles Martin hin oder her – wenig Neigung verspüren, wegen Nummer 4 gleich das Gesamtpaket zu kaufen. Die separate Veröffentlichung als Doppel-CD oder Dreifach-LP ist jedenfalls wesentlich kundenfreundlicher.

Profunde Einsichten in die Art und Weise, wie aus kleinen Demo-Skizzen popkulturelle Monumente für die Ewigkeit entstehen konnten

Was die 191 Tracks umfassende ANTHOLOGY COLLECTION (6 Sterne) betrifft, erhältlich als Box-Set mit acht CDs oder zwölf LPs, gilt noch heute, was einst auch für die Einzelteile galt: Sie präsentiert nicht nur erste Gehversuche als Songwriter, Aufnahmen aus Hamburg, diverse Radiomitschnitte und jene Session, die erstaunlicherweise nicht zu einem Plattenvertrag mit Decca Records führte, sondern vermittelt vor allem profunde Einsichten in die Art und Weise, wie aus kleinen Demo-Skizzen dank Innovationsfreude und – für damalige Verhältnisse – fortschrittlicher Studiotechnik popkulturelle Monumente für die Ewigkeit entstehen konnten. Work-in-progress, mitunter berührend wie John Lennons melancholisches Heim-Demo von „Strawberry Fields Forever“, mitunter sehr erhellend, wenn man etwa den leicht holprigen Take 1 von „Tomorrow Never Knows“ mit der atemberaubenden finalen LP-Fassung auf REVOLVER vergleicht.

Nun kann man die ANTHOLOGY COLLECTION natürlich prima als Projekt für obsessive Beatles-Nerds begreifen, zumal die darauf enthaltenen Tracks zunächst meist schwächer anmuten als die entsprechenden, zu Lebzeiten der Band veröffentlichten regulären Versionen. Was aber auch daran liegen könnte, dass man Letztere als normativ betrachtet, während die frühen Takes eben etwas unfertig oder einfach anders klingen. Nur: anders kann auch sehr interessant sein. Letztlich spricht es natürlich für die Beatles, dass sie – von wenigen Ausnahmen abgesehen, etwa den von Phil Spector tendenziell überproduzierten Songs des Albums LET IT BE – die wirklich besten Versionen offiziell veröffentlichten. Lediglich der Weg dorthin konnte mal länger, mal kürzer ausfallen, und genau darüber gibt die ANTHOLOGY COLLECTION ausgiebig Auskunft.

Diese Review erschien zuerst im Musikexpress 12/2025.