Kommentar

Warum es wirklich gute Serien trotzdem manchmal schwer haben


Die Zeit der handverlesenen Serien-Starts ist längst vorbei und man müsste sich eigentlich eine Woche freinehmen, um die Perlen zu finden. Dafür gibt es immer mehr Empfehlungen vom Gleichen, aber dann auch nicht plattformübergreifend. Wer kennt's?

Zur aktuellen Top 10 der Small-Talk-Floskeln gehört mit Sicherheit die „Kennst du die Serie schon?“-Frage. Oder ganz ähnlich „Hast du schon die zweite Staffel gesehen?“ und „Du musst unbedingt noch das schauen“. Ladidadi. Bei dem Überangebot an Guckbarem ist die Chance einer Schnittstelle mit einer x-beliebigen Person echt gering. Wo also anfangen? Und wo finde ich denn nun das nächste gute Ding? Da gerade Netflix sinnbefreit ein Original nach dem nächsten von sich bewirbt, ist es schwer, die echten Perlen zu entdecken. Tolle, hochwertig produzierte Formate gehen schnell mal in der Masse von Erscheinungen und Empfehlungen unter.

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Kürzlich bekam ich von drei Leuten in unterschiedlichen Kontexten Serien ans Herz gelegt, die mir bisher völlig unbekannt waren. Einmal die japanische Crime-Serie „Giri/Haji“, die erst neulich bei Netflix unter dem eingedeutschten Titel „Pflicht und Schande“ angelaufen ist. Dann „In Treatment“, eine Drama-Serie mit Gabriel Byrne, die von 2008 bis 2010 bei Amazon lief und mittlerweile bei Prime Video extra ausgeliehen werden muss. Zu guter Letzt gab es noch den Hinweis, dass „Blunt Talk“ (2015-16, jetzt bei Sky verfügbar) eine superwitzige Serie über Patrick Stewart als News-Host wäre. Wie kann es denn nun sein, dass ich von all diesen Serien nie gehört habe, obwohl ich mich tagtäglich mit allen Streamingangeboten beschäftige – egal, ob neu oder alt?

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Das Problem mit den vielen Plattformen

Während Menschen, die sich alles Mögliche an Musik reinziehen wollen, Spotify nutzen können, haben Serien- und Filminteressierte Netflix, Amazon Prime Video, Sky, Apple TV+, die Mediatheken der öffentlich-rechtlichen Sender, demnächst Disney+ und was einem sonst noch einfällt. Es gibt also nicht die eine Anlaufstelle für alles. Es gibt viele. Und sie alle sind anders aufgebaut, bewerben oft genug vor allem ihre Eigenproduktionen und lassen insbesondere ältere Formate im Verborgenen vor sich hin schmoren. Ich muss also nicht allein in dem Wust von Releases nach den Schätzen suchen, ich muss das auch noch serviceübergreifend tun. Dabei wäre ein Spotify für die Filmbranche einfach nur hilfreich. Eine Riesenplattform, bei der nach Genre sortiert, jedes denkbare Format zu finden ist. Auch gerne nach Schauspieler*in sortiert, nach Dekade und wer gerne Shufflen möchte, kriegt halt seine wöchentliche Playlist für Serien und Filme. Supernice!

Doch der Kommerz geht vor. Die Originals verschlingen genügend Geld, sodass nicht noch mehr Rechte an Klassikern geshoppt werden können. Das Angebot in diese Richtung sinkt weiter – so auch bei anderen Anbietern. Eine ähnliche Entwicklung wie in der Musikindustrie ist nicht in Sicht, dafür sind TV- und Filmunternehmen einfach zu groß, größer sogar als die gesamte Musikbranche. Die Kosten, mit denen sich in der Filmbranche regelmäßig beschäftigt wird, sind entsprechend höher. Für gut produzierte TV-Dramen müsste man laut „Variety“ zwischen fünf und sieben Millionen US-Dollar pro Stunde aufbringen, während Sitcoms mit einer Kamera rund 1,5 Millionen US-Dollar kosten würden. Um die Qualität hoch zu halten und weitere Eigenproduktionen machen zu können, gehen Unternehmen den Weg eines eigenen Streamingdienstes. Ein einziger Dienst für wenig Geld ist also wirklich weit und breit nicht in Sicht.

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Das Problem mit der Kuration

Gerade Netflix haut immer mehr, mehr, mehr raus. Im Frühjahr hat der Streamingdienst zum Beispiel mit einem Mal gleich 21 Filme vom Studio Ghibli neu parat. Quantität ist hier das Stichwort. Wer weiß denn da, wo man anfangen soll? Eine Kuration muss her! Und damit meine ich nicht das, was einem der Algorithmus anpreist. Die Vorschläge sind speziell bei Netflix themenbasiert und man bleibt eben oft bei den eigenen Formaten hängen. Mehr genreübergreifende Empfehlungen wären doch mal angebracht, sodass es jeder hin und wieder aus seiner Guck-Blase herausschafft.

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Im August 2019 hieß es, Netflix würde nun „Collections“ testen. Neben Kategorien, wie Action, Sci-Fi und Romanze, würde es da Nischenthemen geben, die kein Algorithmus, dafür aber echte Menschen zusammenstellen sollten. Was nach der Testphase für manche iOS-User mit der Idee passiert, ist unklar. Wünschenswert wäre eine Weiterführung, auch für andere Dienste, in jedem Fall.

Das Problem mit dem Hype

Dann ist da noch die Gewissensfrage: Ist eine bestehende Fanbase des geplanten Produkts für Streamingplattformen wichtiger als am Ende eine qualitativ hochwertige Serie auf den Markt zu bringen? Für Netflix war beispielsweise klar, dass „The Witcher“ erfolgreich sein würde. Völlig egal, wie die Show umgesetzt werden würde. Und tatsächlich: Die Fantasy-Serie startete im Dezember 2019, Netflix erschlug seine Kunden mit Eigenwerbung zur ersten Staffel und präsentierte kurz darauf genau diese Neuerscheinung schon in seiner Jahresliste der meistgestreamten Inhalte auf Platz 6. Durchwachsene Kritiken konnten die Massen nicht vom Anklicken abhalten. Komplett ungewöhnlich ist das aber nicht, schließlich ist die Story vom Hexer Geralt von Riva bereits durch Videospiele und Bücher bekannt. Genügend Menschen haben sich also längst stundenlang damit beschäftigt, sich selbst eingebracht und eine Bindung aufgebaut. Als der Streamingriese die Info droppte, eine Serie dazu herauszubringen, war ihnen bewusst, dass sie geguckt werden würde – ob nun geil oder semigeil umgesetzt. Denn als überzeugter Fan zieht man sich nun mal alles rein. Dennoch war die Veröffentlichung genauestens getimt, da sie nicht der „Game of Thrones“-Lückenfüller sein sollte, sondern „das nächste große Ding“ danach. Und es hat funktioniert.

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Netflix brachte 2019 mehr Originals heraus, als die gesamte TV-Branche 2005. Schon allein bei den 371 Serien kann sicherlich von Diversität gesprochen werden. Man hätte also nicht nur „The Witcher“ schauen müssen. Dennoch ist genau diese Chose das, was prominent gefeatured wird. Ein Hype wird drum herum erzeugt. Bahnhöfe werden mit Charakter-Postern zugepflastert. Die Sicht auf andere Serien bleibt versperrt. Und vielleicht kommt es auch deshalb so, dass ich einen neuen Release wie „Giri/Haji“ nicht mitbekomme. Alles andere ist zu laut. Manche Serien können im Fahrwasser von „The Witcher“ schwimmen, andere nicht mehr. Womöglich erfolgt der Hype ja noch, so wie bei der 1999er-Serie „Freaks and Geeks“ von Paul Feig oder auch bei der deutschen Krimi-Serie „Im Angesicht des Verbrechens“ aus dem Jahr 2010 mit Max Riemelt und Ronald Zehrfeld, für die erst Jahre später und mit einem passenderen Sendeplatz (nämlich raus aus dem linearen Fernsehen und rauf auf Netflix) Fans gefunden werden konnten. Bei ihrer Erstveröffentlichung kriegten viel zu wenig Zuschauer davon Wind.

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Was tun mit den ganzen Problemen?

Streaminganbieter bleiben Firmen, die Geld verdienen und Risiken minimieren wollen. Sie sind kein Zusammenschluss von Künstler*innen, so weit so logisch. Sie werden also weiterhin das in den Vordergrund stellen, was bereits gut bei der Community funktioniert hat. Schließlich ist in den USA die Abo-Zahl der Netflix-Nutzer fast stagniert, also müssen neue Superlative gefunden und die Massen bedient werden. Die Popularität ihrer erfolgreichen Formate sollte ebenfalls so lange wie möglich aufrecht erhalten werden. Wie schaffe ich es also, eine neue Serie bei dem ganzen Buzz zu entdecken? Also ganz ohne Mundpropaganda?

Wahrscheinlich muss ich mir eine Woche freinehmen zum Suchen der Besonderheiten und mich geduldig durch alle Mediatheken nacheinander wühlen. Einen guten Anfang erlaubt mir da schon mal Apple TV+. Denn wenn ich diesen Dienst nutze, habe ich eine Übersicht über alle Serien und Formate, die ich gerade angefangen habe und die von der App unterstützt werden. In der ZDF-Mediathek ist noch eine Doku offen? Kann ich dort anklicken und weiterschauen. Bei Amazon Prime Video will ich die nächste Folge „Star Trek: Picard“ gucken – das ist von dort aus auch eine Option. Dennoch hat diese Plattform, wie alle anderen ebenfalls, ihre eigenen Inhalte als allerwichtigste Prio. Und so stehen diese genauso im Vordergrund wie bei den anderen Streamingdiensten. Doch zumindest ist das der Ansatz, den es braucht, um einen Rundumblick zu haben bei der Masse an Konsumierbarem.

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