Tori Amos: Die Schamanin


Auf der Reise zu ihren indianischen Wurzeln findet Tori Amos nicht nur zu ihrer Kreativität zurück. Auf dem "Scarlet's Walk" entdeckt sie auch ein Amerika, das bereits seit vielen Jahren verwundet ist.

Seit Tagen schüttet es wie aus Eimern, doch Tori Arnos schlägt das nicht aufs Gemüt. Sie öffnet die Haustüre einen Spalt, lugt auf den Hof und rennt plötzlich los. Es sind nur ein paar Schritte durch den Kies, doch als sie durch das ehemalige Scheunentor in ihr Studio schlüpft, sind ihr beiges Kleid und die roten Locken nass. Mark Hawley, der 1997 das schlichte Haus an der verregneten Nordküste im englischen Cornwall ausgesucht hat, empfängt sie mit einem Lächeln. Er sitzt barfuß am Mischpult, um bei Tee und Kerzenlicht letzte Korrekturen an „Scarlets‘ Walk“, dem siebten Album seiner 39-jährigen Frau, vorzunehmen. Tori steht für einen Augenblick still und lauscht den warmen Piano-Läufen, den an- und abschwellenden Streichern und schließlich sich selbst: „How did it go so fast, you’ll say, as we are looking back. And then we understand, we held gold dust in our hands.“ Mit einer lange nicht mehr gehörten Zärtlichkeit erfüllt ihre klare Stimme das Studio. „Gold Dust“ wird das letzte Stück auf der CD sein. Es ist ein Song über das Ende einer Suche, über den Neuanfang des Lebens, über eine Geburt. Es ist das intimste Stück Musik seit der „Boys For Pele“-Zeit, es ist atemberaubend. Als Mark mit der Nüchternheit eines Toningenieurs den Zauber per Mouseclick bricht, um an Details zu basteln, winkt Tori und geht mit zwei Flaschen Mineralwasser voran in einen weitläufigen Aufnahmeraum. Nicht weit von ihrem Bösendorfer-Flügelunddem kürzlich erstandenen, Woodstock-erprobten Wurlitzer-Piano von Country Joe & The Fish legt sie die Beine auf

einem Sofa hoch, das „so ungemütlich ist, dass es niemandem sonst zugemutet werden kann“.

„Der Feind heißt im Augenblick nicht Bin Laden. Das wird nur so dargestellt“, hatte eine besorgte Tori Arnos am 26.Juli 2001 in London zu Protokoll gegeben. Ein Statement, das heute so kontrovers wäre wie es sechs Wochen vor dem 11. September überraschend war. Auch wenn die Künstlerin offenbar im Detail nicht Recht behalten hatte – ihre Unruhe schien zu einer Zeit befremdlich, als in der westlichen Welt das unschuldige Vertrauen in eine friedliche Zukunft noch weitgehend intakt war. „Das eigentliche Problem ist, dass die Amerikaner keine Verbindung zu der Erde spüren, die sie sich angeeignet haben – sie fühlen die Energie des Bodens nicht“, sagte sie kopfschüttelnd über ihre Landsleute. Das klingt, wie vieles, was die Frau in den zehn Jahren seit ihrem Debüt-Album „Little Earthquakes“ von sich gegeben hat, zunächst reichlich abwegig. Nimmt man sich jedoch die Zeit, ihre Positionen in einem längeren Gespräch zu überprüfen, dann zeigt sich stets aufs Neue: Frau Arnos ist gebildet und intelligent genug, um auch ungewöhnliche Thesen mit Argumenten zu untermauern. Ganz konkret führte sie vor einem Jahr als Beispiel soziale Entgleisungen wie die unerklärlichen Amokläufe an den Schulen an. Heute, auf der heimischen Couch, spinnt sie den Faden weiter und erinnert an den Finanzskandal am amerikanischen Anlagemarkt: „Die Anschläge sind eine Sache. Aber innerhalb des Systems läuft seit langem einiges schief. Manche Leute bezeichnen die Börse als ein Glücksspiel. Aber Augenblick mal! Es gab ein Einverständnis darüber, dass es einigermaßen ethisch zugeht. Dass hier nicht einfach im großen Stil das Gesetz gebrochen werden kann. „Sie überlegt für einen Augenblick und senkt dann ihre Stimme zu einem Flüstern: „Da ist kein großer Unterschied zu den Abkommen, die mit den Indianern geschlossen wurden. Das Land war nicht unbewohnt. Also gab es Verträge, und die wurden gebrochen. Wieder und wieder. Warum ist das heute relevant? Weil auch jetzt Verträge gebrochen werden. Damals wurde diese Saat gesät. Das ist mit unserer Kultur verwoben, es gehört zu unserem Erbe.“

„Scarlet’s Walk‘ ist eine Art Konzeptalbum. Subtiler und weniger konkret zwar als Springsteens „The Rising“, in seiner metaphern-reichen Behandlung amerikanischer Inhalte aber doch thematisch konsistenter als ade Vorgänger. Zudem ist „Scarlet’s Walk“ musikalisch erstaunlich zugänglich. Es ist die erste Tori-Amos-CD, die beim Zuhören intensiv ist und doch als Hintergrund-Beschallung nicht stört. „Ich bin Mutter, das ändert die Herangehensweise ein bisschen“, erklärt Tori. „Bei der Erziehung bist du viel effektiver, wenn du nicht laut und wütend wirst. Man kann leise und dabei doch emotional extrem präsent sein.

Zahlreiche Ideen schwirrten Ton bereits seit längerer Zeit durch den Kopf, doch war der 11. September für die Künstlerin Auslöser, sie zu Liedern zu verarbeiten. „Als ich auf Tour war, nachdem die Türme eingestürzt waren, kamen die Leute mit ihren Geschichten zu mir“, erzählt sie. „Viele fragten sich zum allerersten Mal, was Amerika eigentlich ist. Sie sahen das Land plötzlich nicht mehr als ein Objekt mit einer Flagge. Sie spürten die Seele des Bodens – was für die Iren zum Beispiel selbstverständlich ist.“

Spiritualität, oder zumindest die suche danach, wäre ein Weg zur Gesundung der amerikanischen Gesellschaft, meint Arnos, die selbst das Trauma einer Vergewaltigung zu verarbeiten hatte. „Jeder muss aber seinen eigenen Weg gehen“, mahnt sie. „Ich habe Orte besucht, an denen im Laufe der Geschichte viele Frauen missbraucht, vergewaltigt und umgebracht wurden. Und da triffst du Menschen, die das überlebt haben und du lernst, wie sie das geschafft haben. Das hat mich inspiriert, ein Stück ihres Weges zu gehen“ In diesem Sinne sollte sich Amerika auf die Reise zu seinen eigenen Orten begeben, die Kultur, Geschichte und Spiritualität haben. Eine Reise, wie die des fiktiven Charakters „Scarlet“ der, wie Tori immer wieder betont, auch als Synonym für die USA verstanden werden kann.

Abgesehen davon, dass „Scarlet’s Walk“ ein wunderschönes und ausnehmend eigenständiges Album ist, sollen die Songs denen Inspiration geben, die seit der Terrorkatastrophe in Amerika nach einem tieferen Sinn suchen – persönlich oder gesamtgesellschaftlich. Hier ähnelt der Ansatz dem von Springsteens „The Rising“, mit dem Unterschied, dass sich in Toris Kopf einige der Antworten formulierten, bevor sich für die Allgemeinheit die Frage überhaupt stellte. „I Can’t See New York“ beispielsweise schrieb die Künstlerin Monate vor dem 11. September. Darin finden sich Zeilen wie „Im circling down, but I can’t see New York“. „Ich hob den Text selbst nie verstanden“, wundert sich Tori, „bis die Anschläge passierten, ‚Is there a signal on the otherside‘, heißt es da. ‚What other side?‘, fragt sie dann, denn sie hat nichts gespürt. Da ist noch Bewusstsein da, sie fängt hie und da noch etwas auf. aber sie ist tot. ‚What signal?‘, wundert sie sich, und dann wird ihr langsam klar – she ’s gone.“ Ohne Erklärungen wie diese sind die jeweiligen Anliegen der Künstlerin – die sie selbst in Interviews durchaus dringlich vermitteln will – aus den kryptischen Texten der Songs selten herauszulesen. Vielleicht verdanken wir auch Toris britischem Mann, dass ihre Musik nach den kühleren Alben wie „To The Choirgirl Hotel“ und „To Venus And Back“ nun trotz aller inhaltlicher Rätsetraterei wieder tief berührt. „Mit Mark ist das so“, sagt sie und lächelt liebevoll. „Er schaut mich an und sagt: ‚Ich mag den Song, der ist sexy! Total verrückt. Der Typ in dem Auto!‘ Und ich sage: ‚Ein Auto? Na ja, vielleicht ein Auto…‘, und er sagt: ‚Scheißegal – der fährt was. Und ich will da mit. Eine rauchen mit dem Typen!‘ Und ich denke mir: ‚Okay, offenbar funktioniert der Song auch auf dieser Ebene. „Sie lacht unbeschwert, während im Hof die Nanny mit Toris Tochter Natashya Lorien von einem Ausflug zurückkehrt. Wir gehen zurück zum Haus, um Hallo zu sagen. „Tash“ ist ein Jahr und zehn Monate alt und hat ohne Frage den IQ ihrer Mutter geerbt. Sie spricht wie ein Wasserfall. Sie will von Schneewittchen und der „nasty lady with the nice dress“ erzählen. Das duldet keinen Aufschub. Tori erklärt ihrer Tochter, dass sie noch just ihren Gast verabschieden möchte. Der Kommentar ist kühl: „Well go on then“-„dann mach mal hinne“-, sagt die Kleine und wackelt zu allgemeinem Gelächter ins Wohnzimmer.

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