Festivalbericht

So war es Orange Blossom Special 2024: Die Schönheit der Chance


Zum 26. Mal fand das Orange Blossom Special in Beverungen statt. Fazit: Eines der liebevollsten Open Airs der heimischen Festivallandschaft.

Das mittlerweile im 26. Jahr stattfindende Orange Blossom Special (OBS) in Beverungen ist eines der liebevollsten Open Airs der heimischen Festivallandschaft. Seit einigen Jahren arbeitet man zudem an einer Verjüngung, die sich gerne noch ein wenig mehr rumsprechen darf.

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Wer regelmäßig zum OBS in Beverungen anreist, ist alle Jahre wieder überrascht, dass man schon auf dem Weg vom Bahnhof zum Festivalgelände in eine Postkarte rennt. Spätestens wenn man die Brücke zwischen Lauenförde und Beverungen passiert hat und den Wander- und Radweg am Ufer der Weser betritt, denkt man: „Verdammt schön hier!“ Allerdings nur so lange, bis einem der erste E-Bike-Rentner in die Hacken fährt, weil der Weg bei Radtourist:innen sehr beliebt ist und man ja weiß, wie hart die manchmal drauf sind. Wenn man dann so mit der Weser zur Rechten weiterschlendert, dauert es nicht lange, bis die ersten Camper, Zelte und Dixi-Klos am Wegesrand stehen. Und eh man sich versieht, ist man schon mitten auf dem OBS-Campingplatz, der nämlich auch inmitten einer Postkartenflusswiese auf Weserufer liegt.

Die Basics: Was macht das OBS eigentlich so aus?

Das OBS (was die Kenner:innen wie „Opps“ aussprechen) findet seit 1997 in ostwestfälischen Beverungen statt. Genauer gesagt: am Firmensitz von Glitterhouse Records, der in einer alten Gründerzeitvilla liegt. Der Garten ist quasi das Publikumsareal, die Bühne wird direkt neben die Terrasse gebaut, die dann wiederum so etwas wie das VIP-Areal für die Freund:innen des Hauses und die eigenen Crew ist. Nach einer kleinen Erweiterung finden inzwischen rund 3.400 Menschen Platz auf diesem Gelände. Auch das Drumherum vom OBS ist immer eine schöne Erfahrung: Der örtliche Bäcker verkauft jeden Morgen alles, was man braucht, der Mini-Calzone-Stand vor dem Festivaleingang hat inzwischen ein eigenes T-Shirt-Motiv („Mini-Calzone-Ultras“), die Sportvereine der Umgebung öffnen ihre Duschen für die Campenden und das Freibad „Die Batze“ begrüßte die ersten Festivalgäste am Freitagmorgen mit Handschlag vom Chef. Auffällig ist auch, wie viele Besucher:innen mit ihren Kindern anreisen. Aber warum auch nicht? Der entspannte Flow des Festivals und die ruhigen Ecken des Campingplatzes sind perfekt, um dem Nachwuchs das Festivalleben schmackhaft zu machen.

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Wie immer in den letzten Jahren, hat sich das OBS-Team auch diesmal wieder ein hintersinniges Wappentier ausgedacht. 2024 steht ein Oktopus für die 26. Ausgabe. Dieses faszinierende Wesen hat nämlich nicht nur acht Arme, sondern auch neun Gehirne und vor allem: drei Herzen. In Verbindung mit dem Motto „Herzensangelegenheit“ eine perfekte Wahl. Man findet das jährliche Wappentier dann auch an einer Hauswand auf dem Weg zum Festivaleingang: das händisch gemalte Bild ist natürlich DER Gruppenfoto-Spot des Wochenendes.

Die Schönheit der Chance als Booking-Konzept

Ok, das waren jetzt viele Basics. Wer regelmäßig zum OBS kommt – und das dürfte einen Großteil des Publikums ausmachen – kennt und schätzt das alles natürlich schon lange. Aber im Gegensatz zum letzten Jahr, wo wir einen Nachbericht schrieben, der sich vor allem an die bereits bekehrten OBS-Fans richtete, dachten wir uns in diesem Jahr: ein wenig Platz ist ja noch auf dem Gelände. Lasst uns den Kreis doch noch ein wenig erweitern!

Das OBS war wie im letzten Jahr gefühlt ungefähr zu drei Vierteln ausverkauft und wenn man sich auf dem Gelände so umschaut, ist dort vor allem die U12-Fraktion und die Ü30-Fraktion unterwegs. Das liegt natürlich daran, dass das OBS über die Jahre vielen ans Herz gewachsen ist und viele langjährige Besucher:innen ihre Kids mitbringen. War aber das Line-up in den ersten Jahren noch sehr vom Songwriter:innen-, Garage-Rock, Blues- und Punk-Sound von Glitterhouse geprägt, hat sich das Line-up zuletzt an vielen Stellen entschieden verjüngt. Rembert Stiewe und sein Team bieten immer öfter genau jenen sehr jungen Acts eine Bühne, bei denen die Macher:innen glauben, dass sie auch beim Ü30-Teil des Publikums gute Chancen haben. Die Schönheit der Chance als Booking-Konzept sozusagen.

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Ein sehr ausgechecktes Booking, das zwar auch alte Helden und langjährige Freund:innen des Hauses aufbietet, aber vor allem bei der Wahl der Up-and-Coming-Artists tolle Akzente setzt. Das wiederum führt zu einer weiteren Besonderheit des Festivals. Hier hört man hin und wieder so Sätze wie „Ich kenne eigentlich nur ein Viertel der Bands, die da spielen.“ Oder: „Eigentlich seltsam: Beim Hurricane mache ich mir immer einen Tagesplan, was ich sehen will und hier lass ich mich fast den ganzen Tag lang überraschen.“ Hoffen wir also, dass genau die Alterslücke, die noch ein wenig mehr vertreten sein dürfte, sich durch diese Zeilen angesprochen fühlt. Wer nämlich das Appletree Garden oder das PULS liebt, kommt garantiert hier auch auf seine oder ihre Kosten …

Das war der Freitag

Aber jetzt nun mal endlich zum konkreten Bühnenprogramm in diesem Jahr: Anders als bei anderen Festivals, wird hier jede Band auf der Hauptbühne (und es gibt nur eine Hauptbühne plus Minibühne und ein Areal für Lesungen), persönlich anmoderiert – mit persönlichen Anekdoten, oder gar Zitaten aus der Musikpresse. Das alles sorgt für einen Vibe, der es auch den Bands leicht macht, das vielleicht noch unwissende Publikum mit einem starken Gig zu überzeugen. Festival-Openerin war in diesem Jahr die tolle Sängerin Mina Richman, deren Debütalbum GROWN UP Folk, Indie-Pop und viel Soul im Vortrag vereint. Mina erzählt während ihres Gigs, dass sie zu Beginn ihrer Karriere googlete, welche Festivals es so gäbe und wo sie mit ihrem Sound hinpassen würde. So fand sie das OBS, schrieb an die Macher:innen und bekam eine sehr nette Antwort, die später zum Booking auf diesem sehr präsenten Line-up-Spot führte. Mina sagte über die Mail von Rembert Stiewe: „Die war so nett und mutmachend, dass ich mir dachte: Wenn es solche Leute im Business gibt, ist das vielleicht doch nicht so eine schlechte Berufswahl.“

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Direkt im Anschluss folgte auf der kleineren Bühne die zweite Newcomerin des Tages: Stina Holmquist zog das Publikum mit toller Band im Rücken in eine Art euphorische Mediation: Bei ihren treffen Beach-House-Vibes und herrlich verhallte Gitarren auf eine faszinierende, irgendwie suchend klingende Stimme, die vor allem in ihren Songs „In A Dress“ und „Back Where We Started“ besonders gut zur Geltung kommt. Herrlich rotzig und technischen Problemen am Bass trotzend, bügelten Hotwax über das Publikum und wurden von Song zu Song besser: Ihr Hit „Rip It Out“ zeigt, wo die Reise noch hingehen kann, wenn das Songwriting so richtig sitzt. Die Niederländer YinYin charmierten sich mit ihrem instrumentalen, japanisch anmutenden Surf-Sound in Hirn und Tanzbein, bevor dann Muff Potter für die Alte-Helden-Fraktion einstanden und wie immer überzeugten. Der letzte Act des Abends stand ganz in der OBS-Tradition, dem Publikum zu dunkler Stunde auch so richtig dunkle Musik zuzumuten: Lucy Kruger und ihre Band The Lost Boys, die zu großen Teilen eher aus gar nicht mal so lost wirkenden Girls besteht, warfen sich in ihren abgründigen, existenzialistischen, mit Drone-Elementen durchsetzen Sound und waren für viele das überraschende Highlight des Tages. Die in Berlin lebende Südafrikanerin dürfte an diesem Abend ein paar Dutzend neue Fans gefunden haben. Auch hier konnte man einem besonderen Phänomen des Festivals lauschen, als jemand direkt nach dem Gig zum Merch-Stand eilte und zu ihrer Begleitung sagte: „OBS ist spontan Platten kaufen.“

Das war der Samstag

Der Samstag begann mit großer Songwriterinnen-Kunst von Malva, bevor ZAHN für ordentlichen Lärm sorgten. Die Schweizer:innen der Band Annie Taylor spielten tapfer gegen die Wetterlaunen und den ersten Regenguss an, bevor Brimheim leider bei Tageslicht bewies, dass sie eine der stärksten dänischen Musikerinnen around ist. Ihre Alben CAN’T HATE MYSELF INTO A DIFFERENT SHAPE und das aktuelle RATKING dürften allen gefallen, die Lana Del Rey, Ethel Cain oder auch die weniger lärmenden Album von Chelsea Wolfe lieben.

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Stark ging es weiter: William The Conquerer ist ein Songwriter, den man sich merken muss und die britischen Post-Punk-Newbies Gurriers zeigten, dass sie die Zeit zwischen ihren Touren nutzten, um ihr Songwriting erstaunlich zu verbessern. Zündete auf dem letzten Haldern noch vor allem ihr UK-Lads-Sturm-und-Drang, haben Stücke wie „Sign Of The Times“ und „Close Call“ einen Drive und eine Zugänglichkeit, die diese Jungs noch groß machen kann. Melancholisch-melodisch ging es mit der immer tollen Catt und ihrer samtenen Stimme in den Abend, bevor dann die finnischen The Holy ihre mitreißende Live-Show zelebrierten, bei der man oft nicht wusste, wann ein Song aufhörte und der neue begann: Kraut-Rock-Rhythmen mischen sich hier mit Shoegaze-Elegien, verhalltem Gesang und bisweilen gar UK-Rave-Gedächtnis-Ausbrüchen. Sehr tanzbar, sehr dunkel, sehr geil war das.

Die Worte zum Sonntag

Der Sonntagmorgen steht ganz in der Tradition des Surprise Acts: Um 11 Uhr versammelt sich fast das gesamte Publikum neugierig im Festivalgarten, um zu schauen, wer in diesem Jahr am Start ist. 2023 waren es Die Nerven, die uns alle brachial wachrüttelten, in diesem Jahr begrüßte man einen alten Helden zurück: Der Kanadier Alex Henry Foster spielte seine erste Show nach langer Krankheit und hatte offensichtlich viele nachzuholen: Zwischen den elegischen Songs, die in keine Schublade passen, crowdsurfte er mit oder ohne Gitarre und setzte immer wieder zu Spoken-Word-Passagen an, die Prediger-Qualitäten hatten. Sein Mantra, das er immer wieder einweben konnte: „Da draußen ist überall Krieg. Männer mit Panzern, Bomben, Hass vergiften die Welt. Aber hier im Garten: Das ist eine Community. Das ist Familie. Das ist das Gegengift – und es ist kostbar. Bewahrt es und tragt es nach draußen.“ Sehr schöne, sehr passende Worte.

Am Sonntagnachmittag kam dann der Regenguss, vor dem man sich schon seit Freitag fürchtete: Drei Stunden lang hingen Bindfäden vom Himmel, verzog man sich unter den Pavillon – wenn man denn einen hatte – oder man trotzte dem Wetter und stand mit Regenjacke vor der Bühne: Wer das tat, hat jetzt den gerade mal Anfang-Zwanzig-Jährigen Marlo Grosshardt auf dem Schirm, der textlich hin und wieder ganz manchmal die ein oder andere Kitschfalle dann doch mitnimmt (z. B. in seinem Hit „Ein letztes Liebeslied“), dessen Songs wie „Christian Lindner“ oder „Angestellt sein“ aber einen stabilen Witz haben, der sich gerne verbreiten darf. Afrodiziac wirbelte im letzten Jahr noch über die kleinere Bühne und bewies nun, dass er mit seinem psychedelischen Rock’n’Roll unbedingt auf größere Bühnen gehört.

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Ein Highlight des Wochenendes war definitiv der Auftritt von Brockhoff. Die hat mit ihrer Band sowieso gerade einen guten Lauf, vor allem in UK, wo sie einige sehr große Shows im Vorprogramm von Paolo Nutini spielte. Übermüdet (weil aus UK kommend), erkältet, um ihre Stimme kämpfend, spielte sie trotzdem einen fantastischen Gig. Vor allem die aktuellen Songs wie „Bigger Picture“ klingen so gar nicht nach der Stadt, aus der sie stammt (Hamburg), sondern nach einer bitte noch größer werdenden internationalen Karriere. Wer die ja schon länger hart durchstartenden Beabadoobee oder Lucy Dacus mag und ein Faible für Dreampop, Shoegaze und melancholischen, aber druckvollen Indie hat, sollte unbedingt Brockhoff supporten.

Ron Huefnagels und Tom Sinke von Iedereen, die ihr selbst betiteltes Debüt bei Glitterhouse veröffentlichten, brachten zu zweit eine Wahnsinns-Energie mit und stellten mit ihrem lichterloh brennenden Hit „GKO“ die inoffizielle OBS-Hymne in diesem Jahr. Auch LOKI waren schon im letzten Jahr da, wo sie für die damals erkrankte Malva einsprangen. Dafür wurden sie in diesem Jahr völlig zu recht mit einem eigenen und sehr prominenten Spot belohnt, den sie definitv nutzten. Der Festivalausklang geriet dann brutal melancholisch – aber mit Ansage. Der bedächtige, melancholische, auf Piano und Sänger Rob Goodwins Bartion setzende Slowdance-Indie aus Manchester zieht immer noch auf die schönste Weise runter und entließ so manche:n traurig seufzend in die letzte Nacht auf dem schönen Campingplatz an der Weser.

Bei Goodwin klauen wir uns jetzt auch ein Stückweit unser Festival-Fazit. Er sagte vor einem Song: „Auf diesem Festival zu spielen, ist uns eine große Ehre. Wir waren schon einmal hier, als es mit unserer Band erst so ganz langsam losging. Der Gig damals war sehr wichtig für uns. Dieses Festival hat uns damals eine Chance gegeben. Ihr, das Publikum, habt uns eine Chance gegeben. Danke dafür.“ Diese Worte treffen den Kern, das Herz, den Vibe des Orange Blossom Specials vielleicht am besten. Hier geht es darum, tollen Musiker:innen eine Chance zu geben, ein neues, neugieriges Publikum für sich zu gewinnen. Wenn jetzt also auch noch die jüngeren Festivalgänger:innen diesem Festival noch mehr, als sie es gerade tun, eine Chance geben, dann wird das OBS noch ein wenig das Mehr-Generationen-Indie-Familienfest, das man sich immer gewünscht hatte.