Sex & Aids & Rock n’Roll


Mit Sex können die Engländer ungefähr soviel anfangen wie die Franzosen mit einer guten Tasse Tee. Paul McCartney, Freddie Mercury & Co. kniffen die Schwänze ein, als sie zur Teilnahme am AIDS-Benefiz in London gebeten wurden. Dafür kamen Bob Geldof, Wham fanden wieder zusammen, Elton John sang trotz Singverbot - und Silvie Simmons unterhielt sich mit allen und jedem über DIE große Frage: Gummi oder nicht Gummi?

Na bitte! Es kommt bloß auf die richtige Werbung an. Bowie und Peter Gabriel empfehlen sie, Freddie Mercury und George Michael ziehen sie in Erwägung, Simon Le Bon trägt sie und Bob Geldof sagt uns, wo wir uns die Dinger hinstecken müssen. Man hat sie aus Hoteltoiletten herausgefischt, wo verklemmte Vertreter sie runterspülen wollten; von Schulhöfen abgekratzt, wo pickelige Schüler sie verschämt in die Ecke warfen; man hat sie aus Friseurläden und den versteckten Schubläden in Drogerien hervorgeholt, um sie auf Popkonzerten zu hübschen rosa Luftballons aufzublasen! Kondome sind cool! Naja, so cool wie Kondome halt sein können. In England gibt es jetzt „FRANKIE SAYS USE CON-DOMS“-T-Shirts, einen modischen, schwarz-ledernen Dreierpack-Halter für Discogänger und zwei brandneue Marken, die extra auf Jugendliche zugeschnitten sind. („Jiffy“ und „Red Stripe“). Nachdem sie jahrzehntelang bloß „irgendwas Französisches“ für uns Engländer waren, finden wir Kondome plötzlich ungeheuer anziehend; unsere Schwänze möglicherweise ja auch. „Schieb Dir einen auf den Schwanz“, sagt Bob Geldof in einem Kinospot. „Benutzt Kondome“, sagt David Bowie auf einer Pressekonferenz, Ian Dury im Radio und Simon Le Bon im Fernsehen. Und die Kassen der Gummifirmen klingeln.

Woher kommt das ungewöhnliche Engagement? Nun, wenn es zwei Dinge gibt, die größer sind als die soziale Verantwortung eines Popstars, dann sind das sein Ego und sein Schwanz. Schwänze müssen, wie die künstlerische Kreativität, rein und frei sein, müssen männlich und abenteuerlich vorwärtsdrängen, so oft sie dazu Lust haben. „When in doubl, whip it out“, um mit Ted Nugent zu sprechen.

Theoretiker werden sagen, daß Pop in den 80ern eh so sexlos ist wie nie zuvor — und daß die Zwänge von Business und Geld die Künstler ohnehin schon längst sterilisiert haben. Meine Rede, aber das allein erklärt dieses Engagement nicht.

Die „Times“ spricht von einer „Pop-Wohltätigkeit“, die „seit Live-Aid das große Geschäft ist“. Vielleicht ist sie das, aber während unzählige Musiker nach Süd-London strömten, um dort auf einer Wohltätigkeits-Single für das Fährschiff-Desaster von Zeebrugge mitzusingen, war es für die Organisatoren des Pop-Benefiz der Internationalen AIDS-Woche (organisiert von den Medienfrauen Caroline Guiness und Gilly Sykes) eine Höllenarbeit, die „Hunderte“ von Stars, die sie anriefen, zu einer Zusage zu bewegen. Leute wie Queen, Paul McCartney, Eric Clapton — „eine Menge lahmer Entschuldigungen“, sagt Sykes. „Das Musik-Business hat die letzten 20 Jahre lang Sex & Drugs & Rock ’n Roll gepredigt — und ich glaube, daß die Musiker doch einige Verantwortung haben. „

Daß sie sich mit der Suche nach Freiwilligen schwer taten, ist längst nicht so überraschend wie die Tatsache, daß sie überhaupt jemanden gefunden haben — bei der Einstellung, die die Briten gegenüber AIDS haben: entweder Nervenkitzel (die Boulevardblätter rätseln und pokern um den Tod von Rock Hudson und Liberace) oder schlichtweg Ignoranz. Die Regierung lancierte eine Anzeigen-Kampagne, die mehr obskure Symbolik enthält als ein französischer Kultfilm: Schwitzende Straßenarbeiter treiben ihre Preßlufthämmer phallisch in einen Betonblock, der, wie sich herausstellt, ein Grabstein ist mit der Aufschrift „AIDS: Stirb nicht aus Unwissenheit. “ Woran man aber eigentlich genau stirbt, weiß der verdutzte Zuschauer danach auch nicht.

Wie bei der Hungersnot in Äthiopien war die Hilfe vom Staat so klein und kam so spät, daß mal wieder die Popwelt einspringen mußte. Bis jetzt haben Popshows knapp sechs Millionen Mark eingespielt. Nicht gerade Live Aid-Dimensionen, aber wie gesagt: Es ist einfacher, für unschuldig sterbende Äthiopier zu singen, als für eine tödliche Krankheit, die was mit dreckigen Nadeln und infizierten Geschlechtsteilen zu tun hat.

In Amerika gab es bereits 1985 das erste Benefiz: „That’s What Friends Are For“, gesungen von Dionne Warwick, Stevie Wonder, Elton John und Gladys Knight, spielte eine Million Dollar ein. Elizabeth Taylor trommelte obendrein für eine Gesangs-Gala einige berühmte Freunde aus Hollywood zusammen.

In England war der Ansatz eher nüchtern: eine Woche lang AIDS-gewidmete Fernsehshows und ein 90minütiges Pop Special, betitelt „First Aids“.

Ahson Moyet war da, Bananarama, Swing Out Sister, Pepsie und Shirlie, Erasure, Peter Gabriel samt Kondom, eine Spitting Image-Puppe von Parlaments-Mitglied Cecil Parkinson (der durch einen Sex-Skandal mit seiner Sekretärin in die Schlagzeilen kam), und – das beste – Simon Le Bon in einem hautnahen Interview über Kondom-Gebrauch.

Die Warnungen stießen auf offene Ohren: Die im Publikum befragten Frauen gaben an, daß sie nach dieser Show höchstwahrscheinlich weniger Sexualpartner haben würden; dreiviertel der befragten Männer wollten auch mit einem Mädchen, das ihnen den Sex verweigert, weiterhin ausgehen; 46 Prozent der 15-26jährigen sagten: ja, sie würden ein Kondom benutzen.

Marc Almond war von Simons Auftritt weniger angetan: „Ich habe Simon im Fernsehen gesehen, wie er sagte: Ja, ich benutze Kondome, Jungs, und ihr müßt das auch tun!‘ Ich dachte wirklich, der klingt wie ein Arschloch, so selbstgerecht. „

„Ich habe das gemacht“, meint Simon, „weil es ein ungeheuer wichtiges Problem ist. Ich finde, eine Gruppe wie Duran Duran sollte mithelfen, ihr Publikum darauf aufmerksam zu machen. Benützt Kondome!“

Boy George: „Kondome? Nee, ich benütze nie welche. „

Mick Hucknall: „Ich könnte nie Kondome benutzen und habe auch noch nie einen Mann getroffen, der das tun würde. Die Dinger sind schrecklich, die nehmen dem Sex das ganze Vergnügen. „

Der heilige Bob Geldof persönlich muß her, um die Ungläubigen zu überzeugen: „Manche Leute sagen, daß die hier (hält ein Kondom hoch) euer Sexualleben töten. Wenn euer Sexualleben aber euch tötet, was bleibt euch übrig? …Es gibt keinen safe sex, es gibt nur safer sex, also benehmt euch nicht wie sexuelle Esel und schiebt euch eins von diesen Dingern auf den Schwanz. „

Diese Worte stammen aus einem Werbespot mit Geldof, der derzeit die Runde durch die englischen Kinos macht; im Moment läuft er vor „Blue Velvet“. „Am Besten wäre es“, sagt Regisseur Nick Waller, “ wenn er vor dem jeweils populärsten Film laufen würde. Im Moment haben sich die großen Kinos noch nicht dazu entschlossen.“ Also läuft der Spot nur in unabhängigen Kinos — genau da, wo das Publikum normalerweise eh schon ganz gut aufgeklärt ist. Aber er ist sicher auch das drastischste Statement der Aufklärungswelle, das die staatliche 50-Millionen-Kampagne als die Farce entlarvt, die sie ist.

Nick hat den Film für ein paar Mark hergestellt, nachdem er erkannt hatte, wie wenig die staatliche Kampagne die jungen Leute erreichte. Er und Produzent El Glinoer hatten für die Hauptrolle verschiedene Leute in Erwägung gezogen, bevor sie sich für Geldof entschieden, nachdem sie ihn in einem Frühstücks-Fernsehprogramm im Interview über sein Sexualleben gesehen hatten. „Er kam so kristallklar rüber, so ehrlich und er redete nicht um den heißen Brei herum“, erklärt Nick, der augenblicklich versuchte, ihn zu gewinnen. Geldof schaute an einem seiner seltenen freien Tage im Oxford Studio vorbei. Das Skript überlegten sich Bob und Nick selbst. „Unsafe sex“, heißt“s am Anfang, und das Ende: „is fucking dangerous. „

Schon im Dezember ’86 war ein großes Benefiz-Konzert im Live-Aid-Stil mit weltweiter Ausstrahlung im Gespräch. Letztendlich wurde daraus eine Veranstaltungswoche in englischen Pubs, Clubs. Kinos und Theatern, die sich um den 3. April, dem Internationalen Aids-Tag, konzentrierte.

Zuerst gab s das „Fashion Cares“-Benehz, unterstützt von so großen Mode-Namen wie Hermes und Jean-Paul Gaultier, es gab „Bring-deineigenes-Kondom-mit“-Parties im Limelight, Hippodrome und Heaven Clubs. „Film-Aid“ (Andy Warhol-Filme wurden gezeigt), „Pub-Aid“ (über 400 Kneipen beteiligten sich), „Food-Aid“ (Kellner spendeten ihr Trinkgeld), „Will-Aid“ (berühmte Schauspieler von der Royal Shakespear Company) und eine Reihe verschiedenster Konzerte: Sandie Shaw, Blow Monkeys, Erasure, Marc Almond, The Go-Betweens, Hurrah, Hollywood Beyond, die Communards, Woodentops, Waterboys und wiedervereinte Bronski Beats, die das erste Mal seit zwei Jahren zusammen spielten.

„Bronski Beat wurden ursprünglich aus politischer Motivation und unter schwuler Flagge ins Leben gerufen“, sagte Jimi Somerville. „Der Internationale AIDS-Tag ist eine weitere politische Aussage — und gerade ßr uns als Schwule ist es ungeheuer wichtig, daran teilzunehmen — erst recht, weil seil der AIDS-Sache Homosexualität wieder kriminalisiert werden soll. „

All diese Veranstaltungen waren aber nur das Vorspiel zu einem Konzert im Wembley-Stadion: „The Party“. Das Programm stand erst in allerletzter Minute — dank dem verzweifelten Telefonsturm der Organisatorinnen Caroline Guiness und Gilly Sykes. Es regnete haufenweise „Sorry, daß wir nicht kommen können, wir lieben euch „-Telegramme. Von Sade: „Solange es Kraft und Anteilnahme gibt, gibt es auch Hoffnung; wir wären ehrlich liebend gern dabei gewesen.“ Von Spandau Ballet: „Leider können wir wegen Tourneeverpflkhtungen nicht erscheinen, wünschen Euch aber den größten Erfolg. “ Grande Dame Elisabeth Taylor schickte eine Nachricht, in der sie „die Creme britischer Entertainer“ dafür lobt, dazu beizutragen, „diese bedrohliche und schreckliche Krankheit auszumerzen „.

Aber die “ Creme britischer Entertainer“ war anfangs ein bißchen schwach auf den Beinen — bis George Michael in die Bresche sprang und seine Unterstützung zusagte. Andere folgten seinem Beispiel. Und die Karten, die sich zunächst nur zäh verkauften, gingen doch noch alle weg.

„Meine Generation“, sagt George, „darf sich später einmal nicht von unseren Kindern fragen lassen, warum wir Mitte der SOer nichts unternommen hätten, um die Ausbreitung der Krankheit zu stoppen. „

8000 Leute drängten sich im Wembley Stadion und zerquetschten aufgeblasene Kondome, die in die Luft schwebten. Ordner mit dem Spruch „Don’t Be Stupid Playing Cupid“ auf ihren T-Shirts schlenderten in den Gängen auf und ab und verteilten kübelweise Kondome; andere verkauften T-Shirts, auf denen „Bist Du vorsichtig genug?“ und „Safer Sex“ draufstand.

Aswad und Sandie Shaw starteten die viereinhalbstündige Show: Mann und Frau, Schwarz und Weiß spielten ein paar Songs und kehrten zum Teil auf die Bühne zurück, um auch bei anderen Bands mitzuspielen, bevor sie sich alle zum großen Finale im Live-Aid-Stil versammelten und zum Schluß „Lean On Me“ sangen. Die Communards sangen mit Sarah und Jane Morris, Tom Robinson sang „Glad To Be Gay“ mit einigen neuen Textzeilen (gegen die britische Gesundheitsministerin und einen umstrittenen Polizeichef, der sich Donna Summers‘ Spruch. AIDS sei eine Strafe Gottes, zu eigen gemacht hatte), Bobby Womack war da, Womack & Womack auch, Kim Wilde samt Vater Marty und Bruder Ricky, Holly Johnson, Meat Loaf — eingesprungen für Ozzy Osbourne, der in letzter Minute doch noch seinen Schwanz einzog und absagte.

Komisch, daß an diesem Tag von der Heavy-Rock-Fraktion. den größten Schwanz-Anbetern des Pop-Biz, kein Schwein auftauchte. Herbie Hancock und Andv Summers spielten in Bob Geldofs Band, Elton John trat gegen den Rat seines Arztes, die Stimme nach einer Halsoperation noch etwas zu schonen, trotzdem auf. „Ich hab gesungen, weil ich eine gute Sache unterstützen wollte“, erklarte Elton, der in der letzten Zeit von Titelstories der englischen Presse über schwule Sex-Skandale geplagt wurde. George Michael brachte Andrew Ridgeley zwecks einer Wham!-Wiedervereinigung mit auf die Bühne: derselbe George Michael trat dann mit Boy George im Duett auf, umarmte ihn und überreichte ihm ein Kondom — was Boy George ihm aber schleunigst wieder zurückgab.

„Ich bin hier“, sagte Boy George, „weil ich mit Männern schlafe und das genieße …Es ist ein bißchen wie im Krieg: Solange die Bombe nicht vor deiner Haustür explodiert, interessiert dich das Ganze nicht. Margaret Thatcher sollte der AIDS-Forschung eine Menge Geld zur Verfügung stellen. Ich bin sicher, daß auch sie ab und zu mal geil wird. Auch sie hatte Sex in ihrem Leben. Sie hat doch Kinder, oder nicht?“

George hat, wie er erzahlt, den AIDS-Test schon dreimal gemacht. Freddie Mercury erklärte gegenüber dem „Daily Express“: „Ich hab einen AIDS-Test gemacht und bin gesund.“ David Bowie auf einer Presse-Konferenz: „Ich hab den AIDS-Test gemacht, und ich würde ihn so oft wiederholen, wie ich den Partner wechsle. Außerdem würde ich jedem empfehlen, Kondome zu benützen. „

Auf der Party nach der Wembley-Show schmuste Mandy Smith mit Bill Wyman, Geldof-Gattin Paula Yates schwänzelte um Terence Trent DArby und George Michael herum und Britt Ekland benahm sich einfach wie Britt Ekland. Aber in die Vollen ging niemand — das wäre unter diesen Umständen woh! doch etwas unpassend gewesen.

Wie lange es dauern wird, bis alles wieder „normal“ wird und man aufhört, über das gesundheitliche Befinden seiner — bloßen oder verhüteten — Genitalien zu reden, hängt wohl von dem weiteren Verlauf der Krankheit ab. Zyniker sagen, daß man mit diesen paar Wochen Aufklärung gar nichts erreicht hätte, aber immerhin hat man ein Bewußtsein geschaffen.

Und sie haben ein bißchen Geld aufgebracht. Das könnte in Zukunft noch mehr werden, wenn erst die Benefiz-Single (die derzeit von einem großen, noch ungenannten Star geschrieben wird) und ein Sampler (mit den Pet Shop Boys, Peter Gabriel, Marc Almond. George Michael, Duran Duran. Tina Turner u.a.) auf den Markt kommen. „AIDS ist“, laut Bowie, „die erschreckendste Krankheit, die im Moment diesen Planeten heimsucht.“ Für den Fall, daß die Lage nächstes Jahr noch genauso schlimm ist. ist die nächste „Party“ mit „weltweiter Satellitenübertragung“ schon in Planung. Das hier war immerhin ein Anfang.