Popkolumne, Folge 74

Robin Schulz, komm Prügeln! – Paulas Popwoche im Überblick


So viel Pop war selten in ihrer Popkolumne: Paula Irmschler über Coronafahrten, Chartsmukke, coole Typen und viel coolere Chicks.

Es ist Ende Juni 2020. Ich sitze auf dem Boden des ECs von Dresden nach Berlin. Auf dem Boden sitzen, das kenne ich vom Cornern, kein Problem. Da, wo ihr hinspuckt und euren Schorf hinschnippt, da lasse ich mich nieder. Ich sitze zudem vor der Toilette. Gut, ich bin nicht etepetete, dann stinkt es halt. Man trampelt mich zwar mehrmals – „Sorry, ich muss da mal lang“ – fast nieder, aber ein Mensch muss sitzen. Ich bin ein einfacher Mensch … Ich brauche nicht viel … Aber es ist halt Corona. Die Bahn ist überfüllt, überall sind Menschen und haben keine richtigen, aus der Distanz wie Throne wirkenden Sitzplätze … Es gibt keine Klimaanlage oder sowas, Fenster aufmachen ist nicht, klar … Dann bleibt der Zug irgendwo im Nirgendwo stehen, ist liegen geblieben … Auch klar … Kein Ding. Schwitzen, Panik … Man muss nach über einer Stunde in eine S-Bahn umsteigen, wo die Leute so nah beieinander stehen und sitzen, dass sie alle eins werden … Fremdschweiß, Ausatmungen … Ich gebe auf.

Ein Herz für Albrecht Schrader und Nilz Bokelberg

Ich erwache ein paar Tage später wieder in Köln und es sind 14 Grad Celsius. Es regnet, ich fröstele. Bin wohl nochmal davongekommen. Ich schaue nach, welchen Song ich zuletzt gehört habe. Er passt auch jetzt wieder. Er beruhigt mich, er ist schön, er ist „wholesome“, wie man jetzt so sagt, er ist von Albrecht Schraders neuem Album DIESE EINE STELLE und er macht mich in seiner perfekten Melancholie sauglücklich. Er heißt „Zäune“.

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Warum Songs und Alben für mich funktionieren, kann ich meist nur mit pathetischen Wörtern erklären, nicht hier mit Technik und so. Ich kenne die meisten Insider-Vokabeln nicht und kaum Instrumente und raff all die Kniffe nicht. Was das angeht, ist Nilz Bokelberg ein viel besserer Musikjournalist und er hat Schraders Album in Tweets Song für Song besprochen, voll schön:

https://twitter.com/Nilzenburger/status/1276619435076452354

„Never Forget – der 90er-Podcast“, Folge 4: Wir schwelgen mit Nilz Bokelberg in Grunge-Erinnerungen

Kebekus und die Pille

Was ich also offensichtlich gut finde, ist, wenn Menschen einem Sachen einfach erklären, angereichert mit ein paar Witzen. So stieß ich letztens auf diesen Beitrag von Carolin Kebekus aus der „Carolin Kebekus Show“, in dem es um den Themenkomplex Pille geht. Ich wusste schon, was für ein Höllenzeugs das ist und welches misogyne System dahinter steckt, zum Beispiel durch das Buch „Freiheit von der Pille“ von Sabine Kray, aber gut ist, wenn man insbesondere jungen Menschen ein Video schicken kann, indem sie Sachen erfahren, die ihnen Frauenärzt:innen und das sonstige Umfeld nicht sagen, statt sie mit Buchtipps vollzuballern (nicht, weil sie etwa zu doof wären, ein Buch zu lesen, aber Videos sind halt niedrigschwelliger erstmal).

Also, Vorhang auf für die fiese Wahrheit:

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Häusliche Gewalt und männliche Reaktionen

Wahrheit, Schmarheit. Kennt jemand noch unsere Indiestars der Nullerjahre bis Mitte der Zehnerjahre? Ryan Adams zum Beispiel … Ryan Adams ist der, der stets so schluffig rumtrudelte mit Gitarre und das Lebensgefühl von „O.C. California“-Zuschauer*innen einfing. Also Reiche angucken und sich dabei traurig-special fühlen, weil man auch wegen dünnen, weißen Menschen Liebeskummer hat, sonntags in einen großen Pullover schlüpft, eine Katze streichelt und schon mal an einem Joint gezogen hat.

Dieser Ryan Adams wurde von mehreren Frauen, mit denen er zusammen war oder/und zusammen gearbeitet hat, beschuldigt, psychische Gewalt auf sie ausgeübt zu haben. Zudem hat er einer Minderjährigen sexuelle Nachrichten geschickt. Nun hat er sich in einem offenen Brief in der „Daily Mail“ entschuldigt. Da schreibt er unter anderem „Having truly realized the harm that I’ve caused, it wrecked me, and I’m still reeling from the ripples of devastating effects that my actions triggered“, und: „I made a promise to myself that no matter what it took, I would get to the root of these issues and finally start to fix myself so I could be a better friend, a better partner, and a better man overall.“ Klingt eigentlich ganz gut, wäre da nicht das klitzekleine Detail, dass er sich bei den Betroffenen selbst noch immer nicht entschuldigt hat, wie Mandy Moore und Karen Elson verraten. Nun liegt mir nichts ferner als Klatschreport zu betreiben, aber dann passierte auch noch die Sache mit Tom Meighan von Kasabian. Am 6. Juli gab die Band bekannt, dass Meighan sie verlassen würde, wegen „personal issues“. Einen Tag später wurde das konkretisiert, während es natürlich eh schon durch alle Medien ging: Meighan wurde wegen häuslicher Gewalt verurteilt.

https://www.instagram.com/p/CCWjNDRl8Vq/

Warum ich das hier überhaupt thematisiere, ist wegen meiner Irritation über die Reaktionen der (meist männlichen) Fans. In beiden Fällen las ich viel Zeug à la: Halte durch, jeder hat mal eine schlechte Phase, wir stehen zu dir und so weiter. Vielleicht gehört für Viele zum Fansein dazu, so zu tun, als wäre man eine Familie, füreinander da, als stünde man da irgendwas gemeinsam durch. Wenn man aber Gewalt gegenüber Frauen einzig und allein als Schicksalsschlag, der einem Mann passiert (und nicht etwa der Betroffenen) behandelt, bin ich irgendwie raus. Männliche Künstler mit all ihren Schwächen anzunehmen, ihren dunklen Seiten, diese ganze Sichtweise, das checke ich nicht. Man kann sich sehr wohl abgrenzen, man kann den Prozess von Männlichkeitskritik und das Reflektieren von Sexismus mitgehen, man kann gucken, was das mit einem selbst und mit dem eigenen Umfeld zu tun hat. Aber das alles wegzuwischen, die Augen zuzumachen „bis es vorbei“ ist und der Star wieder „geheilt“ emporsteigt, puh. Nein.

Protestsongs von Frauen

Erkenntnis ist echt ein Ding momentan. Die Dixie Chicks heißen jetzt The Chicks. „Dixie“ steht für den alten Süden der USA und am alten Süden war, wie man weiß, nix Gutes dran. Die Band hatte sich schon Anfang der 2000er mit dem konservativen Amerika angelegt. Als sie George W. Bush öffentlich kritisierten, erlebten sie einen heftigen Boykott, gerade auch weil Country normalerweise von rassistischen Arschlöchern gehört wird. Vielleicht gibt es deswegen jetzt keine große offizielle Begründung für die Namensänderung. Haltung zeigen sie trotzdem mit ihrem neuen Song „March March“, in dessen Video antirassistischen Kämpfen Tribut gezollt wird:

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„Wo sind die Protestsongs hin“, jammerten Viele in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten. Da sind sie. Es sind nur halt nicht mehr die Hut tragenden Männer mit Schwermut, sondern Frauen, die Protestsongs liefern und meist viel kämpferischer dabei sind.

So auch H.E.R. mit „I Can’t Breathe“:

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Und die ewig wunderbare Alicia Keys, ebenfalls zum Thema Polizeigewalt:

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Filmempfehlung

In other news: Ich habe diesen ESC-Film geguckt, damit ihr es auch müsst. Eigentlich heißt er „Eurovision Song Contest: The Story of Fire Saga“ und er hat größtenteils einfach nur Spaß gemacht. Richtig weird ist allerdings Will Ferrells Auftritt, weil er 20 Jahre älter wirkt als Rachel McAdams, obwohl die beiden etwa gleich alt sein sollen und es bahnt sich eine Romanze zwischen den beiden an, ewww. Aber McAdams ist super und ich wünschte, sie wäre einfach allein Protagonistin, es braucht Ferrells Rolle nicht unbedingt, was soll der da, warum hat der sich da reingedrängelt, muss das sein? Das macht mich richtig sauer. Aber da ich auf Kitsch und monströsen Pop stehe, hat mir das halt grundsätzlich alles gut gefallen. Außerdem ist es stellenweise richtig witzig, zum Beispiel wenn es um das alberne Männlichkeitsgehabe von Vätern geht. Als dann noch Conchita Wurst auftauchte, hab ich nur noch geplärrt. Ist dieses „Sing Along“ nicht das Geilste? Jaaa!

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Und was geht in Deutschland?

Eine schlimme Zwischenüberschrift, aber the damage is done. Schwermut, Melancholie, uff uff uff. Babsi Tollwut überlegt, ob nicht doch alles umsonst war mit dem ganzen Gemache in der linken Szene und beschreibt ein Gefühl, dass viele politische Aktivist:innen hin und wieder haben, aber meist geht es ja dann doch weiter, weil es sein muss. Der Traum ist nicht aus:

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Meine Lieblingsband Bum Khun Cha Youth ist auch endlich wieder zurück, aber nur um einem schlechte Laune zu machen. Ist okay! Uli Nachtigall und sein Bandkollege haben mit „Vor all den Jahren“ wieder einen echten Ohrwurm kreiert. Das Video ist auch toll, es geht um Dekonstruktion von Erwartungshaltungen in sozialen Beziehungen in der Postmoderne in einer immer schnelllebigeren Zeit und steigender sozioökonomischer Verunsicherung mit Folgen wie Vereinsamung, Verrohung und Lust auf Kuchen als Glücksversprechen, während die Vorfreude auf diesen einem durch kapitalistische Zwänge versperrt wird …

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 Radiosender des Halbmonats: N-Joy

WIR SIND ZUSAMMEN GROSS, WIR SIND ZUSAMMEN ALT!!! Ich denke, ich bin so langsam bereit für die nischigen Radiosender. N-Joy ist das was sich Leute vorstellen, die Radio hassen. Alles wird zu einem dance-mäßigen Einheitsbrei, ich habe den Verdacht, dass bei solchen Sendern irgendein Radiofilter auf die Songs gelegt wird, anders ist dieser hallige Klang nicht zu erklären. Ich hasse sogar Sia, wenn sie bei N-Joy läuft. Überhaupt: Wer hat sich diesen N-Kram ausgedacht?

Früher habe ich viel Radio NRJ gehört, also Radio Energy. Wie wäre es mit Radio N-Spann Dich? Oder Radio N-Schleunigung? Radio N-täuschend? N-Joy ist ein Radiosender, bei dem die Lieder angekündigt werden, die gleich kommen werden. Ein Albtraum. Ich will doch überrascht werden, von Gefühlen ergriffen werden, mich hingeben? Es kommen von allen nur die blöden Lieder: „Something Just Like This“ (The Chainsmokers & Coldplay), irgendwas von Felix Jaehn, „Alane“ von Wes im Robin Schulz Remix … Ey, Robin Schulz ist das Schlimmste. Komm ran, Robin Schulz!!! Du machst alles kaputt! Es gibt nicht mal Oldies, nur Charts, Charts, Charts! Warum? Warum? Waruuuuuuum?

Ode an Hengameh und Gwen Stefanis Ex-Mann: Volkmanns Popwoche im Überblick

Was bisher geschah? Hier alle Popkolumnentexte im Überblick.

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