Tom Robinson


Das Londoner Lyceeum ist das älteste lebende Theater der Stadt,“ erzählt mir der vornehm gekleidete Ordner, als ich mich kurz auf einem Treppenabsatz ausruhte. „So um 1900 herum saß Bram Stroke, der Autor der Dracula-Geschichten, hier immer völlig betrunken in der Loge. Er endete irgendwann durch Selbstmord.“ An diesem Abend ist Dracula allerdings nicht angesagt. Das Publikum drängt sich dicht vor der Bühne. Alle schwingen die Sympathisantenfaust Tom Robinson und seinen Jungs entgegen, die gerade ihren Nr. 1-Gassenhauer „Motorway“ anstimmen. ..2-4-6-8…. MOTOR-WAYÜ!“ Die Masse grölt, und der erste Pogo-Tänzer landet nach einem artistischen Sprung auf meinem linken Fuß.

In Toms Konzerten herrscht Stimmung wie im Fußballstadion

Es ist wie im Fußballstadion. Robinsons Songs wurden binnen weniger Monate zu Hymnen für die Londoner Jugend, obwohl die Band mit „Motorway“ zu diesem Zeitpunkt erst eine Single draußen hatte. Die Tom Robinson Band hatte sich landauf, landab fast totgespielt. Tom selbst brach zusammen, und Organist Mark Amber litt unter Gastritis. „Es war mir sehr peinlich, daß dadurch drei Gigs ausfallen mußten, es gibt nichts schlimmeres, als Konzerte abzusagen,“ meint Tom ehrlich besorgt. Er fühlt sich seinem Publikum aufs äußerste verpflichtet, seitdem die Band im Januar 1977 in kleineren Clubs wie dem Londoner „Hope & Anchor“ anfing. Der Tourneefleiß führte schließlich dazu, daß die Fans der Tom Robinson Band heute alle Songs fast auswendig können.

Musikalischer Sprengstoff: Sing, wenn du froh bist, schwul zu sein!“

„Sing if you’re glad to be gay“ singen 2000 Leute beinahe im Schunkelrefrain und nehmen damit einem Song über die diskriminierende Behandlung Homosexueller in England die ironische Schärfe. In diesem Song stehen Homosexuelle an der Wand, prügeln Polizisten auf sie ein. Ist es wirklich so schlimm in England? „Schlimmer!“ sagt Tom. „Diesen Song schrieb ich vor zwei Jahren, und es ist sogar schlimmer geworden. Die Polizisten hängen tatsächlich auf den Dächern von öffentlichen Toiletten herum und spähen durch Gucklöcher. Und wenn sie sehen, daß sich zwei Männer näherkommen, nehmen sie sie fest. Manchmal warten sie nicht einmal, bis es soweit ist, weil sie eine Auszeichnung für möglichst viele Festnahmen bekommen. Es spielt keine Rolle, warum jemand verhaftet wurde. Und der einfachste Weg, jemanden zu fassen, ist noch immer zwei einsame Männer zu finden, Männer, die so einsam sind, daß sie an einen derart schrecklichen Ort gehen müssen. Mit 18 Jahren bist du in England alt genug, um zur Armee zu gehen, Steuern zu zahlen, zu wählen oder ein Haus zu kaufen, zu heiraten, aber bevor du 21 bist, darfst du nicht mit einem anderen Mann ins Bett gehen. Darauf stehen zwei Jahre Gefängnis für dich und für den anderen. Sogar wenn du unterschreibst, daß du es wolltest… ‚ Tom, der mit 16 Jahren in ein Heim für verhaltensgestörte und psychisch angeknackste Jugendliche kam, artikuliert sich gepflegt und wirkt in der Unterhaltung äußerst intelligent und gewandt. Er liebäugelt nicht mit Underdog – Attitüden, sondern gibt sich als wohlerzogener junger Mann. Mit 16 bekam er in der Schule einen Nervenzusammenbruch und unternahm einen Selbstmordversuch. Die Einrichtung, in der er dann freiwillig sieben Jahre verbrachte, galt als Alternative zu herkömmlichen Erziehungsheimen oder Nervenkliniken und war in einem alten Gutshaus untergebracht. Niemand war dort gezwungen, das Haus zu verlassen, solange er sich nicht sicher genug fühlte, auf eigenen Beinen zu stehen. Tom war immerhin 23 Jahre alt, ehe er den Schritt hinaus wagte. Ein Jahr lang ging er arbeiten, um sich selbst zu beweisen, daß er existieren kann, daß er fähig ist, morgens zeitig aufzustehen und bis abends durchzuhalten. Danach machte er Musik. In der Band spielt er Baß, doch ursprünglich ist sein Instrument die Gitarre. Nebenbei spielt er auch noch Orgel. Bevor er die Tom Robinson Band gründete, spielte er in einer akustischen Band: Cafe Society hieß die Gruppe, die Ray Davis von den Kinks für sein Konk-Label unter Vertrag nahm. Es kostete Tom eine enorme Kraftanstrengung, von Konk freizukommen. Aber er wollte auf keinen Fall als anonymes Teilstückchen einer x-beliebigen Band weitermachen.

Toms erster Startversuch auf dem Konk-Label von Kink Ray Davies

Einen Gitarristen für den zweiten Startversuch hatte er damals schon: „Denny Kustow, unser Leadgitarrist, lebte im selben Heim wie ich. Wir trafen uns dort 1969. Er hatte noch größere Probleme als ich. Denny hat eine Menge wildes Zeug verzapft. Als ich ihn traf, war er 14 und konnte überhaupt nicht Gitarre spielen, aber keiner wollte es ihm zeigen. So kam er immer zu mir: Komm, Tom. zeig mir den g-Akkord!‘, und dann spielte er verbissen immer g.g.g… und

dann: ‚Jetzt will ich a spielen… und so weiter. Es war ein Witz! Dieser kleine 14jährige jüdische Bengel, der unbedingt Gitarre spielen wollte. Und er übte und übte wie besessen. Heute ist er mir meilenweit voraus. Er ist ein großartiger Gitarrist. Trotz aller technischen Versiertheit spielt er mit Emotionen, und wann immer er innerlich in Aufruhr ist, merkt man es ihm an.“

Ein völlig verrückter, liebenswürdiger Drummer

Die anderen Mitglieder seiner aktuellen Band traf Tom Anfang vergangenen Jahres. „Der „Delphin‘, wie wir ihn nennen, unser Drummer (Brian Taylor), ist ein völlig verrückter Vogel, aber ein liebenswürdiger Verrückter. Er ist ein unheimlich spaßiger Bursche. Er fuhr einen seiner Freunde mit dem Wagen zu uns. Der wollte bei uns Baß spielen. Den wollten wir zwar nicht nehmen, doch wir fanden heraus, daß Brian Schlagzeug spielt, und wir sagten: ‚Du kannst einsteigen.‘ Und Mark Amber schließlich kam zu uns als Bassist und endete als Organist. Tom, der ursprünglich die Tasten bediente, hörte ihn eines Tages spielen und griff sich daraufhin sofort den Baß.

Keine Spur von dreckigen alten Männern in Regenmänteln

Außer Tom ist keiner der Musiker homosexuell. War es das Leben im Heim, das seine Entwicklung beeinflußt hat? „Nein, ich habe mich dafür entschieden, als ich rausging. Als ich nach London kam, traf ich jede Menge Homosexueller, die sich nicht schämten, schwul zu sein. Wenn man jung ist, wird einem beigebracht,Homosexuelle zu hassen. Bevor man herausfindet, daß man selbst einer ist. In London traf ich nun absolut keine dreckigen alten Männer in Regenmänteln, die in öffentlichen Toiletten herumlungerten. Ich fand andere junge Männer, die so alt waren wie ich. die sich nicht schämten, die nicht abartig waren und ganz locker und fröhlich zusammenlebten.“

Toms Feldzug für die Rehabilitierung Homosexueller innerhalb der Gesellschaft war natürlich ein gefundenes Fressen für die Medien: Ein Schwuler kämpft für die Schwulen, und noch dazu öffentlich von der Rockbühne herunter. Und ausgerechnet die konservative Mutter EMI, die schon die Sex Pistols wegen ungehöriger Sprüche vor der Fernsehkamera hinauswarf, kaufte diesen kontroversen Act im August des vergangenen Jahres ein. Doch bei den spektakulären Zeitungs-Headlines fiel das Wesentliche unter den Tisch: Tom Robinson kämpft mit seinen eingängigen Rocksongs nicht nur für das Ansehen der Homosexuellen, sondern für eine bessere Behandlung von Minderheiten oder Unterpriviligierten schlechthin. Seine Texte sind zeitkritisch. Die düstere Zukunftsvision „Winter Of ’79“ zeichnet ein grausiges Bild des Rechtsterrors, „Up Against The Wall“ schildert blanken Terror und Frustration, und die „Motorway“-Rückseite, Dylans „I Shall Be Released“ widmete die Band einem Mann namensG eorge Inch, der 15 Jahre wegen Raubüberfall bekam – nach einem zweifelhaften Verfahren, wie viele meinen.

Hilft ihm die Gruppe bei seinem Feldzug, oder sind die Musiker nur dabei, um zu spielen? „Der Rest der Gruppe ist viel jünger als ich. Mark ist gerade 17 geworden und der Delphin ist 19. Sie haben sich nie großartig für Politik interessiert. Aber: Es gibt in der englischen Sprache tatsächlich ein Wort dafür, wenn man Pakistanis verprügelt: ‚pakibashing‘. Genauso „queerbashing‘ – Homos verprügeln. Das ist Politik! Nicht Sozialdemokraten und all der andere Unfug. Darüber haben die Jungs bis jetzt eben nicht nachgedacht. Aber seitdem wir zusammenarbeiten, als ich anfing, diese Songs zu schreiben, begannen sie auch, sich dafür zu interessieren.“

England 1978: Den Juden geht es dreckig, den Frauen, den Pakistanis

„Frauen‘, erklärt Tom weiter, „werden noch immer so behandelt, daß man ihnen sagt, ihr Platz sei zuhause. Es gibt so viele miese Bezeichnungen für eine Frau, die mit 30 Jahren noch nicht verheiratet ist. Alte Jungfer und so weiter. Bei einem Mann ist das etwas anderes, der ist dann ein Kerl. 50 Prozent der Bevölkerung denken noch immer so. Den Juden geht es in unserem Lande noch immer schlecht, den Zigeunern geht es dreckig. Jamaikaner oder Pakistanis dürften niemals ins Dorchester Hotel, es sei denn, sie tragen wahnsinnig teure Anzüge. Und auch dann würden sich noch Leute über ‚die dreckigen Nigger‘ aufregen. Das ist England heute. Wir sprechen also nicht nur für die Homosexuellen, sondern auch für die unverheirateten Mütter, für das Recht der Frauen, selbst zu entscheiden, was sie mit ihrem Körper tun, ob sie einen Mann brauchen oder nicht, für Arbeiter, Juden, Farbige, Arbeitslose. Man muß all diesen Leuten klarmachen, daß es keinen Sinn hat, sich gegenseitig herunterzumachen. Oft genug ist aber gerade das der Fall. Farbige sagen, daß sie nichts mit Schwulen zu tun haben wollen und die sagen umgekehrt, daß sie nichts mit den Schwarzen zu tun haben wollen. Sie sollten zusammenhalten. Freunde sein.“

Im Frühjahr kommt der Robinson-Rock in die Bundesrepublik

Tom Robinson wird vermutlich im Frühjahr mit seiner Band in die Bundesrepublik kommen. Vorher muß er noch sein Live-Album fertigstellen. Sein gesunder Rock wird hierzulande bestimmt ankommen, wie die Texte verstanden werden, wird sich zeigen. Glaubt er, daß er seinen noch nicht veröffentlichten Song „Glad To Be Gay“ jemals in den Rundfunk bekommen wird? „Die einzigen, die es nicht spielen werden,“ grinst er, „sind die schwulen Produzenten.“