Kommentar

Warum Twitch der Todesstoß für Deutschrap ist


Eine Fler-Hotline zum Abzocker-Preis und peinliche Twitch-Streams. Es scheint, als wäre Deutschrap an einem kreativen Tiefpunkt angekommen. Wieso eigentlich?

Es mag heute kaum noch vorstellbar sein, aber vor ziemlich genau zehn Jahren, im März 2013, da war das dominierende Thema im deutschen Rap-Kosmos ein neues Album, das kurz vor seiner Veröffentlichung stand. Ja, wirklich. Ein neues Album. Mit Musik. 16 Tracks, 52 Minuten Spielzeit. Das Album hieß BLAUES BLUT, es war das mittlerweile neunte Soloalbum von Fler, das in seinem Gesamtwerk einen radikalen Stilbruch markierte.

Fler, der bereits den Berliner Gangsta-Rap an vielen entscheidenden Stellen mitgeprägt hatte, schickte sich mit dem Produzenten-Trio, den Hijackers, an, erstmals einen breitflächigen Trap-Sound auf eine deutsche Mainstream-Produktion zu bringen. Die Fangemeinde reagierte im besten Fall empört, machte sich zumeist aber bloß über die lyrische Reduktion und im deutschen Sprachraum ungewohnte Rhythmik lustig, die es in dieser Form noch nicht ernsthaft auf einem Album gab. Bislang war da nur Moneyboy. Und den nahm niemand so wirklich ernst. BLAUES BLUT erschien dann vier Jahre bevor Trap tatsächlich seinen breiten Siegeszug im deutschen Sprachraum antrat – und alle so rappten, wie Fler schon 2013.

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Heute, zehn Jahre später, im März 2023, da dominiert Fler erneut die Schlagzeilen. Aber statt über sein neues Album, „Trendsetter 2“, dass er kürzlich kurzerhand einfach selbst cancelte, wird bloß über das neue Fler-Phone gesprochen. Ja, genau. Das neue Fler-Phone. Das Fler-Phone ist eigentlich gar kein Fler-Phone, das Fler-Phone ist eine Fler-Hotline, eine 0900er-Nummer, die man wählen kann, um dann mit Fler zu telefonieren. Wer mit Fler telefonieren will, der muss dafür 2,99 Euro in der die Minute bezahlen.

Der Rapper, der sich öffentlich bereits ein fünfstelliges monatliches Zusatzeinkommen ausrechnet, nennt das Fanservice. Klar, man könnte das möglicherweise auch Abzocke nennen, aber zum einen, da gab es schon einmal einen gescheiterten Versuch ein Fler-Phone einzuführen und da kostete das Ganze sogar noch ein bisschen mehr und zum anderen, nun, da würde der Terminus ein wenig den kulturellen Mehrwert überschatten, der sich schon jetzt in Form zahlreicher im Netz kursierender Videoschnipsel offenbart, in denen irgendwelche Menschen den Rapper anrufen, um ihn zu beleidigen, nur um von ihm zurückbeleidigt zu werden. Der letzte verbliebene kreative Kraftort der Deutschrapszene, Twitter, wird von diesem Material noch lange zehren können. Fler sei Dank.

Das Fler-Phone als Sinnbild einer neuen Entwicklung

Es ist natürlich sehr einfach, sich über das Fler-Phone lustig zu machen, aber eigentlich ist das Fler-Phone nur das Sinnbild einer neuen Entwicklung, deren Ursprünge und Auswirkungen sehr viel tiefgreifender und bedeutungsvoller für die deutsche Musikszene sind, als es auf den ersten Blick den Anschein haben mag. Im Deutschrap jedenfalls ist die Musik nicht mehr das dominierende Thema. Die Zeiten, in denen man über einen bestimmten Sound, geschweige denn ein kontroverses Album gestritten hat – sie sind längst vorbei. Wir erleben den vorläufigen Endpunkt einer Entwicklung, die ebenfalls vor genau zehn Jahren ihren Ausgang nahm. Denn das zweite große Thema, mit dem sich Deutschrap im einbrechenden Jahr 2013 befasste, war das groß angekündigte Kollaborationsalbum von Kollegah und Farid Bang, das den Titel JUNG, BRUTAL, GUTAUSSEHEND 2 trug. Während BLAUES BLUT hinter allen kommerziellen Erwartungen zurückblieb, setzte „JBG2“ neue Maßstäbe. Das Album brach nicht nur sämtliche Verkaufsrekorde und spülte eine neue Generation von Rappern in den Mainstream. Viel wichtiger: Es legte auch den Grundstein, die Blaupause, für alle künftigen Marketingmaßnahmen, die Deutschrap fortan prägen sollten.

Durchchoreografierte Promo-Strategien im Deutschrap

Elvir Omerbegovic, Kopf von Selfmade Records, dem Label hinter dem Album, hatte für JBG2 die komplette Promotionsphase bis ins kleinste Detail durchchoreografiert. Im Wochentakt veröffentlichten die Künstler nicht bloß Musikvideos, sondern auch YouTube-Blogs, mit denen sie das eigentliche Produkt, das sie verkaufen wollten, die CD, um eine Show, um ein Entertainment-Paket erweiterten. Die Strategie dahinter war durchdacht. „JBG2“ war nicht bloß ein Album. Es war ein Happening. Und je mehr sich die Fans nicht bloß mit der Musik alleine, sondern auch mit den dahinter stehenden Künstlern und der Show, die sie boten, identifizieren konnten, desto höher waren die Vorbestellzahlen für die Premiumboxen, die man an den Mann bringen wollte. „JBG2“ war der eigentliche Beginn einer Vermarktungsstrategie, die den Verkauf von Deluxe-Boxen in den Fokus des Interesses rückte. Nicht ohne Grund.

Deutschrap war schon seit den 00er-Jahren besonders kreativ, wenn es darum ging, sich in seinem kapitalistischen Marktumfeld behaupten zu können. Und das Marktumfeld in dem sich Deutschrap bewegte, wies eine internationale Besonderheit auf, die man sich zu Nutze machen konnte. In Deutschland war das Wertungssystem für die Charts umsatzgetrieben. Das bedeutet, dass nicht die Anzahl der verkauften CDs die Positionierung in den Hitparaden bestimmte, sondern der Umsatz, den die Produkte generierten. Also brachte man statt einer Standard-CD im Wert von 17 Euro einfach eine Deluxe-Box im Wert von 50 Euro auf den Markt, gab ein paar Poster, Sticker und sonstige Gimmicks hinzu und verlegte die gesamte Promophase für das Album in den Zeitraum vor dem eigentlichen Release. Je mehr Premiumboxen im Vorfeld verkauft wurden, desto höher der Charteinstieg in der ersten Verkaufswoche und je höher der Charteinstieg, desto größer der darauffolgende mediale Hype.

Der Künstler verkauft sich, nicht seine Kunst

Von diesem Zeitpunkt an, war es nicht mehr die Kunst, es war der Künstler, der sich verkaufte. Je höher das Identifikationspotential von Fan zu Rapper, desto höher die Bereitschaft, ein oftmals überteuertes Produkt vorzubestellen, um einen möglichst hohen Charteinstieg zu ermöglichen. Je mehr die Künstler in Interviews, YouTube-Blogs und Social-Media-Storys über sich preisgaben, desto höher die Wahrscheinlichkeit, sich die Loyalität der Zielgruppe zu sichern. Höhepunkt dieser Entwicklung war das Album CCN3 von Bushido.

Bushido, damals auf einem zweiten Höhepunkt seines kommerziellen Erfolgs, schaffte es, seine Fans so stark zu mobilisieren, dass sie die Premiumboxen tausendfach vorbestellten – ohne dass diese zu diesem Zeitpunkt auch nur ein einzigen Song aus dem Album gehört hatten, das sie sich da gerade vorbestellten. Bushido verzichtete komplett auf Videoauskopplungen. Das Album stieg dennoch auf Platz 1 ein – und erreichte Goldstatus. Deluxe-Box sei Dank.

Die Deluxe-Box wurde zum YPS-Heft einer Generation

Im einbrechenden neuen Jahrzehnt haben sich die Regeln für dieses Spiel verändert. Zum einen, weil die multimediale Dauerwerbesendung für den Vorverkauf von Deluxe-Boxen an einen kreativen Endpunkt gelangt ist. Zu den kuriosesten Inhalten, mit denen man die Fans zum Kauf animieren wollte, gehörten zu diesem Zeitpunkt etwa eine Kapsel mit Blut, ein Koksröhrchen, Fake-Urin, Gewinnspiele oder auch ein Schwamm. Die Deluxe-Box wurde zum YPS-Heft einer Generation, aber irgendwann war die Geschichte auserzählt. Zudem hatte sich mittlerweile die Chartwertung, durch die eine stärkere Berücksichtigung von Streamingzahlen verändert, so dass heutzutage die Spotify-Streams die härteste Währung in der Branche sind. Streams in großen Mengen lassen sich allerdings nicht mehr über ausgeklügelte Promophasen, sondern viel leichter über prominente Playlist-Platzierungen generieren. Und da der Playlisten-Sound generisch ist, sind die erfolgreichsten Künstler der Gegenwart ausgerechnet die Rapper, die am wenigsten kreativ mit ihrem Sound umgehen.

Eine neue Ära der Playlist-Rapper

Die neue Ära der Playlist-Künstler sorgt für einen weiteren grundlegenden Umbruch in der Szene. Weil die Streamingzahlen vieler Rapper einbrechen und auch die Verkäufe über Boxen nicht mehr funktionieren, suchen sie sich neue Geschäftsfelder. HipHop im Allgemeinen ist zwar noch immer die global dominierende Jugendkultur und Deutschrap im Speziellen der vorherrschende Sound auf den Schulhöfen, doch die Musik ist mittlerweile so weit im Mainstream verankert, dass ihr die subkulturelle Schlagkraft abhanden gekommen ist. Innovationen gibt es schon länger nicht mehr. Die allgemeinen Verkaufszahlen gehen deutlich zurück. Einen wirklichen Hype konnte schon lange kein Künstler mehr für sich generieren. Also versuchen Künstler, dass in den vergangenen Jahren erlernte Selbstvermarktungsmodell auf neue Medien zu übertragen.

Twitch ist da der nächste logische Schritt, denn Twitch bietet die Möglichkeit einen noch näheren, noch ungefilterten und unzensierteren Zugang zu den Künstlern zu bekommen. Und: Twitch selbst ist eine lukrative Einnahmequelle. So wird Deutschrap immer mehr zu einer Daily-Soap, in der es nur noch um die Figuren, ihre Konflikte und Streitigkeiten geht, die im Livestream ausgetragen werden, aber nicht mehr um die Musik, das Produkt, das in der Verwertungskette seinen Wert verloren hat. Besonders unter dem Aspekt, wie sehr sich die Szene viele Jahre mit brutaler Vehemenz gegen rappende YouTuber gewährt hat, ist es dann doch erstaunlich, wie schnell man sich dafür geöffnet hat, dass Rapper nun zu Livestreamern werden.

Daily Soap Deutschrap

Der Künstler entkoppelt sich auf Twitch nun komplett von der Kunst. Er wird im besten aller Fälle zum Entertainer, in den meisten Fällen hingegen bloß zum Clown, der für ein paar Abos und Views seine Würde vor der Webcam ablegt. Ein Manuellsen etwa, der rein künstlerisch zu den talentiertesten Sängern und Rappern der Szene gehört, hat sich innerhalb kürzester Zeit so radikal demontiert, dass sich seine eigentlich stolze Legacy in der Nachbetrachtung auf ein Twitter-Meme reduziert, dass er heute geworden ist. In der Geschichte der Popkultur ist in der Vergangenheit glücklicherweise oftmals der sanfte Schleier der Vergessenheit über die Unzulänglichkeiten der Künstler gelegt worden, der es dem Kunstwerk erst erlaubte zu strahlen. Twitch zerstört diesen Schleier und legt schonungslos offen, wie wenig der Künstler noch mit seinem Kunstwerk in Einklang zu bringen ist.

Auch ein Fler ist heute auf Twitch zu finden. Früher lieferte er mit Bushido die Blaupause für den modernen Gangstarap, dann brachte er Trap nach Deutschland und öffnete sich mit VIBE im Jahr 2016 endgültig allen neueren, hochmodernen Spielarten des US-Rap. Heute sitzt er vor einer Webcam und beantwortet Zuschauer-Fragen. Zunächst auf einem kostenfreien Discord-Channel, jetzt über das Fler-Phone. 2,99 Euro die Minute. Die Zeiten, in denen sich Deutschrap noch über Deutschrap definiert hat, sie sind spätestens hier zu einem Ende gekommen.