Tina Turner: Soul Survivor


"I'm a soul survivor", schmettert sie auf ihrem jüngsten Album PRIVATE DANCER. In der Tat: Ohne ihren Über-Lebenswillen hätte sie die Tiefschläge und Schlaglöcher ihrer Karriere wohl nie verkraftet. 1956 von ihrem späteren Ehemann Ike in einer Bar in St. Louis entdeckt, waren zwar die Scheinwerfer schon bald auf sie gerichtet. Doch hinter den Kulissen entpuppte sich Ike als despotischer Bilderbuch-Chauvi: Daß er musikalisch das Heft in der Hand hielt, war noch verständlich; seine sexuellen und finanziellen Alleingänge indes erwiesen sich letztlich als unerträglich. 1976, nach einer wenig erquicklichen Scheidung, stand sie buchstäblich vor dem Nichts. Die in jeder Hinsicht Betrogene rächte sich auf ihre Weise: Während Ike schnell in der Versenkung verschwand, ging ihr Stern um so heller auf. Mit knapp 46 Jahren hat Tina Turner heute nicht nur musikalisch einen neuen Gipfel erklommen, sondern ist auch attraktiver denn je.

Tina Turner is the Joan Collins of rock n‘ roll. The older she gets, the more attractive she becomes.“ (Sunday Times) Ein Unterschied zwischen diesen beiden Damen allerdings besteht darin, daß Lady Alexis von ihrem ersten Auftritt an versuchte, die Fäden in die Hand zu nehmen, um die Colorado-Puppen richtig tanzen zu lassen. Der „schwarze Wirbelwind“ hingegen wirkte lange Zeit eher wie eine Marionette, fest im Griff des Ehemannes Ike.

Nichts für ungut, lieber Ike, aber du hast’s schon glänzend verstanden, deine Partnerin in Szene zu setzen. Sex sells! Und den brachte und bringt die stets leichtgeschürzte Tina nun mal furioser auf und über die Bühne als all ihre schwarzen (und weißen) Schwestern zusammen.

„I want somebody to help me satisfy/’cause i got too much time for my hands“, heißt es in „Young And Dumb“ von der 70er-LP COME TOGETHER. Blanke Stimulans für die Phantasie. Keiner hat dies eindrucksvoller dargestellt als „Rock Dreams“-Zeichner Guy Peellaert mit seinem Bild der liebevoll-lüstern fast das Mikro verschlingenden Sängerin: „Das Wasser läuft einem im Munde zusammen“ – kaum einer hat es treffender formuliert als Nik Cohn.

Abgesehen von der modisch gestutzten, blond gefärbten Frisur (die das „fauchende Tiergesicht“ allerdings noch besser zur Geltung bringt) und dem nicht mehr ganz so hohen Flug der Beine – schließlich sind die im November erreichten 46 Jahre kein Pappenstiel – besitzen Cohns Worte aus seinem Buch „AWopBopaLooBopALopBam-Boom“ auch heute noch volle Gültigkeit: „Sie ist eine große, üppige Frau mit langen schwarzen Haaren, die ihr weit über den Rücken hinunterfallen, und sie hat ein schönes fauchendes Tiergesicht und einen wahrhaft kosmischen Arsch. Nicht hübsch, aber höllisch sexy. Und ihre Energie ist unerschöpflich, sie tobt über die Bühne wie eine Irre, und ihre Haare peitschen über ihren Körper und immer wieder ihr Hintern, immer ihr Hintern. Und dann fließt ihr Schweiß in Strömen, und ihre aufgeworfenen Lippen entblößen Zähne, und sie ist absolut mörderisch.“

Tina Turner hat dem Begriff „Show“ eine neue Definition gegeben. Was sie bei ihren Live-Auftritten an Bühnen-Performance bietet, ist pures Entertainment, eine aufreizende Interpretation des Wortes „Unterhaltung“.

Zugegeben, ihre Stimme ließ an Wandlungsfähigkeil, besonders auf Platte, manchmal ein wenig zu wünschen übrig, aber wenn sie live loslegt, dann bricht, ächzt und zittert es in ihrem Organ, mal schreiend, als berste schon im nächsten Augenblick die malträtierte Lunge, mal gurrend, als könne sie kein Wässerlein trüben. Tina Turner schlüpft in ihre Songs. Sie sitzen wie eine zweite Haut, in der sie sich mal lüstern, mal kokettierend windet.

Daß in ihr außer „body & soul“ auch noch andere Talente schlummern, etwa die der Songwriterin beispielsweise stammt „Nutbush City Limits“ von ihr – oder der Schauspielerin (siehe „Tommy“), blieb eher zweitrangig.

Wichtiger ist, daß sie nach acht Jahren harter Arbeit die Zügel endlich in den eigenen Händen hält, daß aus dem ihr nach der Trennung von Ike prophezeiten Karriere-Ende nichts wurde. Heute kann sie über solche Äußerungen nur noch lächeln.

Schließlich beginnt sich jetzt auch der verdiente Erfolg einzustellen. Ihre letzte Single „What’s Love Got To Do With It“ bewegt sich in so ziemlich allen Charts in oberen Regionen, und die durchweg gelungene LP PRIVATE DANCER, die erste seit fünf Jahren, eroberte sich in der „MÜV“-Kritiker-Liste vom Juli dieses Jahres, trotz scharfer Konkurrenz, den ersten Platz.

„Church house/Gin house… Schoolhouse/Out-house … On Highway Number 19… The people keep the city clean.“ Nutbush, jenes in dem 73er-Hit besungene, verschlafene Nest, runde 70 km vor den Toren von Memphis/Tennessee gelegen, war einer der Orte, in denen Tina Turner aufwuchs. Damals hieß sie allerdings noch Annie Mae Bullock. Erste vokale Erfahrungen sammelte sie beim üblichen Gospelchor-Singsang und bei schulischen Talentwettbewerben. Mitte der 50er Jahre zog sie zusammen mit der Mutter – die Eltern hatten sich getrennt – und der Schwester nach St. Louis.

Eine der dortigen lokalen Größen auf musikalischer Ebene hörte auf den Namen Ike Turner. „He had the hottest band in town“ (Tina Turner). Der 1931 in Clarksdale/Mississippi geborene Musiker hatte sich schon in jungen Jahren zur Autorität gemausert. Nicht nur als Instrumentalist – in der Gegend um Memphis sehr gefragt machte der Pianist seine ersten Aufnahmen bereits als 17jähriger – sondern vor allem in Sachen Talentsuche.

In der Hauptsache arbeitete er dabei für das in Los Angeles beheimatete Modern-Label, wo er übrigens der Nachfolger des Sun-Records-Gründers und späteren Elvis Presley-Entdeckers Sam Philips war. Turner beackerte die Südstaaten und vermochte es dank seines untrüglichen Gespürs für das Wesentliche, zwei solchen Blues-Legenden wie Howlin‘ Wolf und B.B. King zum Start zu verhelfen.

Nebenbei hatte er auch eine eigene Band auf die Beine gestellt, die „Kings Of Rhythm“. 1951 produzierte er mit ihnen eine „Rocket 88“ betitelte, schnelle Boogie-Nummer, die, gesungen vom Band-Saxophonisten Jackie Brenston, des öfteren als erste Rock ’n‘ Roll-Platte überhaupt gewertet wird. Jedenfalls nahm sie noch im gleichen Jahr Platz 1 der Rhythm & Blues-Charts ein.

1956, mit Beginn des Rock ’n‘ Roll, schlug Ike Turner seine Zelte in St. Louis auf, wo er sich in der Clubszene bald einer enormen Publicity erfreute.

Tina Turner: „In unserem Lieblingsclub trat Ike auf. Eines Nachts hat es dann geklappt. Er ließ mich mehrere Nummern singen – und dann ging’s sehr schnell: Ich schloß mich der Gruppe an. Das Glück war auf unserer Seite. Ike schrieb ,A Pool In Love‘, der Sänger erschien nicht, das Stvdio war gemietet, also sang ich den Titel.“

Der 1960 Platz 2 in den Rhythm & Blues-Charts erreichende Song verkaufte sich blendend. Die Rede ist von einer Million Scheiben. Diesem Erfolg war das private Glück vorangegangen: Ike und Tina hatten geheiratet.

In den folaenden Jahren tat sich nicht allzuviel. Sie nahmen weitere Singles und erste LPs auf, anfänglich ausschließlich für Sue Records, später auch für eine Unzahl anderer Labels. Man unterschrieb hier, nahm dort auf und vergab Rechte an Hinz und Kunz. Heutiges discographisches Resultat für diesen Zeitraum ist ein heilloses und kaum mehr zu entwirrendes Durcheinander. Übrigens wurden drei dieser alten Sue-Longplayer (THE SOUL OF IKE & TINA TURNER von 1961, DYNAMITE! und ITS GONNA WORK OUT FINE, beide von 1962) von den Hamburger Line Records letztjährig wieder aufgelegt.

Ansonsten tourte – oder besser: tingelte – das Paar samt Backingband (in der auch Jimi Hendrix ein kurzes Gastspiel gab) und den drei singenden und tanzenden „Ikettes“ (zu denen zeitweise P. P. Arnold, Merry Clayton und Bonnie Bramlett von „Delaney & Bonnie“ gehörten) durch die Lande.

Zwar stellten sich einige kleinere Plattenerfolge ein, doch war die stetig wachsende Popularität der Ike ’n‘ Tina Turner-Revue viel eher auf den immer explosiver werdenden Stage-Act zurückzuführen. Die im Publikum unterdrückte sexuelle Phantasie fand in Frau Turner ihr Ventil.

1966 erschien „River Deep, Mountain High“, heute ein Klassiker, produziert von Phil Spector, dem legendären Wall Of Sound-Kreator. „Der Sound war satter, als ihn irgendein anderer Produzent bis dahin erreicht hatte – mit einem Baß. der die kraftvoll behende Intensität einer Kirchenorgel hatte; mit treibendem Rhythmus von Bongos. Schlagzeug und Tamburinen; mit gedämpften, aber massiven Streichern, die den riesigen Raum um den leidenschaftlichsten Gesang füllten, der je auf Platte gebannt worden war. Nachdem er sich zur totalen Raserei aufgebaut hatte, hielt dieser Sound dann plötzlich inne – die Sängerin kam wieder, sanft und weich, und dann begann alles nochmal von neuem. “ (Charlie Gillett) Der Geniestreich avancierte zum smash hit in England, blieb aber in den Staaten merkwürdigerweise auf Rang 88 hängen. Der wahrscheinliche Grund für diesen Flop: Intrigen und Neid – der Meteoritenhafte Aufstieg des gerade 25jährigen Spector war gewissen Kreisen in der US-Musikszenerie ein Dorn im Auge – und daraus resultierend ein insgeheimer Boykott der Radiostationen, wobei die Schwarzen das Stück als zu weiß, die weißen es als zu schwarz einstuften.

Zurück blieben ein immer exzentrischer werdender Spector, der seine Plattenfirma Phillis kurzerhand dichtmachte und sich für längere Zeit aus dem Business zurückzog, und unser Pärchen, das sich per Tour verstärkt dem Kontinent diesseits des Atlantiks zuwandte.

Erst das Jahr 1969 brachte endlich auch in den Staaten den längst fälligen Popularitätsschub. Die Turnersche Version des Beatles-Stückes „Come Together“ durchforstete die Hitlisten in dan oberen Regionen. Sie gastierten auf einigen Festivals (u.a. Newport im Juni, Seattle im Juli), spielten während eines Konzertes in New York das Soul-Duo Sam & Dave glatt an die Wand – und absolvierten im Herbst das Vorprogramm der ersten US-Tournee der Rolling Stones nach drei Jahren. Dabei kaufte Tina Herrn Jagger einiges an Schneid ab – ja, es gab gar Gigs, bei denen die Stones ihren Auftritt hinauszögerten, bis sich die R&B- und Soulerhitzten Gemüter beruhigt hatten.

Der Durchbruch des Ehepaares Turner führte bald zu einem Vertrag mit United Artists, der die Vinyl-Ausschüttung fortan klarer kanalisierte. In der Folge reihte sich Hit an Hit, u.a. Otis Reddings „I’ve Seen Loving You Too Long“, das mit seinem anregenden Zwiegespräch und Tinas simulierten Orgasmen bald zum zentralen Stück der Show avancierte, das grandiose CCR-Remake „Proud Mary“, „Get Back“, „Honky Tonk Women“ und natürlich „Nutbush City Limits“.

Es schien, als habe das Paar Glück und Erfolg nur so gepachtet. Vier Kinder, vier Autos, eine geräumige Villa mit Fischteich und kleinem Wasserfall im Wohnzimmer, Pool und auch sonst allen Annehmlichkeiten – so jedenfalls präsentierten sich die Turners in einer ME-Fotostory im Juni 1973.

Und Nick Cohn schrieb eher satirisch: „Tagsüber ist Tina Hausfrau, stolze Mutter von vier Kindern, voll damit beschäftigt, Windeln zu wechseln, die Wohnung sauber zu halten und ihr Schmankerl aus dem Süden zu kochen. Mmmm, wenn sie erst einmal mit Pfannen und Töpfen zu hantieren beginnt und dann das Brathuhn auf den Tisch kommt, mit süßen Kartoffeln und Kullererbsen das hält Ehemann Ike schon bei der Stange.“ („Rock Dreams“) Doch die Fassade täuscht. In der Ehe kriselt es. Ike genießt den zweifelhaften Ruf, bei seinen weiblichen Fans nichts, aber auch gar nichts anbrennen zu lassen. Mutter Tina jedenfalls wendet sich anderen Dingen zu und beginnt damit, sich langsam von ihrem Mann zu lösen. 1974 nimmt sie im Alleingang eine noch nicht einmal üble Country(!)-LP auf (TINA TURNS THE COUNTRY ON), der sie im darauffolgenden Jahr ein weiteres, noch von Ike produziertes Solo-Album (ACID QUEEN) folgen läßt, eine Hommage an unvergängliche Rocktitel der vergangenen Jahre, die u.a. Songs von den Who, den Stones und Led Zeppelins „Whole Lotta Love“ enthält. Ebenfalls 1975 wird sie von Regisseur Ken Russell für die,Rolle der „Acid Queen“ in seiner „Tommy“-Verfilmung angeheuert.

Zum endgültigen Bruch mit Ike kommt es in Dallas (da hat doch nicht etwa J.R….?). Sie packt ihre Klamotten und steigt mitten in einer Tour aus. Ohne einen Dollar in der Tasche trampt sie zum Flughafen. Es gelingt ihr, Kontakt aufzunehmen mit Ann-Margret (der „Nora Walker“-Darstellerin aus „Tommy“), die ihr ein Ticket nach Los Angeles besorgt. In ihrem Haus hält sich Tina insgesamt sechs Monate versteckt, während der verlassene Ike alle Hebel in Bewegung setzt, sie zu finden.

Bei der Scheidung verzichtet Tina auf das gesamte Vermögen und alle bisherigen Einkünfte. „Der Verlust dieses Geldes war der Preis für meine Freiheit“, sagt sie später dazu.

Ein Problem war ferner, daß sie sich während einer fest gebuchten Tournee abgesetzt hatte – und die Veranstalter natürlich ihre vorgeschossene Asche zurückforderten. Auch dies ist mit ein Grund dafür, daß sie während der letzten Jahre so häufig on the road war. Besuche in Europa, im Fernen und im Nahen

Osten – die Scheichs wollten die Frau kaufen! – und hinter dem Eisernen Vorhang eingeschlossen. Bei ihr heißt das „two shows each night, six days a week“, und dabei durfte sie sich oft genug in irgendwelchen billigen bis noblen Clubs vor müden Manager-Gästen abmühen.

Andererseits wurde ihr während der riesigen 82er US-Tournee der Stones die Ehre (?) zuteil. „as the first woman on stage together with Mick Jagger“ ein Duett zu singen.

Für Schallplatten konnte sie kaum Zeit freimachen. Allerdings ließen die etwaigen Partner auch auf sich warten. 1979 erschien „Rough“, ein ziemlich flaches Song-Konglomerat mit Stücken von John/Taupin, Bob Seger, den Gebrüdern Zanki (!) u.a.

Erst die drei Jahre später begonnene Kooperation mit lan Craig Marsh und Martyn Ware alias Heaven 17/B.E.F. sollte ihr auf dem Vinyl-Sektor ein gelungenes Comback bereiten. Marsh und Ware planten ihren (wenn auch später erfolglosen, dennoch sehr schönen) Sampler MUSIC OF QUALITY AND DISTINCTION: „Wir haben einige unserer Lieblingsstücke aus den 60ern und 70ern eingespielt, elektronisch aufgenommen, und lassen sie von berühmten Sängern singen. Wirklich guten Sängern, die heute nicht gerade auf dem Höhepunkt ihrer Karriere stehen, vielleicht weil sie nicht mehr beliebt sind.“

Als geeignetsten Interpreten für die Version des Temptations-Oldies „Ball Of Confusion“ fanden sie Tina Turner, die zu dem Song das nötige Feuer beisteuerte und zusammen mit Gary Glitter („Suspicious Minds“) und Sandie Shaw („Anyone Who Had A Heart“) für die Höhepunkte des Albums sorgte. Interessanterweise machten ja gerade diese drei „Vergessenen“ in der Folgezeit wieder einige Furore.

Ende 1983 folgte eine weitere Heaven-17-Produktion, ein vielleicht nicht ganz an das Original heranreichendes Cover von AI Greens „Let’s Stay Together“ (B-Seite: Inga Rumpfs „I Wrote A Letter“!), das ihr in England dennoch aber den ersten Top-10-Hit seit „Nutbush‘-Zeiten bescherte und auch in den USA bis zur Spitze vorstieß.

Für PRIVATE DANCER, das aktuelle Album, versammelte sich eine Anzahl erstrangiger Musiker (Jeff Beck, Mel Collins, Crusaders, Dire Straits, Fixx, Heaven 17 etc.). Und da es der Produzenten(-Teams) gleich fünf verschiedene gibt, und sich auch die credits der 10 Songs auf insgesamt 20 Leute verteilen, schien die LP für das „Viele Köche…“-Sprichwort gerade prädestiniert.

Das genaue Gegenteil jedoch war der Fall. Die Platte ist trotz der teils erheblichen Song-Unterschiede rundum einheitlich und in sich sehr stimmig geraten, sie besitzt keinerlei Tiefpunkte und lebt im Grunde von einer bisher bei Tina Turner auf Platte nur selten gehörten Variabilität in Ausdruck und Stimme. Man kann dem „Soul Survivor“ nur weiterhin eine solch gute Hand wünschen.