Okkervil River
The Stage Names
Jagjaguwar/Cargo
Unvergessliche Sommerferien - Punk/Folk: Ein Album, das so erratisch herumsteht wie ein verwunschenes, mit Efeu und Referenzen überwuchertes Märchenschloss.
Interessante These. Und je länger man darüber nachdenkt, um so richtiger wird sie: „It’s just a bad movie“, behauptet da diese warme und brüchige Stimme ganz am Anfang, „where there’s no crying“. Das trifft auf Filme zu, und das gilt womöglich erst recht für die Musik – erst recht für diese Platte, auf der fast in jedem Song irgendwer weint, und sei’s auch nur die wehmütig wimmernde Slidegitarre. Ganz am Ende, wenn schon alles erzählt ist und mit der wundervoll verfreakfolkten Coda „John Allyn Smith Sails“ eigentlich schon der Abspann läuft, da wälzt sich die schlichte Komposition noch einmal auf die andere Seite wie ein Schiff in schwerer See und verwandelt sich in eine episch-euphorische Hommage an die Beach Boys:
„Well, this is the worst trip I ue ever been on / Hoist up the John B.sail/See how the main sail sets/I’ve folded my heart in my head and I wanna go home.“ Sich einer unsterblichen Harmonie wie der von „Sloop John B.“ zu bedienen, das kommt normalerweise einer kreativen Kapitulationsurkunde gleich. Hier ist es der würdige, der verblüffende Höhe- und Endpunkt eines Albums, das sich das Recht auf diesen frechen Flirt mit der fröhlichen Seite der Popmusik unterwegs redlich verdient hat.
Vielleicht sind es ja diese Streicher. Ein bescheidenes Quartett, womöglich auch nur eine einzige Geige, vervierfacht, die, ganz bescheiden, mal hier, mal dort unterstützend eingreift mit ihren schwerelos pointierten Ornamenten, ohne ansonsten weiter aufzufallen in diesen unvergesslichen Sommerferien von einem Album. Vielleicht ist es aber auch falsch, die orchestralen Arrangements hervorzuheben, lebt the stage names doch von den vielen, vielen, vielen Details, die diese sechsköpfige Band aus Austin, Texas, hier durchaus gewissenhaft zu einem akustischen Mosaik von seltener Strahlkraft und poetischer Wucht zusammengesetzt hat. Schließlich nennen Okkervil River das, was sie hier nun schon zum fünften Mal auf Albumlänge so treiben, selbst „Punk/Folk“, wobei es ihr Geheimnis bleiben wird, was THE STAGE NAMES mit Punk zu tun haben soll. Vielleicht müsste man zunächst ein paar Schritte von diesem Meisterwerk zurücktreten, sich das beseelte Grinsen und die Tränen aus dem Gesicht wischen und versuchen, es irgendwie einzuordnen in eine fantastische, sehr amerikanische Musiklandschaft, in der dieses Album so erratisch herumsteht wie ein verwunschenes, mit Efeu und Referenzen überwuchertes Märchenschloss. Von dessen Zinnen dürfte man einen schönen Blick auf befreundete Festungen guten Geschmacks haben, vor allem auf Palace, Bright Eyes, Midlake und die frühen R.E.M., aufThe Decemberists und The Elected und manchmal die Yeah Yeah Yeahs, aber auch auf I Am Kloot und die Incredible String Band, Cursive und sogar Arcade Fire, freilich ohne deren manchmal allzu selbstgewisses, elegisches Pathos.
Okkervil River besteht derzeit aus sechs Jungs, und sie ist vom Sänger, Songwriter, Lyriker, Gitarristen und bandeigenen Literaturwissenschaftler Will Sheff nach dem russischen Fluss Okkervil benannt worden. Ohne besonderen Grund. Nur, weil er einmal eine Kurzgeschichte darüber gelesen hat. Seine Stimme ist es, die wir ganz am Anfang hören und die uns durch dieses Album begleitet, es zusammenhält und, ja, verzaubert. Ihrer melancholischen Intimität wegen ist die Stimme schon mit der von Bonnie „Prince“ Bitlie verglichen worden, was Sheff so gar nicht behagt. Dabei haucht auch er seine berückenden Alltagsbeobachtungen aus voller Brust und nächster Nähe ins Mikro, seufzt und schluchzt und schlingert und überschlägt sich, ohne vor lauter anarchischer Emphase die Melodie (diese Melodien!) aus dem Blick zu verlieren. Dazu stampft und rasselt und klopft die Percussion, je nach Bedarf, wie überhaupt das durchwegs naturbelassene Instrumentarium (Wurlitzer, Orgeln, Mellotron, Pedal Steel und periodisch auftrumpfende Bläsersätze) dem kostbaren Songwriting Sheffs sich auf angenehmste Weise unterordnet. Ob das nun wie ein Walzer klingt oder wie die psychedelische Skizze zu einem Countrv-Song – nie gefällt es sich in seiner Eigenschaft als Walzer (wie Calexico) oder Country (wie Bright Eyes) so sehr, als dass es sich darauf ausruhen würde. Extrem hilfreich – vom Ausloten der Grenzen der Ballade bis zum kämpferischen Anziehen der Zügel – ist dabei Gitarrist Brian Cassidy, weil er die lyrischen Exkursionen seines Chefs in so prägnante und muskulöse Riffs kleidet, dass auch Strokes-Freunde daran ihre helle Freude haben, könnten. Aber keine Sorge: In diesen betont breitbeinigen, bei Jungsbands derzeit wieder so gefragten Vortragsstil verfällt Sheff nur an einer einzigen Stelle, und das mit voller dichterischer Absicht – bei „Unless It’s Kicks“, wenn er gezielt nur das Wort „Rock’n ‚Roll“ so druckvoll betont, als hätte er einen Vocoder in der Kehle und wäre tatsächlich: ein Rock’n’Roll-Sänger. Solche Nuancen allerdings weisen ihn als Dichter aus. the stage names ist große Poesie. VÖ: 7.9. >» www.jound.com/okkervil
Discografie:
1999 Stars Too Small To Use (Jound)
2002: Don’t Fall InLtove With Everyone You See
2003 Down The River of Golden Dreams
2005 Black Sheep Boy
2007 The Stage Names (alle Jagjaguwar/Cargo)