Tracy Bonham tauscht die Violine mit der Gitarre und besingt ihre Feigheit


Eugene, Oregon, 1977: Mutter Bonham drückt ihrer gerade 9jährigen Tochter Tracy eine Violine in die Hand und fordert das Kind auf: „Nun spiel!“ Und Tracy spielt. Seitdem eigentlich ununterbrochen. Tracy bekommt als Teenie Stipendien für die University Of Southern California und das renommierte Berklee College Of Music in Boston, wo sie sich intensiv mit Klassik beschäftigt. Dann der folgenschwere Bruch in der noch jungen Biographie: Kurz vor dem Examen schmeißt die lebenshungrige Tracy alles hin und taucht ab in die Künstler- und Musikerszene Bostons. Sehr zum Mißfallen ihrer Mutter, versteht sich. Heute lacht Tracy über das abrupte Ende ihres Studiums: „Ich hatte all diese Songs im Kopf und wußte genau, daß ich sie nicht mit klassischer Violine umsetzen konnte. Ich wollte leben.“ Ab sofort ist die Gitarre angesagt – und Geldverdienen: In Werbejingles preist sie die Vorzüge von Toyotas und Waschmitteln. „Viel Geld für wenig Arbeit – so konnte ich den Rest des Tages mit Songschreiben und Gitarrespielen verbringen. Obwohl ich manchmal verdammt klamm war.“ Langsam aber sicher reift ihr Talent. Schon nach der ersten EP ‚The Liverpool Sessions‘ (1995) überbieten sich die Major-Labels gegenseitig. Und jetzt steigt Tracy Bonham mit ihrem ersten Album ‚The Burdens Of Being Upright‘ in den Fahrstuhl nach ganz oben.

So weit, so gut. Eine schnörkellose Erfolgsstory – wäre da nicht das traumatische Verhältnis zu ihrer dominanten Mutter, das sich im Schlüsselsong ihres Albums ‚Mother, Mother‘ dokumentiert. „Viele Journalisten fragen mich nach diesem Song und wollen wissen, ob ich meine Mutter hasse oder mich ihr unterlegen fühle, weil ich sie enttäuscht habe. Aber das stimmt nur teilweise. In Wirklichkeit geht es um meine eigene Feigheit, ihr am Telefon zu sagen, wie schlecht es mir geht. Also habe ich ihr immer vorgegaukelt, alles wäre in Ordnung, während ich vor Kälte zitterte und nicht wußte, wo ich das Geld für die nächste Mahlzeit hernehmen sollte.“

Inzwischen schenkt Tracy ihrer Mutter reinen Wein ein, und das Kriegsbeil ist begraben, Tracy versteht ihre Mutter heute besser: „Manchmal denke ich reumütig an mein Studium zurück und frage mich, ob sie nicht recht hatte. Vielleicht hätte ich den Abschluß tatsächlich noch machen sollen. Aber wenn ich mir mein Leben heute so anschaue —- ich glaube, ich habe alles richtig gemacht.“ Und die Violine gibt es schließlich auch , noch: In ihren selten gewordenen Momenten der Ruhe greift sich Tracy das gute Stück und spielt allein zu Hause ihre Lieblings-Klassiker.